Vierte Szene

[55] Frau Oberst Hühnerwadel. Franz Lindekuh. Die Vorigen.


FRAU OBERST eine hochgewachsene Dame von sechzig Jahren, öffnet die Tür und sagt. Und in dieser jämmerlichen Dachkammer!

KLARA die inzwischen mit blöden Augen vor sich hingestarrt hat, mit einem Aufschrei emporfahrend. Da ist meine Mutter!

FRAU OBERST ist rasch auf sie zugeeilt und schließt sie in die Arme. Mein Kind! Mein inniggeliebtes Kind! So habe ich dich endlich wieder!

KLARA gleitet wimmernd an ihr herab, bis sie mit dem Gesicht den Boden berührt. Mutter! Meine Mutter! Bin ich denn noch wert, deine Füße zu umklammern!

FRAU OBERST richtet sie zärtlich auf. Ermanne dich, mein Kind. Wirf dich vor Gott in die Kniee! Ich bin deinesgleichen, dein Fleisch und Blut, ich bin doch deine Mutter! Ich weiß ja alles, was du mir zu sagen hast; weiß alles, was du gelitten hast! Nimm dein Kind in den Arm und komm! Du und dein Kind, ihr sollt die glücklichsten Tage in deinem väterlichen Hause erleben!

KLARA aufschreiend. Mutter, mein Kind ist tot! Zum Bettchen eilend. Hier liegt mein Kind! Es ist kalt! Es hat keine Spur von Wärme mehr in sich! Mutter, was ich um dieses Kind gelitten habe, das hast du um mich nicht[55] gelitten, als du mich gebarst! Und jetzt ist es hin! Alles hin! Alles, alles hin!

FRAU OBERST zum Bettchen gehend und sich in maßlosem Erstaunen zu Lindekuh zurückwendend. Das Kind ist tot!? – Und das können Sie mir verschweigen?!

LINDEKUH. Das wolle Gott im Himmel nicht, daß das Kind nicht mehr lebt!

DR. SCHWARZKOPF gedämpft. Es ist vor zehn Minuten einem unheilvollen Magen- und Darmkatarrh erlegen. Ich hätte ihm vielleicht noch eine Kampfereinspritzung geben können. Der rasche Verlauf ließ mir keine Zeit dazu.

FRAU OBERST. Klara! Klara! Jetzt erfaßt mich ein entsetzliches Grauen! Zu Lindekuh. Rührt Sie denn dieses Schicksal nicht?!

LINDEKUH. Ich bin wortlos ...

FRAU OBERST. Wortlos sind Sie?! – Das Schicksal meiner Tochter rührt Sie so wenig, als wäre in Ihrer Abwesenheit ein Apfel vom Baum gefallen! Reden Sie mich nicht mehr an! Ich habe bei uns in der Schweiz schon die empörendsten Ruchlosigkeiten über Sie gehört! Aber Ihr persönliches Benehmen verwandelt mir das Blut in Eiskörner!

KLARA aufspringend. Laß mich allein, Mutter! Laßt mich alle allein! Laßt mich allein, damit ich endlich, endlich, endlich wahnsinnig werden kann!

FRAU OBERST sie in die Arme schließend. Soweit hat dich sein Satanismus also glücklich gebracht. Zu Lindekuh. Helfen Sie mir jetzt doch wenigstens mein Kind zu beruhigen, nachdem Sie mein Kind so grenzenlos unglücklich gemacht haben!

KLARA sich losreißend. Die Qualen, die mich zu Boden rissen, werden lächerlich! Meine Höllenleiden verkehren sich in Lächerlichkeit! Das ist übermenschlich! Was umschlingt mich! Was packt mich denn an! Ein namenloser Ekel vor dem schauerlichen Los, unter schallendem Hohngelächter zu Tode gefoltert zu werden!

DR. SCHWARZKOPF versucht sie in die Arme zu schließen. Weinen Sie, Fräulein Klara! Weinen Sie! Nachdem ihn Klara zurückgestoßen, für sich. Das ist ein Unglück, das ich bei so manchem Unglücksfall erlebe, daß das Unglück[56] gerade im unglücklichsten Augenblick anfängt, lächerlich zu werden!

FRAU OBERST sucht Klara aufzuhalten, jammernd. Gibt es denn für deine Mutter gar keine Möglichkeit, mit dir, mein liebes Kind, allein zu sein!

JOSEF sich kühl verbeugend. Ich war drei Jahre hindurch der Lehrer Ihrer Tochter ...

FRAU OBERST. Aus vollem Herzen danke ich Ihnen, Herr Professor, für alles was Sie in den drei Jahren an meiner Tochter getan haben.

KLARA aufschreiend, auf und nieder rennend. Drei Jahre hindurch habe ich, ohne zugrunde zu gehen, das gräßlichste Unglück ertragen, das einem Weibe beschieden sein kann! Das war zu wenig! Das war zu wenig! Mir war noch übrig, in meinem Unglück verhöhnt zu werden! Das irdische Denken reicht nicht bis zu dem Gedanken aus, daß es solche Qualen gibt. Ich stehe am Schandpfahl! Und kein Erwürgen möglich. Kein Selbstmord mehr! Gelächter über mir! Gelächter unter mir! Gelächter! Gelächter! Sie heult in fürchterlichem Schmerz auf und sinkt zu Boden. Die Menschen bekommen Krämpfe vor Lachen, wenn sie die Erzählung meiner Qualen hören!

DR. SCHWARZKOPF leise zu Josef. Jetzt gehen Sie aber bitte, ohne sich zu verabschieden!

JOSEF. Ich möchte mich durchaus nicht aufdrängen. – Komm, Else!


Else und Josef ab.


DR. SCHWARZKOPF zur Frau Oberst, die in einem Sessel zusammengesunken ist. Frau Oberst, ich erwarte jetzt die tatkräftigste Entschlossenheit von Ihnen! Für die Bestattung dieses unglücklichen Wesens werden Herr Lindekuh und ich Sorge tragen. Nehmen Sie jetzt Ihre Tochter, wenn Sie ihr Leben retten wollen, besinnungslos, wie sie daliegt, vom Boden auf und bringen Sie sie, ohne sie zur Besinnung kommen zu lassen, zur Bahn! Dann fahren Sie, ohne sich einen Aufenthalt zu gestatten, mit ihr in die Schweiz und pflegen Sie sie bei sich zu Hause so gut, wie man ein todkrankes Kind nur irgendwie pflegen kann! Klara vom Boden aufhebend. Stehen Sie jetzt[57] rasch auf, Fräulein Klara. So rasch wie möglich! Eine wollene Decke von ihrem Bett nehmend. Wickeln Sie sich fest in diesen Reiseplaid, und nun gehen Sie mit Ihrer lieben Mutter! Herr Lindekuh und ich kommen Ihnen gleich nach, um Ihnen die Fahrkarten zu besorgen! Halten Sie sich nicht mehr auf, meine Damen! Er geleitet die Damen hinaus. – Zurückkommend zu Lindekuh. Ich hoffe zuversichtlich, daß dieser erste Anfall keine dauernde Geistesstörung zur Folge hat.

LINDEKUH. Die kann ein Lied singen!


Ende.

Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 55-58.
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