Sechster Auftritt.

[17] Kamilla, Grandison.


KAMILLA. O gnädiger Herr! Möge der Himmel Sie mit der Erfüllung aller Ihrer Wünsche segnen, dass Sie so bereitwillig gewesen sind, durch Ihre Wiederkunft der unglücklichsten Familie Italiens das Leben wieder zu geben! Ich versichere Sie, Sie haben durch diese schleunige Willfahrung unsere Hoffnung übertroffen. Nach dem, was bey Ihrer letzten Anwesenheit vorgefallen – Aber, wer darf sich wundern, wenn der Chevalier Grandison grossmüthig handelt? Wenn er alles thut, was schön und gross ist, so handelt er nur sich selbst gleich.

GRANDISON. Ich danke Ihnen für Ihre gute Meinung, Kamilla. Aber befriedigen Sie jetzt meine Ungeduld. Sprechen Sie mir von Ihrer jungen Gräfin. Sie hat geredet, sagen Sie! Und was hat sie geredet?[17]

KAMILLA. Ach, wenn Sie erst wüssten, in was für einem Zustande sie gewesen ist, ehe sie ihr Bruder, der General, aus den Klauen der teuflischen Laurana errettete. – Es ist nun über einen Monat – Die arme Klementina! Ach, dass sie jemahls von der Seite ihrer getreuen Kamilla gerissen werden musste! – Aber ich missbrauche Ihre Geduld, gnädiger Herr! – Seitdem sie wieder in dem Hause ihrer Ältern ist, ist es unmöglich gewesen, ein einziges Wort von ihr zu erflehen. Sie kannte weder ihre Mutter, noch ihren Vater, noch ihren Jeronymo; sie kannte niemand. Ich kann das Gemählde nicht vollenden, Herr Grandison – Ihr Anblick durchbohrte jedes Herz. Ihre Mutter konnte es nicht aushalten; wir waren etliche Tage ihres Lebens wegen in Sorgen. Nach und nach schien sich die arme junge Gräfin wieder zu erinnern. Sie erkannte mich. Sie erkannte auch zuweilen ihre Mutter, aber nur für Augenblicke; und auch in diesen gab sie es nur durch Geberden zu erkennen. Es war unmöglich, sie zu erbitten. Unsere Thränen, unsere Verzweiflung rührte sie nicht. Sie selbst weinte niemahls. Aber Seufzer, die den Seufzern eines in der Marter sterbenden Heiligen glichen, waren alles, woraus wir schliessen mussten, was sie in ihrer Seele leide – Zu grosse Leiden, um durch Thränen oder Worte ausgedrückt zu werden.[18]

GRANDISON. Schonen Sie meiner, Kamilla! – Doch, fahren Sie nur fort –

KAMILLA. O Herr Grandison! wie war es doch möglich, dass ein so grossmüthiger Mann so unempfindlich gegen die liebenswürdigste junge Dame seyn konnte, deren Glückseligkeit oder Elend in seine Willkühr gestellt war? Sie durften nur Ein Wort sprechen – Aber Ihre Hartnäckigkeit – Verzeihen Sie mir, gnädiger Herr! Wenn Sie, wie ich, ein Zeuge des Leidens dieses holdseligen Kindes gewesen wären –

GRANDISON. Ich verzeihe Ihnen, Kamilla. Sie können Ihre junge Gräfin nicht zu eifrig lieben – Aber ich bitte Sie, keine Umwege! Was veranlasste denn die glückliche Veränderung, die Sie uns angekündigt haben?

KAMILLA. Ihr Nahme, Herr Grandison! Ihr Nahme machte sie endlich aufmerksam. Wir sagten ihr, dass Sie aus England zurück kämen, dass Sie wirklich in Bologna angelangt wären, dass alles – Aber Himmel! Wen sehe ich! – Heilige Jungfrau! es ist der Graf von Belvedere! Wie ergrimmt! Wie verzweifelnd! Vor sich. Ich eile, den Bischof zu rufen.

GRANDISON. Sagen Sie nichts, Kamilla, so lieb Ihnen meine Freundschaft ist.


Kamilla eilt hinweg.


Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Supplemente Band 5, Leipzig 1798, S. 17-19.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Klementina von Porretta
C. M. Wielands sämtliche Werke: Supplement, Band V. Klementina von Porretta; Pandora; Die Bunkliade; Auszüge aus Jakob Forsters Reise um die Welt