Zwölfter Auftritt.

[79] Grandison, Jeronymo, Klementina.


GRANDISON. Sie kommt. Wie sehr gleicht sie wirklich einem sichtbar gewordenen Engel, der in göttlichen Geschäften zu den Sterblichen kommt! O Himmel, gieb mir in diesem Augenblick deine Stärke, da ich fühle, dass mich die meinige verlässt!

KLEMENTINA. Ich suchte Sie, Chevalier; ich bin erfreut, Sie hier anzutreffen. Setzen Sie Sich! Ich komme in einer wichtigen Angelegenheit zu Ihnen – Schliessen Sie nichts daraus, dass ich Sie suche. Sie sind mein Bruder, das wissen Sie. Meine Ältern befehlen mir, Sie so zu nennen. – Es war eine Zeit – erinnern Sie Sich dessen noch? – da man mir befahl, Sie in einem noch nähern Lichte zu betrachten. Ich widersetzte mich umsonst. Ich bat meine Mutter auf meinen Knieen, ich beschwor sie, mir eher den Tod zu geben. Und doch liebte ich Sie, Chevalier! – Ich erröthe nicht, es zu gestehen – Aber ich liebte meinen Gott noch mehr! Ihm, ihm wollte ich in einer heiligen Freystätte, einsam und vor dem Anblick der Welt beschützt, den Überrest eines traurigen Lebens widmen. Aber man hörte mich nicht.[80] Sie wurden von Wien nach Bologna zurück gerufen. Niemand ausser mir zweifelte daran, dass Sie, durch das Ihnen angebotene Glück (so nannte man es) verblendet, Sich das Opfer gefallen lassen würden, das man von Ihnen forderte. Ich allein zweifelte; denn ich kannte Sie. Reichthümer können eine Seele, wie die Ihrige ist, nicht verblenden. Der Adel unsers Hauses, auf den wir vielleicht zu stolz sind, konnte wenig über einen Mann vermögen, der in seinem Vaterlande nicht minder edel ist, und der (wie ich wusste) auf dieses Vaterland stolz war. Sollten also die Verdienste der armen Klementina mächtiger gewesen seyn, Sie zu rühren? Nein, Chevalier, Sie waren es nicht. Ich hatte es nicht erwartet. Sie schlugen mich aus; ich vergebe es Ihnen. – Sie sehen, dass ich mich des Vergangenen noch erinnere. Dank sey dem Himmel, dass ich es wieder kann, ob mir gleich der wieder aufgehende Tag eine entsetzliche Rücksicht in die Finsternisse giebt, worin ich verirret gewesen bin. – Aber wozu sage ich Ihnen diess alles? – Ja, Sie sehen, dass ich über alle eigennützige Absichten erhaben bin. Ich wollte Ihnen zeigen, dass ich einen höhern Beweggrund haben muss, weil ich Sie selbst gesucht habe. Eine himmlische Stimme befahl es mir. Konnte ich ungehorsam seyn?

GRANDISON. Theuerste Gräfin Klementina –[81]

KLEMENTINA. Machen Sie mir keine Einwendungen, Chevalier! Der Himmel bedient sich oft schwacher Werkzeuge zu grossen Absichten – Aus der Säuglinge Mund – Erinnern Sie Sich dieser Stelle nicht? O Grandison! Diese Welt! Was ist diese Welt? Welch ein eitler, nichtiger Traum! Sehen Sie, Chevalier, sehen Sie an mir, was diese Welt ist! Es war eine Zeit, da mir von jedermann geschmeichelt wurde, da ich bewundert wurde, da ich lauter schöne Tage sah, lauter glänzende Aussichten rings um mich her – Nun ist alles vorbey, schon lange ist alles vorbey, und ich beklage mich nicht. Sie sehen, dass ich heiter und gelassen bin. Aber – Erinnern Sie Sich dessen, was ich gesagt habe. Verschmähen Sie die Wahrheit nicht, weil sie aus dem Munde eines unschuldigen Mädchens redet, welches Sie verschmähet haben! – Es kommt eine Zeit, da diese Welt nichts in unsern Augen ist. O Grandison! Dort, dort, Sie steht auf, indem sie dieses sagt, und zeigt mit ihren Augen und mit der rechten Hand gen Himmel. dort wird entschienen, was wir in dieser Welt gewesen sind. Stossen Sie den Himmel nicht von Sich! Ihre Irrthümer sind die Wolken, die ihn vor Ihren Augen verbergen. Aber Ihr Herz, Ihr Herz kann diese Wolken zerstreuen. Der Verstand irret nur, weil das Herz den Irrthum liebt. Stellen Sie Sich vor, Chevalier, dass ich gestorben bin, – ich werde vor Ihnen in die[82] Unsterblichkeit hinüber gehen – und dass ich jenseits des Grabes stehe, und Ihnen rufe, und Sie vermahne, Ihre Seele zu retten! – Was antworten Sie mir? – Sie schweigen, Chevalier? Sie sind traurig? Thränen laufen über Ihre Wangen? Habe ich Sie gerührt? O möchte ich Sie gerührt haben! Mit welcher Freude wollte ich mein Leben hingeben, Ihre Seele zu retten!

JERONYMO weinend. O Grandison, Grandison! Wenn das Sie nicht rühren kann – Ich kann es nicht aushalten.

GRANDISON mit einer Miene und Geberde, die den höchsten Grad von Zärtlichkeit und Wehmuth ausdrückt. Allzu rührender Engel! – Erlauben Sie – Erlauben Sie, mich einen Augenblick zu entfernen!


Er eilt weg.


Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Supplemente Band 5, Leipzig 1798, S. 79-83.
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C. M. Wielands sämtliche Werke: Supplement, Band V. Klementina von Porretta; Pandora; Die Bunkliade; Auszüge aus Jakob Forsters Reise um die Welt