Erste Szene

[19] Klara sitzt in blau und weiß gestreifter Sträflingskleidung, bestehend aus Rock und Jacke, am Tisch und liest im Neuen Testament. Plötzlich hört man draußen das Rasseln eines Schlüsselbundes. Sie erhebt sich und bleibt regungslos stehen. Ein Schlüssel wird von außen ins Türschloß gesteckt und umgedreht, zwei schwere Riegel werden zurückgeschoben. Darauf öffnet sich die Tür, und die Aufseherin in schlichter, grauer Kleidung, einen Packen Zeitungen unter dem Arm, tritt ein.


DIE AUFSEHERIN. So! Da ist die »Allgemeine Deutsche Musikzeitung«! Der Herr Direktor hat mir mein Fett gegeben! Unsereins hat alles auszufressen! Das ist ein Leben mit euch Weibsbildern, ich danke schön! Eben kommt er ins Magazin, der Herr Direktors »Na, was fahren diese Zeitungen im Gefängnismagazin herum?! Ist unser Gefängnismagazin eine Trödelbude?!« – »Herr Direktor, das ist die ›Allgemeine Deutsche Musikzeitung‹, die das Fräulein von Siebzehn allwöchentlich zugeschickt bekommt.« – »Dann sagen Sie ihr, sie solle die Zeitungen ganz genau eine nach der andern dem Datum nach ordnen, und sie solle sie ganz genau eine auf die andere legen, so daß sich nirgends ein Eselsohr in dem Packen findet, und daß nirgends eine Ecke von einem Blatt aus dem Packen heraussteht!« Da haben Sie nun wenigstens was zu tun! Sie sollen die Zeitungen ganz genau eine nach der andern dem Datum nach ordnen, und Sie sollen sie ganz genau eine auf die andere legen, so daß sich nirgends ein Eselsohr in dem Packen findet, und daß nirgends eine Ecke von einem Blatt aus dem Packen heraussteht. Haben Sie soviel Verstand, um das zu begreifen?

KLARA. Ja, ich habe es verstanden.

DIE AUFSEHERIN. Also vorwärts, flink an die Arbeit! Bis Sie das Essen fassen, müssen Sie fertig sein! Dann kann ich den verdammten Packen wieder ins Magazin zurückbringen. [19] Sie nimmt den Kamm vom Regal und betrachtet ihn genau. Es ist nicht zu glauben, was das für Ferkel sind! Wozu gebe ich Ihnen denn den Zwirnsfaden? Sagen Sie mir nur, wozu gebe ich Ihnen jeden Sonnabendnachmittag einen Zwirnsfaden?!

KLARA. Ich habe den Kamm, so gut ich konnte, gereinigt. Aber Sie haben mir noch nie gesagt, wozu der Zwirnsfaden da ist, den Sie am Sonnabendnachmittag hereinreichen.

DIE AUFSEHERIN. Ihnen muß man alles hundertmal sagen!

KLARA. Das lügen Sie! Sie haben es bis jetzt in den vier Monaten, die ich hier bin, absichtlich unterlassen, mir zu sagen, wozu der Zwirnsfaden da ist, den Sie mir am Sonnabend hereinreichen, damit Ihnen ja noch ein Vorwand übrig bleibt, um mich wie einen Dienstboten anzuschnauzen!

DIE AUFSEHERIN. So eine Frechheit! Na, Sie sehen vor Pfingsten übers Jahr keinen grünen Baum wieder! Das kann ich Ihnen sagen! – Den Zwirnsfaden bekommen Sie, um Ihren Kamm damit zu reinigen! Wo haben Sie ihn denn?!

KLARA. Meinen Kamm? Sie halten ihn ja in der Hand!

DIE AUFSEHERIN. Nicht Ihren Kamm, zum Donnerwetter! Ihren Zwirnsfaden!

KLARA. Ach so, meinen Zwirnsfaden. Sie nimmt den Zwirnsfaden vom Regal. Hier ist der Zwirnsfaden.

DIE AUFSEHERIN. Geben Sie her! Natürlich voll Schmutz! Ferkel! Das eine Ende nimmt man in den Mund, zwischen die Vorderzähne. So! Sie tut es. Das andere Ende hält man mit der linken Hand fest. So, sehen Sie! Merken Sie sich das jetzt! Ich habe keine Lust, Ihnen das noch hundertmal vorzumachen! Dann faßt man den Kamm mit der rechten Hand und fährt an dem Zwirnsfaden gleichmäßig auf und nieder. Sie tut es. So, sehen Sie! Und so reinigt man – sorgfältig – der Reihe nach einen Zahn um den andern. Einen um den andern! Mit dem Kamm auf und nieder fahrend. Eins, zwei! Eins, zwei! – Werden Sie das jetzt endlich begriffen haben? – Eins, zwei! – Sie?!

KLARA. Ja, jetzt wo Sie es mir gezeigt haben, weiß ich es. – Angstvoll. Aber der Arzt ist heute wieder nicht[20] gekommen! Vorgestern versprach er als sicher, daß er heute kommen und mir etwas verschreiben werde!

DIE AUFSEHERIN. Der Gefängnisarzt? Das glaube ich Ihnen. – Nehmen Sie sich gefälligst ein Beispiel an unseren Mannsbildern da drüben! Wenn die sechs Wochen bei uns in Kost sind, dann haben sie ganz und gar vergessen, daß es überhaupt noch Weiber auf dieser Welt gibt. Fünfzehn Jahre bleiben sie dann hier, ohne daß ihnen auch nur im Traum einmal ein Weib vorkommt! Aber Ihr Weibsleute! Euch kann man im Dunkeln an die Kette legen, Ihr denkt Tag und Nacht nur an den Mann! Heute ist es der Gefängnisarzt und morgen ist es der Gefängnisgeistliche! Ihr denkt nur an den Mann, der Euch für all Eure Schande und all Euer Elend trösten soll!

KLARA unter Krämpfen. Ich werde wahnsinnig! Ich bin dem Selbstmord nahe! Ich habe gestöhnt und gestöhnt die ganze Nacht hindurch! Mein Herz hält das nicht mehr aus! Ich muß ein Schlafmittel haben! Ein Schlafmittel! Sagen Sie das dem Gefängnisarzt! Er muß mir etwas beruhigendes geben!

DIE AUFSEHERIN. Ein heißes Fußbad! Ja, das können Sie haben! – Das hilft gegen Ihre Herzbeklemmungen. Ich bringe das heiße Fußbad herein, wenn Sie das Essen gefaßt haben. Bis ich Ihr Bett losschließe, stecken Sie Ihre Füße hinein, auch wenn's etwas weh tut. Soviel hält man aus, wenn man schlafen will! Den Gefängnisarzt, den haben Sie hier zum Schlafen nicht nötig!


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 19-21.
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