4.
An Ebendenselben.

[22] Ueber Platons Dialog von der Republik.


In Lagen, wo das Gefühl mit der Vernunft ins Gedränge kommt, ist uns alles willkommen, was uns in einen andern Zusammenhang von Vorstellungen versetzt, die entweder durch Neuheit, Schönheit und Wichtigkeit anziehen, oder durch einen Anstrich von sinnreichem Unsinn und Räthselhaftigkeit[22] zum Nachdenken reizen, und sich unvermerkt unsrer ganzen Aufmerksamkeit bemächtigen. In dieser Rücksicht, lieber Eurybates, hätte mir der neue Platonische Dialog, womit du mich beschenkt hast, zu keiner gelegenern Zeit kommen können. Ich habe ihn, unter häufig abwechselnden Uebergängen von Beifall, Interesse, Bewunderung und Vergnügen – zu Mißbilligung, Kopfschütteln, Langeweile und Ungeduld, bereits zum zweitenmale durchgelesen; was wenigstens so viel beweiset, daß, meinem Gefühle nach, das Lobenswürdige in diesem seltsamen Werke mit dem Tadelhaften um das Uebergewicht kämpfe, und es daher keine leichte Sache sey, über den innern Werth oder Unwerth desselben ein unbefangenes Urtheil auszusprechen. Wirklich scheint mir Plato alle Kräfte seines Geistes und den ganzen Reichthum seiner Phantasie, seines Witzes und seiner Beredsamkeit aufgeboten zu haben, um das Vollkommenste, was er vermag, hervorzubringen; und ich müßte mich sehr irren, oder es ist ihm gelungen, nicht nur alle seine Vorgänger und Mitbewerber, so viele ich deren kenne, sondern, in gewissem Sinne, auch sich selber zu übertreffen. Denn unstreitig muß sogar sein Phädon, Phädrus, und das allgemein bewunderte Symposion selbst, vor diesem neuen Prachtwerke zurückweichen. Da man über diesen Punkt (wie mir Lysanias sagt) zu Athen nur Eine Stimme hört, und die meinige zu unbedeutend ist, um das allgemeine Koax Koax der Aristophanischen Frösche merklich zu verstärken, so wäre wohl das Bescheidenste und auf alle Fälle das Klügste, was ich thun könnte, wenn ich es bei dem bisher Gesagten bewenden ließe. Aber du verlangst meine Meinung von dieser[23] neuen Dichtung unsers erklärten Dichterfeindes ausführlich zu lesen, und hast mich gewissermaßen in die Nothwendigkeit gesetzt dir zu Willen zu seyn, da ich nicht umhin kann, ihn gegen einen Vorwurf zu vertheidigen, den du ihm machst, und der, neben so vielen andern, die er nur zu sehr verdient, mit deiner Erlaubniß, gerade der einzige ist, von welchem ich ihn frei gesprochen wissen möchte. Bei so bewandten Dingen will ich denn (nach andächtiger Anrufung aller Musen und Grazien die Freiheiten, die ich mir mit ihrem Günstling nehmen werde, nicht in Ungnaden zu vermerken) mich dem Wagestück unterziehen, und dir meine Gedanken sowohl von Platons Republik als von diesem Dialog überhaupt ungescheut eröffnen; ohne mich jedoch zu einer vollständigen Beurtheilung anheischig zu machen, welche leicht zu einem zweimal so dicken Buch als das beurtheilte Werk selbst, erwachsen könnte.

Vor allem laß uns bei der Form dieses Dialogs, als dem ersten was daran in die Augen fällt, eine Weile stehen bleiben.

