Neuntes Exempel.

Ein frommer Knab wird samt einem Abbt vom JEsus-Kindlein zur himmlischen Tafel eingeladen.

[10] Es war in einem Closter ein Knab, der zum Clösterlichen Leben unterrichtet, und auferzogen wurde. In dem Closter aber ware ein Capell, in welcher ein geschnitzeltes Mariä-Bild, so das JEsus-Kindlein auf den Armen hatte. So oft nun der Knab das Mittag-Essen einnahme, thate er ihm selbst aus Liebe zu dem JEsus-Kindlein von einer und anderen Speis etwas abbrechen, und behielte es in einem Schüsselein auf. Mit disem gienge er nach dem Mittag-Essen in gedachte Capell, und nachdem er vor dem JEsus-Kindlein eine Reverentz gemacht, sagte er aus Heil. Einfalt: Schaue mein JEsus-Kindlein! da hab ich dir von meinem Mittag-Essen etwas aufbehalten: lasse es dir belieben. ich gib dir halt was ich hab: so lieb bist du mir. Alsdann gabe er dem JEsus-Kindlein das Schüsselein in die Händlein, und sagte: isse jetzt mein JEsus-Kindlein: ich will unterdessen meinen Geschäften nachgehen: aber über eine kurtze Zeit werd ich wider kommen, und das Schüsselein abholen. Darauf hin machte der Knab dem JEsus-Kindlein eine Reverentz, und gienge aus der Capell hinweg. Wann er nun über eine Zeit, das Schüsselein abzuholen, zuruckkommen, fande er selbiges allzeit leer: woraus er dann abgenommen, einmahl das JEsus-Kindlein müsse das Schüsselein ausgeessen haben. Hier ist aber zu wissen, daß der Abbt des Closters, unter welches Gehorsam, und geistlicher Zucht der Knab stunde, im Brauch gehabt, zu gewissen Zeiten in gedachter Capell sein Gebett zu verrichten. Da hat es sich dann einstens zugetragen, daß indem der Abbt in einem Winckel bettete, der Knab eben dazumahl seinem Gebrauch nach dem JEsus-Kindlein zu essen brachte; und weil er glaubte, allein zu seyn, seine unschuldige Ansprach mit ihm hielte. Das verursachete nun den Abbt, daß er aus dein Winckel herfür kame, und diesen Knaben mit Worten anredete: ich sihe wohl, daß du ein unschuldige Kind bist; dann ich hab deiner Ansprach, so du mit dem JEsus-Kindlein gehabt, [10] schon lang zugehöret. Es kan wohl seyn, daß es dir in Ansehung deiner unschuldigen Einfalt einmahl wird antworten. Solte nun dises geschehen, so lasse es mich auch wissen, was es gesagt habe; und thue nichts ohne meine Erlaubnus. Freylich ja, sagte der Knab: ohne euere Erlaubnuß will ich nichts thun: dann ich wohl weiß, zu was mich der Gehorsam verbindet. Aber (die Erzählung wiederum aneinander zuknüpfen) wie gienge es weiters? der Knab hätte es schon längsten gerne gehabt, daß ihm das JEsus-Kindlein auch thäte antworten, und aus dem Schüsselein essen in seiner Gegenwart. Dannenhero als er einstens dem JEsus-Kindlein wiederum zu essen gebracht, sagte er: ach mein JEsus Kindlein! weil ich sihe, daß du die geringe Speisen, so ich dir täglich bringe, nicht verachtest, so hätte ich es halt gern, wann du auch einmahl mit mir reden, und aus dem Schüsselein essen thätest, da ich zu gegen bin. Ey ja! lasse dich erbitten; allein weil das JEsus Kindlein sich nicht regen wolte, da fienge der Knab an selbiges mit weinenden Augen zu bitten, es wolt ihn doch nicht verschmähen. Da regte sich dann das JEsus-Kindlein, eröfnete den Mund, und sagte