Achter Auftritt.

[26] GRANDISON allein. Wie wunderbar ist mein Schicksal! – Von dem Tag an, da ich meiner eignen Führung überlassen wurde, war meine grösste Sorge, den geraden Weg der Rechtschaffenheit zu gehen, und mich nicht durch eigene Schuld, durch Unvorsichtigkeit oder Leidenschaft in Schwierigkeiten zu verwickeln – Was hat es mir geholfen? – Eine unsichtbare Hand schien mich wider meinen Willen fortzuziehen, und unvermuthet sehe ich mich in einem Labyrinth ohne Ausgang, ohne dass ich mir einen vorsetzlichen Fehltritt vorzuwerfen habe. Ich handle gerecht und grossmüthig gegen andere, und kann dennoch weder ihren Vorwürfen noch ihren Beleidigungen entgehen. Ich bezähme meine eignen Leidenschaften, und muss durch fremde geplagt werden. Ich bemühe mich andere glücklich zu machen, und bin selbst nicht glücklich! – O Tugend, wie unwiderstehlich ist deine Schönheit, da du uns desto liebenswürdiger wirst, je mehr wir um deinetwillen leiden!


Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Supplemente Band 5, Leipzig 1798, S. 26-27.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Klementina von Porretta
C. M. Wielands sämtliche Werke: Supplement, Band V. Klementina von Porretta; Pandora; Die Bunkliade; Auszüge aus Jakob Forsters Reise um die Welt