Ich setze als etwas Ausgemachtes voraus, was wenigstens Plato selbst willig zugeben wird: daß ein Dialog in Rücksicht auf Erfindung, Anordnung, Nachahmung der Natur u.s.f. in seiner Art eben so gut ein dichterisches Kunstwerk ist und seyn soll, als eine Tragödie oder Komödie; und ist er dieß, so muß er allen Gesetzen, die ihren Grund in der Natur eines aus vielen Theilen zusammengesetzten Ganzen haben, und überhaupt den Regeln des Wahrscheinlichen und Schicklichen in Ansehung der Personen sowohl als der Zeit, des[24] Ortes und anderer Umstände, eben so wohl unterworfen seyn als diese. Laß uns sehen, wie der Werkmeister dieses Dialogs gegen die verschiedenen Klagepunkte bestehen wird, die ich ihm zum Theil von etlichen strengen Kunstrichtern aus meiner Bekanntschaft machen höre, zum Theil (ohne selbst ein sehr strenger Kunstrichter zu seyn) meinem eigenen Gefühle nach, zu machen habe.

Ich übergehe den allgemeinen Vorwurf, der beinahe alle seine Dialogen, aber den gegenwärtigen noch viel stärker als die meisten andern, trifft: daß er dem guten Sokrates unaufhörlich seine eigenen Eier auszubrüten gibt, und ihm ein System von Philosophie oder Mystosophie unterschiebt, womit der schlichte Verstand des Sohns des Sophroniskus wenig oder nichts gemein hatte; kurz, daß er ihn nicht nur zu einem ganz andern Mann, sondern in gewissen Stücken sogar zum Gegentheil dessen macht was er war. Wir wissen was er hierüber zu seiner Rechtfertigung zu sagen pflegt, und lassen es dabei bewenden. Aber auf die sehr natürliche Frage: »Woher uns dieser Dialog komme?« sollte er doch die Antwort nicht schuldig bleiben. Das Ganze ist die Erzählung eines im Peiräon9 am Feste der Thracischen Göttin Bendis10 im Hause des reichen alten Cephalus vorgefallenen philosophischen Gesprächs zwischen Sokrates, Glaukon und Adimanthus; denn die übrigen im Eingang vorkommenden Personen nehmen an dem Hauptgespräche bloß mit den Ohren Antheil. Diese Erzählung legt Plato dem Sokrates selbst in den Mund; aber an wen die Erzählung gerichtet sey, und aus welcher Veranlassung? Wo und wann sie vorgefallen? davon sagt er uns[25] kein Wort. Was müssen wir also anders glauben, als Sokrates habe dieses Gespräch allen, die es zu lesen Lust haben, schriftlich erzählt, d.i. er habe ein Buch daraus gemacht? Wir wissen aber daß Sokrates in seinem ganzen Leben nichts geschrieben hat, das einem Buche gleich sieht. Plato verstößt also gegen alle Wahrscheinlichkeit, da er ihn auf einmal zum Urheber eines Buches macht, das kaum um den sechsten Theil kleiner ist als die ganze Ilias.

Doch wir wollen ihm die Freiheit zugestehen, die man einem Dichter von Profession nicht versagen würde, den Sokrates zum Schriftsteller zu machen, was dieser wenigstens hätte seyn können, wenn er gewollt hätte: aber wie kann er verlangen, wir sollen es für möglich halten, daß ein Gespräch, welches von einem nicht langsamen Leser in sechzehn vollen Stunden schwerlich mit einigem Bedacht gelesen werden kann, an Einem Tage gehalten worden sey, wenn gleich (was doch keineswegs der Fall war) sein redseliger Sokrates von Sonnenaufgang bis in die sinkende Nacht in Einem fort gesprochen hätte? Adimanth und Glaukon, welche bei weitem in dem größten Theile des Gesprächs bloße Wiederhaller sind, brauchten sich zwar auf ihre ewigen, »ja freilich, allerdings, nicht anders, warum nicht? so scheint's, ich sollte meinen,« und wie die kopfnickenden Formeln alle lauten, eben nicht lange zu bedenken; aber man muß doch wenigstens Athem holen, und da in diesen vollen sechzehn Stunden, die das Gespräch dauert, weder gegessen noch getrunken wurde, so kann man ohne Uebertreibung annehmen, der gute Sokrates müßte sich, trotz seiner kräftigen Leibesbeschaffenheit, dennoch zuletzt so ausgetrocknet[26] und verlechzt gefühlt haben, daß es ihm unmöglich gewesen wäre, das wundervolle Ammenmährchen von dem Armenier Er, womit Plato seinem Werke die Krone aufsetzt, in hörbaren Lauten hervorzubringen.