zu dem Knaben: nun weil ich dir so lieb bin, daß du mir zu Ehren deinem Mund bey dem Mittag-Essen so oft an Speisen etwas abgebrochen, so lade ich dich hingegen zu meiner himmlischen Tafel ein: und das ohne langes Aufschieben. Auf dises Einladen war der Knab über die Massen erfreut. Weil er aber dem Abbt versprochen, er wolle ihn auch wissen lassen, was das JEsus Kindlein gesagt hätte, und nichts thun ohne seine Erlaubnuß, so sagte er zu dem JEsus Kindlein: ach! mein JEsus-Kindlein wie gern wolte ich gleich kommen, allein weil ich dem Abbt des Closters den Gehorsam versprochen, so wirst du mir ja erlauben, daß ich ihm vorher davon sage, und von ihm Erlaubnuß begehre. Wie nun das JEsus Kindlein dessen zu friden war, da liefe der Knab dem Abbten zu, und erzählte ihm die von dem JEsus Kindlein gethane Einladung. Da sagte der Abbt: ach was für eine schöne Gelegenheit wäre jetzt für mich, mit disem Knaben auch zur himmlischen Tafel zu kommen? O wie begierig bin ich darnach! O daß mich GOtt erhörte, und aus diesem Leben abforderte! dann gleich wie ein Hirsch verlangte nach Wasser Bronnen; also hat meine Seel Verlangen nach dir, O GOtt! Dises aus dem Innersten des Hertzens geredt, gabe der Abbt dem Knaben Befehl mit disen Worten: Gehe widerum hin zum JEsus Kindlein, und sage ihm, du habest zwar von mir Erlaubnuß zur himmlischen Tafel zu kommen; aber nicht anderst, als mit dem Beding, daß ich auch mit dir därfte [11] kommen. Wie der Knab dem JEsus Kindlein dise Bottschaft hinterbracht, da sagte das JEsus Kindlein: nun dann, so kommet beyde miteinander, und zwar auf das nächste heilige Pfingst-Fest. Gebet aber auf dises acht: wann man in der Kirchen anstimmen wird das Gesang: komm heiliger Geist, und erfülle die Hertzen deiner Glaubigen! alsdann wird die Zeit eueres Hintritts aus der Welt vorhanden seyn. Mit diser Antwort erfreute der Knab den Abbten über alle massen. Damit sie dann beyde die behörige Anstalt machten, würdig an der himmlischen Tafel zu erscheinen, empfiengen sie nicht allein mit möglicher Andacht die Heil. Communion als die letzte Weeg-Zehrung; sondern übten sich auch in Betrachtung himmlischer Dingen, und anderen gottseeligen Wercken. Wie nun endlich das Heil. Pfingst-Fest ankommen, da nahme der Abbt den Knaben mit sich in die Kirchen, und ließ ihn neben sich in dem Chor-Stuhl knyen; allwo sie dann mit unaussprechlicher Begierd warteten, bis man im Chor obgedachte Wort: komm Heil. Geist! anstimmen wurde. So bald es dahin kommen, siehe! da gaben sie beyde sänftiglich ihren Geist auf; und gelangten auf solche Weis ihre unschuldige Seelen an die himmlische Tafel. Colletctor Speculi.


O wie ist diesem Knaben der kleine Abbruch, den er ihm selbst bey dem Essen aus Liebe zu dem JEsus Kindlein an einer und anderer Speis gethan, so reichlich belohnt worden! es laßt ihm nemlich GOtt nichts umsonst thun. Solte es auch nur ein Bissen seyn, den wir uns am Mund ihm zu Lieb abbrechen, so wird er seinen Lohn haben. O wohl ein freygebiger GOtt.

Quelle:
Wenz, Dominicus: Lehrreiches Exempelbuch [...] ein nutzlicher Zeitvertreib als ein Haus- und Les- Buch. Augsburg 1757, S. 10-12.
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