Zweites Kapitel

[14] An einem sehr heißen Sommertage, gerade als die Sonne in den Krebs treten wollte, ging der Graf Ohlau, seine Gemahlin am Arme und in Begleitung seiner sämtlichen Domestiken, überaus prächtig in der neuangelegten Lindenallee spazieren, welches er jeden Sonntag bei heiterem Wetter zu tun pflegte. Das ganze Städtchen, das seine Liebe zur Pracht kannte, paradierte alsdann auf beiden Seiten der Allee in den auserlesensten Feierkleidern: Männer und Weiber, Kinder und Eltern machten eine Gasse auf beiden Seiten und sahen mit gaffender Bewunderung das starre goldreiche Kleid ihres hochgebornen Herrn Grafen nebst einem langen Zuge von reicher Liverei durch die doppelte Reihe gravitätisch dahinwandeln. Nero konnte nicht grausamer zürnen, wenn er auf dem Theater sang und diesen oder jenen Bekannten unter den Zuschauern vermißte, als der Graf Ohlau, wenn bei diesem sonntäglichen feierlichen Spaziergange jemand von den Einwohnern des Städtchens fehlte: ob er gleich einen solchen Verächter seiner Hoheit nicht, wie jener Heide, köpfen ließ, so war doch allemal in so einem Übertretungsfalle auf einen heftigen Groll und bei der nächsten Gelegenheit auf eine[14] empfindliche Rache zu rechnen. Obgleich zuweilen die Sonne so brennende Strahlen auf die Versammlung warf, daß die kahlen Köpfe der Alten wie Ziegelsteine glühten, daß die weißgepuderten Parücken der Ratsherren von der geschmolzenen Pomade mohrenschwarz und die schönen schneeweißen Mädchengesichter rotbraun und mit Sommersprossen und Blattern von der Hitze gezeichnet wurden, so wagte es doch niemand, solange sich der Graf in der Allee aufhielt, den Schatten zu suchen: man schwitzte, ächzte und ward gelassen zum Märtyrer des herrlichen Kleides, das der Graf zu begaffen gab. Er selbst machte sich mit der nämlichen Standhaftigkeit zum Opfer seines Stolzes, und seine Gemahlin – mehr aus Gefälligkeit gegen ihn als aus eigner Neigung – steckte sich jedesmal in einen großen Fischbeinrock und ein schweres reiches Kleid, um die Herrlichkeit seines Spazierganges vermehren zu helfen.

Die Last dieser Feierlichkeit war noch keinen Tag so drückend gewesen, daß der Graf sie nicht hätte ertragen können: doch itzt, am gemeldeten Sonntage, schoß die Sonne bei ihrem Eintritte in den Krebs so empfindliche Strahlen, die wie Pfeile verwundeten. Die Augen der Zuschauer waren matt und blickten mit schwacher Bewunderung auf das apfelgrüne Kleid, in dessen Stickerei die Silberflittern wie ein gestirnter Himmel glänzten und die Folie mit allen Farben des Regenbogens spielte: Jedermann lechzte und dachte, empfand und sagte nichts als: »Das ist heiß!« Der Graf wedelte sich unaufhörlich mit dem musselinen Schnupftuche das Gesicht, blies um sich und seufzte einmal über das andere seiner Gemahlin zu: »Das ist heiß!« Die Frau Gräfin ging geduldig an seiner Seite unter dem rottaffetnen Sonnenschirme mit glühendem aufgelaufenen Gesichte und klopfendem Busen, wo große Schweißtropfen wie die Perlen eines starken Morgentaues standen, zerrannen und in kleinen Bächen hinabliefen, atmete tief und keuchte nach ihrem Gemahle hin: »Das ist heiß!« Laufer, Heiducken, Jäger und Lakaien, so stolz sie sonst in ihren Galakleidern daherschritten, schlichen mit gesenkten Häuptern mutlos und schmachtend[15] hinterdrein und brummten einander, ein jeder mit seinem Lieblingsfluche, zu: »Das ist heiß!« Es war nichts anders übrig, als der Sonne nachzugeben und dem Schatten zuzueilen.

