Erster Auftritt.

[89] KLEMENTINA allein. Aus was für einem fürchterlichen Traume bin ich erwacht! Wie sehr hat sich alles verändert! Ich habe Mühe zu erkennen, wer ich bin und wo ich bin! – Sie erheben alle den Chevalier in die Wette; sie werden nicht müde Gutes von ihm zu sagen; sie sprechen von seiner Liebe zu mir; sie billigen den Vorzug, den ihm mein zu leicht gerührtes Herz gegeben hat. Was bedeuten diese Veränderungen? – Sollten sie sich entschliessen können? – Nein, sie können nicht, sie werden nicht! – O du allzu schwaches, verkehrtes, voreiliges Herz! Was pochest du? Was für Wünsche – Wünsche, die du nicht wagen, darfst, dir selbst zu zeigen – Und wie, ach wie wirst du sie demjenigen zeigen dürfen, vor dessen heiligen Augen die scheinbarste Tugend unrein ist? – Unglückliche, betrogene Klementina! du hieltest dich für unschuldig; du nährtest eine Neigung in deiner Brust, die du für rein, für[89] untadelhaft hieltest, weil sie den liebenswürdigsten unter den Menschen zum Gegenstand hatte. Mit Entzückung, mit stillem Triumfe hörtest du sein Lob, die Billigung deiner geheimen Leidenschaft, aus jedem Munde! – Betrügerische Einbildungen! – Was ich für unschuldige Neigung hielt, war Verbrechen. Der erzürnte Himmel fällte sein Urtheil über mich! – Was für ein verkehrtes Geschöpf musste ich seyn, um eine solche Strafe verdient zu haben! – Doch nenne es nicht Strafe, Unglückliche! Es war Wohlthat; es war eine Hand aus den Wolken, die dich von dem Abgrunde zurück riss, in den du, mit verblendeten Augen, auf dem sanften Irrwege der Liebe und der irdischen Freude, Gefahr liefest auf ewig hinab zu stürzen. – O fliehe, fliehe! Alles ist Bezauberung um dich her; alles ist Gefahr und Verführung und Verderben! Fliehe, unglückliche Klementina, fliehe die Liebe, die Welt, dich selbst! – Himmel! Wen sehe ich? – Grandison? –


Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Supplemente Band 5, Leipzig 1798, S. 89-90.
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Klementina von Porretta
C. M. Wielands sämtliche Werke: Supplement, Band V. Klementina von Porretta; Pandora; Die Bunkliade; Auszüge aus Jakob Forsters Reise um die Welt