Gerade mußte sich es treffen, daß unter der schattichten Linde, wo der Graf mit seinem Gefolge Schutz suchte, der kleine Herrmann mit einigen seiner Kameraden sein gewöhnliches Spiel spielte: er war König, teilte Befehle aus, die die übrigen vollziehen mußten, und saß eben damals mit völliger Majestät und Würde auf der Bank unter der Linde, um einem Paar Abgesandten Audienz zu geben. Sobald sich der Graf dem Baume näherte, liefen die erschrocknen Abgesandten davon, nur der kleine König blieb, in die Hoheit seiner Rolle vertieft, mit gravitätischem Ernste sitzen. Die Mutter, die in der Ferne gegenüberstand, biß sich vor Ärger über die Unhöflichkeit ihres Sohnes in die Lippen, und der Vater hub schon mit Zähneknirschen und einem unwilligen »Du sollst es kriegen« sein Rohr drohend in die Höhe. Die Gräfin lächelte über die Unerschrockenheit, mit welcher sie der Knabe erwartete, und sagte freundlich zu ihm: »Rücke zu, mein Kleiner!« – »Nein, das kann ich nicht!« antwortete der Knabe. »Ich muß in der Mitte sitzen; denn ich bin König, und Sie sind nur Graf.« – Man lachte und gab, aus Ehrerbietung gegen seine königliche Würde, seinem Verlangen nach.

Ohne langes Besinnen fuhr er in seiner Rolle fort und gab mit der nämlichen Dreistigkeit, womit er seine Gespielen beherrscht hatte, auch dem Grafen Befehle, und weil dieser nicht für nötig erachtete, sie zu vollstrecken, so versicherte ihn der kleine Monarch, daß er sich einen bessern Untertan in ihm versprochen hätte, und drohte ihm für seinen Ungehorsam die fürchterlichsten Strafen an. Die Gräfin, die sehr bald merkte, daß alle diese Ideen, ob es gleich nur Kinderspiel war, dem Stolze ihres Gemahls widrig wurden, suchte den Knaben auf etwas andres zu lenken und bat ihn, seine Majestät einmal beiseitezusetzen und ihr ein paar Blumen zu pflücken. Pfeilschnell sprang er von der Bank hinweg,[16] setzte sich ins Gras, pflückte Blumen, und band mit dem sorgfältigsten Fleiße ein sehr zierliches Bukett, das er der Gräfin mit dem verliebten Anstande eines Schäfers und einem Handkusse überreichte, nebst der galanten Versicherung, daß er sie sehr lieb habe. – »Mein Sohn«, sagte die Gräfin darauf, »du wirst einmal ein großer Mann oder ein großer Narr werden.« – »Ach«, erwiderte der Knabe mit kindischer Naivität, »mit dem großen Narren hat's keine Not: das will ich wohl bald werden, wenn ich nur erst ein großer Mann bin.« –

Gräfin. Hast du denn Lust, ein großer Mann zu werden?

Der Kleine. Ja, das werd ich; und weiter nichts!

Gräfin. Auch ein großer Narr?

Der Kleine. Nein, das ist meine Sache nicht. – Das ist einer (setzte er hinzu und wies mit dem Finger auf den Grafen). Steifigkeit und Gezwungenheit müssen auf jede richtig gestimmte Seele einen unmittelbaren widrigen Eindruck machen; sonst hätte unmöglich diesem kleinen Schwätzer ein so kindischer Sarkasmus, so voll der bittersten Wahrheit, entwischen können. Der Graf fühlte ihn mit Widerwillen, und es tat ihm sehr wehe, daß er nicht zürnen konnte, weil ihn ein Kind gesagt hatte: seine Gemahlin, die seinen Stolz und seine zeremoniöse Eitelkeit innerlich sehr mißbilligte und sich nur nicht offenherzig gegen ihn herauszulassen getraute, freute sich im Herzen über den Vorwitz des Bubens und ermahnte ihn zur Behutsamkeit und zum Respekte in seinen Ausdrücken, vielleicht gar in der boshaften Absicht, seine Unverschämtheit noch mehr zu reizen. »Was hast du denn an mir auszusetzen?« fragte der Graf mit hastigem Tone, um seine Empfindlichkeit zu verstecken.

Der Kleine. Sehr viel! – Warum ziehen Sie sich denn so warm an? itzt in der Hitze? Sehn Sie! das ist gescheit angezogen! – (wobei er seine kleine rotstreifichte Leinwandjacke auseinanderzog und von der Luft durchwehen ließ).

Die Gräfin verbarg eine boshafte Freude hinter dem Fächer und machte ihm den Einwurf, daß sich eine solche Kleidung nicht für den Grafen schicke.

[17] Der Kleine. Warum denn nicht? Wenn sie sich für mich schickt?

Die Gräfin. Und du bist doch ein König!

Der Kleine. Oh, Sie sind eine scharmante Frau: ich habe Sie wahrhaftig recht lieb, das können Sie glauben. Wenn ich groß bin, will ich Sie heiraten.

Die Gräfin. Du mich? – Ich habe ja schon einen Mann.

Der Kleine. Ja – (wobei er den Grafen mit schiefem, verächtlichen Blicke vom Kopf bis zu den Füßen übersah) – den hätt ich nicht genommen.

Die Gräfin. Warum denn nicht?

Der Kleine. Weil er so viel Silber auf de Rocke hat.

Die Gräfin. Du wirst also vermutlich kein Silber tragen, wenn wir einander heiraten?

Der Kleine. Also wollen Sie mich? – Geben Sie mir Ihre Hand darauf!

Die Gräfin. Hier ist sie. – Warum, bist du denn aber dem Silber so gram?

Der Kleine. Weil es zu geputzt aussieht.

Die Gräfin. Ich merke also wohl, du bist kein Liebhaber vom Geputzten.

Der Kleine. Gar nicht! Wenn ich auch einmal ein großer Mann bin, geh ich doch nicht anders wie itzo.

Die Gräfin. Was für ein großer Mann denkst du denn zu werden?

Der Kleine. Das weiß ich selber noch nicht recht. Sonst wollt ich immer ein König werden: aber das gefällt mir nicht mehr. Ich will lieber zur See gehen und Länder entdecken.

Die Gräfin. Da wirst du mich bald zur Witwe machen.

Der Kleine. Ja, wenn ich Sie heirate! – (Vor Freude tat er zwei große Sprünge bei diesen Worten.) – Da bleib ich lieber zu Hause bei Ihnen und werde recht gelehrt – recht erstaunend gelehrt! Hernach müssen die Leute aus der ganzen Welt zu mir kommen und mich sehen wollen: die Königin aus Saba muß zu mir kommen: da lös ich ihr Rätsel auf.

Die Gräfin. Die gute Frau ist schon lange tot.

Der Kleine. Es wird doch wohl eine andre wieder dasein. Die[18] bringt mir dann große Geschenke – Gold, Silber, Weihrauch.

Die Gräfin. Du bist ja kein Liebhaber von Gold und Silber.

Der Kleine. Ach, ich behalte nichts davon: ich schenke alles wieder weg, alles.

Die Gräfin. Das ist edelmütig. – Ich dächte, so ein munterer Bursch wie du ginge lieber in den Krieg.

Der Kleine. Nein, das ist gar nicht meine Sache.

Die Gräfin. Warum nicht?

Der Kleine. Das Pulver macht schmutzige Hände: die Soldaten sehen mir alle zu wild aus; und im Kriege wird man ja totgeschossen!

Die Gräfin. Du mußt die andern totschießen, damit sie dich nicht totschießen können.

Der Kleine. Ich sollte jemanden totschießen? – Das könnt ich nicht. Das tät mir so weh, als wenn meine Mutter eine Henne abschlachtet. – Ich kann gar kein Blut sehn – (setzte er mit leisem Tone und halbem Schauer hinzu).

Die Gräfin. Bist du so mitleidig?

»Ach«, seufzte der Knabe, und Tränen standen ihm in den dunkelblauen Augen, »ich kann gar nicht sterben sehn! Auch keinen Menschen, dem etwas weh tut! Der lahme Görge hier in der Stadt – wenn ich den mit seiner Stelze kommen sehe –, ach, da geh ich allemal in eine andere Gasse, daß ich nicht vor ihm vorbei muß.« – »Dort kömmt die Kutsche!« unterbrach der Graf freudig ihr Gespräch, der unterdessen voller Ungeduld, wie auf Feuer, dagesessen und nach der lange verschobnen Ankunft des blauen Staatswagens geseufzt hatte.

Bei seinem Vergnügen an der Pracht spielten Kutschen und Pferde keine geringe Rolle: er verschrieb sich alle mögliche Risse von Staatskarossen und den sämtlichen übrigen Arten von Wagen, und niemand durfte ihm leicht ein merkwürdiges Fuhrwerk oder Pferdegeschirr nennen, ohne daß er nicht den Auftrag bekam, eine Zeichnung davon zu schaffen. Keine Schmeicheleien und kein Geld wurden dabei gespart, den Zeichner und Kommissionar zur Beschleunigung seines[19] Wunsches aufzumuntern: empfahl sich einer unter den erhaltnen Rissen durch unwiderstehliche Schönheiten, so wurde er ausgeführt, und jedesmal, wenn so ein neues Werk vollendet und zum ersten Male gebraucht wurde, empfing das ganze Schloß einen Schmaus, wie andere Leute zu geben pflegen, wenn sie ein Haus gebaut haben. Schade war es nur, daß die herrlichen Gebäude allemal aus einem doppelten Grunde unbrauchbar und meist auch ziemlich abgeschmackt waren: seine Leidenschaft für die Pracht zog Schönheit und Geschmack so wenig zu Rate, daß jedes Fleckchen, von der Decke bis zur Radeschiene, von dem äußersten Ende der Deichsel bis zu der äußersten Spitze des letzten Eisens hinter dem Kasten, mit Gold beklebt werden mußte, wofern es andere Ursachen nur im mindsten zuließen: auf der andern Seite wollte sein Geiz – wovon ihm eine starke Dosis zuteil geworden war – jenen prächtigen Kunstwerken die Dauerhaftigkeit einer ägyptischen Pyramide geben und riet ihm, sie so massiv, so plump bauen zu lassen, daß selten eine Kutsche nach geendigter Schöpfung mit weniger als acht Pferden von der Stelle gebracht werden konnte. Dieselben Ursachen machten auch seine Pferdegeschirre zu wahren Meisterstücken des schlechten Geschmacks: sie waren alle so schwer, daß unter der kostbaren Last die armen Rosse ihres Lebens nicht froh wurden und meistens zwei Tage eine Entkräftung fühlten, wenn sie einmal eine Stunde lang in ihrem ganzen Schmucke an so einem vergoldeten Hause gezogen hatten. Bei einer solchen Bewandtnis ist es kein Wunder, daß der Herr Graf während der vorhergehenden Unterredung seiner Gemahlin mit dem kleinen Herrmann so lange auf den blauen Wagen warten mußte, ob er gleich beinahe schon angespannt war, als der Spaziergang eröffnet wurde: das ungeheure Gebäude konnte bei der gewaltigen Hitze nicht anders als in dem Tempo eines gemeinen Mistwagens fortbewegt werden, und noch blieben die niedergeschlagnen Pferde alle sechs Schritte einmal stehen, um auszuschnauben.

Endlich langte die blaue fensterreiche Karosse bei der Linde[20] an: sechs Perlfalben zogen sie unter einem blausamtnen, mit goldnen Tressen und unzählbaren Schnallen gezierten Geschirre; sie hingen traurig den schöngeflochtnen, mit goldnen Rosen geschmückten Hals und fühlten ihr glänzendes Elend so stark, daß sie nicht einmal die funkelnde Quaste auf dem Kopfe schüttelten. Graf und Gräfin stiegen hinein, und ohne daß man es gewahr wurde, wie ein Wind, wischte der kleine Herrmann hinter ihnen drein – pump! saß er da, dem hochgebornen Paare gegenüber. Der Graf erschreckte ihn zwar durch die auffahrende Frage: »Was willst du hier?« – allein der Knabe antwortete ihm unerschüttert: »Ich will einmal sehn, wie sich's in so einem Wagen fährt.«

Unterwegs machte er sehr oft die Anmerkung, daß diese Art zu fahren für ihn erstaunend langweilig wäre, bezeugte auch zuweilen ein großes Verlangen, aus dem Kasten herauszugehn, und da ihn die Gräfin zur Ruhe vermahnte, versicherte er, daß er nur aus Liebe zu ihr sich so lange darinne zurückhalten ließe.

Allmählich begann der zweite Akt des Spaziergangs. Wenn der Graf sich bei dieser Sonntagskomödie mit der ganzen Kommun seiner Residenz einige Zeit von der Sonne hatte sengen und brennen lassen, erschien gewöhnlich, wie itzo, eine von seinen schwerfälligen Staatskutschen, worinne er mit der Langsamkeit einer Leichenbegleitung durch die Alleen eines Lustwäldchens fuhr: die ganze Stadt folgte ihm alsdann zu Fuß auf beiden Seiten und hinten nach, und jeder Knabe hatte die Erlaubnis, ein Band, ein Schnupftuch oder jede andre Sache, die weich genug war, um keine Beulen zu machen, wenn sie einen Kopf traf, in den Wagen zu werfen. Nach geendigter Spazierfahrt sammelte der Kammerdiener alle hineingeworfnen Lappen in einen Korb, trat mit ihm mitten auf den Schloßhof, die Stadtjugend stellte sich in einem Zirkel um ihn, und sobald der Graf das Fenster öffnete, fing er an, ein Band, ein Tuch nach dem andern in die Höhe zu halten und nach dem Eigentümer desselben zu fragen: wer sich dazu bekannte und sein Recht aus gültigen Gründen beweisen konnte, erhielt bei der Rückgabe etwas Geld: waren[21] die Ansprüche so verwickelt und zweifelhaft, daß sich der Kammerdiener ohne Verletzung seines Richtergewissens nicht zu entscheiden getraute, so mußte der Zweikampf den Ausschlag tun: die Kompetenten traten in die Mitte des Kreises, rangen miteinander, und wer den andern zuerst niederwarf, besaß das Band und den damit verbundenen Preis ungestört bis in alle Ewigkeit, wenn er auch gleich dem Überwundnen gehörte. Während der Austeilung wurde ein Faß voll Bier, in Bereitschaft gesetzt, auf einen kleinen Wagen geladen; und hatte jedes Band seinen Besitzer gefunden, so spannte sich ein Trupp Knaben daran und zog ihn, Musik voraus, in den herrschaftlichen Garten, wo in einem, alten Pavillon die Mädchen warteten, um mit ihnen gemeinschaftlich den Abend unter Tänzen und Liedern hinzubringen. Sehr oft sah der Graf mit seiner Gemahlin ihren jugendlichen Ergötzlichkeiten zu, wenigstens waren doch auf allen Fall die Eltern zugegen, um Unordnungen vorzubeugen und durch ihre Gegenwart Reizungen zu unterdrücken, welche der Tanz leicht erweckt.

Der kleine Herrmann, der aus Liebe zur Gräfin die ganze Fahrt hindurch bis zur Ankunft auf dem Schlosse in der Kutsche ruhig ausgehalten hatte, bat sich die Erlaubnis aus, bei der darauffolgenden Preisausteilung die Stelle des Kammerdieners zu vertreten: und auf Zureden seiner Gönnerin bewilligte ihm der Graf seine Bitte. Er sammelte die zahlreichen Bänder und Tücher aus dem Wagen mit eilfertiger Geschäftigkeit zusammen und trat mit dem völligen feierlichen Anstande eines Richters, unter der Begleitung des Kammerdieners, der Korb und Geld neben ihm hertrug, in den Kreis seiner erstaunten Kameraden. Sie murmelten zwar einander einige kleine Höhnereien zu, daß ihresgleichen über sie erkennen sollte: allein Graf und Gräfin öffneten das Fenster, und man schwieg. Der neue Richter schwenkte ein Band in die Luft, fragte, wem es gehörte, gab es dem ersten, der mit einem deutlichen »Mir« antwortete, aber kein Geld, verfuhr mit den übrigen ebenso, und niemand bekam Geld. Der Kammerdiener, dieser neuen Praxis ungewohnt, wollte[22] ihm ins Amt greifen; die ganze versammelte Jugend wurde schwürig und wollte die alte Prozeßordnung hergestellt wissen: doch die Gräfin rief: »Laßt ihn nur machen!« – und man mußte sich beruhigen. Als der Korb ausgeleert war, befahl er einem jeden nach der Reihe, seine eingelösten Bänder zu zählen, und wer die meisten hatte, bekam das wenigste Geld: ein einziger Knabe, der nur eins in den Wagen geworfen und auch nur eins zurückgefodert hatte, erhielt den höchsten Preis – gerade so viel, als alle übrige zusammen. Natürlich mußten die andern über ihre getäuschte Unverschämtheit unwillig werden, und weil kein Mittel zu einer größern Rache vorhanden war, schimpfte, schmähte, verspottete man die neue Weisheit des Richters: der Kammerdiener, dem es auch nicht anstund, daß der Knabe klüger sein wollte als er alter Mann, suchte ihn anzuhetzen und in einen Streit zu verwickeln, wo er notwendig den kürzern ziehen würde. »Leid es nicht«, zischelte er ihm leise zu: allein er bekam nichts als die stolze Antwort: »Das schadet mir nichts, ich bleibe dennoch, wer ich bin« – und so wanderte unser kleiner Herrmann voll edlen Bewußtseins nach dem Zimmer des Grafen.

Der Empfang von seiten der Gräfin war ungemein lebhaft und freundlich, und selbst ihr Gemahl fühlte in dem Verfahren des Knaben bei der Preisausteilung so etwas, das mehr als einen gemeinen Geist voraussetzte. Sie lobten ihn beide, beschenkten ihn, und der Graf gab sich selbst die gnädige Mühe, ihn mit hoher Hand in seinen Staatszimmern herumzuführen; denn nach seinen Begriffen war es die größte Gnadenbezeugung, wenn er jemandem Gelegenheit gab, ihn in seiner Pracht zu bewundern. – »Wie gefällt dir das alles?« fragte der Graf. – »Ganz wohl«, erwiderte der Knabe; »nur das viele Gold kann ich nicht leiden.« – »Was möchtest du nun am liebsten unter allen diesen Sachen haben?« fing die Gräfin an. – »Nichts als das!« antwortete der Kleine und wies auf ein Porträt der Gräfin.

Die Vorstellung – ›ich gefalle‹ – verbreitet über weibliche Nerven jederzeit so eine eigne lebhafte Behaglichkeit, daß ihr[23] ein Frauenzimmer auch bei einem sechsjährigen Knaben nicht widerstehen kann: die Gräfin ging, ohne ein Wort zu sagen, in ihr Zimmer und kam mit einem Miniaturgemälde zurück, das sie ihrem Lieblinge – denn das war er nun völligzum Geschenk überreichte. – »Wenn dir«, sagte sie, »die Frau auf dem großen Gemälde hier so wohlgefällt, so will ich dir ihr Porträt im kleinen geben: behalt es zu meinem Andenken!« – Der Knabe tat einen freudigen Sprung, seine ganze Miene wurde Vergnügen, er küßte das Bild etlichemal und bat um ein Band: die Gräfin vertröstete ihn bis zur Zurückkunft in ihr Zimmer: hurtig machte sich der galante Bube sein Knieband los, zog es durch das Öhr des Porträts und hing es um den Hals. – »Mein Orden ist tausendmal schöner als Ihrer«, sprach er zum Grafen und drückte das Bild so fest an die Brust, daß die Gräfin sich nicht enthalten konnte, ihm für diese unschuldige Schmeichelei einen derben Kuß auf die runden roten Backen zu drücken.

Man öffnete die beiden Flügel der Tür: der Graf erblickte die Spieltische in völliger Bereitschaft: »Zum Spiel«, rief er und bot seiner Gemahlin die Hand, die sie ungern annahm, weil sie sich von ihrem kleinen Liebhaber trennen sollte. Zugleich gab er einem Laufer Befehl, den Knaben zu seinen Eltern zurückzubringen: das war ein Donnerschlag für den armen Verliebten. Er schluchzte, ging niedergeschlagen und langsam zur Gräfin, faßte ihre Hand, küßte sie und brach in lautes Weinen aus: die Dame ward durch die kindische Betrübnis so gerührt, daß ihr eine Träne über die Wange herabrollte: mit hastiger Bewegung riß sie den weinenden Knaben zurück, gab ihm zween recht feurige Küsse, reichte mit einem Seufzer dem versilberten strotzenden Herrn Gemahle die Hand und ging an den Spieltisch.

Die Mutter erwartete ihn an der Tür, als er mit dem Laufer angewandert kam, und empfing ihn mit lautem Jubel über das Glück und die Gnade, die ihm heute widerfahren wäre, und belud seinen Überbringer mit so vielen untertänigsten und alleruntertänigsten Danksagungen dafür, daß sie einen Maulesel nicht schwerer hätte bepacken können. Desto mehr[24] war der Vater wider sie und seinen Leibeserben aufgebracht; er hielt es schlechterdings für eine Beschimpfung seiner Familie, daß sein Sohn sich zu dem Grafen drängte, und wollte ihn kraft der väterlichen Gewalt, zu seinem Besten, mit einer nachdrücklichen Züchtigung bestrafen, wenn nicht die Mutter noch zu rechter Zeit hinzugesprungen wäre und den armen Jungen unter dem ausgeholten Rutenhiebe weggerissen hätte. – »Mag er mich schlagen!« sagte der kleine Heinrich; »hab ich doch mein liebes Bild« – und dabei küßte er das Porträt der Gräfin.

Dies war, beiläufig gesagt, der Zeitpunkt, wo das Stadtpublikum an der ehelichen rechtmäßigen Zeugung des Knaben zu zweifeln anfing.

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 14-25.
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