Laß uns indessen aus Gefälligkeit gegen den philosophischen Dichter über alle diese Unwahrscheinlichkeiten hinausgehen: aber wer kann uns zumuthen (höre ich einige meiner kunstliebenden Freunde sagen), daß wir die Urbanität so weit treiben, die Augen mit Gewalt vor einem andern Fehler zuzuschließen, der ganz allein hinreichend ist, jedes Kunstwerk, wie schön auch dieser oder jener einzelne Theil desselben seyn möchte, insofern es ein Ganzes seyn soll, verwerflich zu machen? Was würden wir von einem Baumeister sagen, der sich um die Richtigkeit und Schönheit der Verhältnisse der Seiten, Hallen, Säle, Kammern, Thüren und andrer einzelner Theile seines Gebäudes so wenig bekümmerte, daß er ohne Bedenken die rechte Seite kürzer als die linke, oder das Vorhaus größer machte als das Wohnhaus; einem hohen geräumigen Speisezimmer kleine Fenster und ungleiche Thüren gäbe, und den Gesellschaftssaal neben die Küche setzte? Oder wie würden wir den Maler loben, der, wenn er z.B. den Kampf des Hercules mit dem Achelous zum Hauptgegenstand eines Gemäldes genommen hätte, uns auf derselben Tafel die schöne Deianira unter einem Gewimmel von Mägden mit Trocknen ihrer Wäsche beschäftigt zeigte, und, zu mehrerer Unterhaltung der Liebhaber, auf beiden Seiten noch eine Aesopische Fabel, eine Gluckhenne mit ihren Küchlein neben einem sich stolz in der Sonne spiegelnden Pfauhahn anbringen,[27] und das alles so genau und zierlich auspinseln wollte, daß der Zuschauer, zweifelhaft ob der Fuchs und der Rabe, oder Deianira mit ihren Mägden, oder Hercules und Achelous, oder die Gluckhenne und der Pfau die Hauptfiguren des Stücks vorstellen sollten, über dem Betrachten der Nebendinge den eigentlichen Gegenstand immer aus den Augen verlöre? Wiewohl dieser Tadel sich auf eine, meiner Meinung nach, etwas schiefe Ansicht des Dialogs, als Kunstwerk betrachtet, gründet, und daher um vieles übertrieben ist, wie ich in der Folge zu zeigen Gelegenheit finden werde: so muß ich doch gestehen, daß das vor uns liegende Werk von einem auffallenden Mißverhältniß der Theile zum Ganzen, und von Ueberladung mit Nebensachen, welche die Aufmerksamkeit von der Hauptsache abziehen und nöthigern Untersuchungen den Weg versperren, nicht ganz frei gesprochen werden könne. Das Problem, warum es dem angeblichen Sokrates eigentlich zu thun ist, nämlich den wahren Begriff eines gerechten Mannes durch das Ideal eines vollkommenen Staats zu finden, macht kaum den vierten Theil des Ganzen aus; und ob ich schon nicht in Abrede bin, daß der Verfasser die häufigen Abschweifungen und Episoden mit der Hauptsache in Verbindung zu setzen gesucht hat, so ist doch unläugbar, daß einige derselben wahre Auswüchse und üppige Wasserschößlinge sind, andere hingegen ohne alle Noth so ausführlich behandelt werden, daß der Verfasser selbst das Hauptwerk darüber gänzlich zu vergessen scheint.

Indessen werden alle diese Fehler in meinen Augen zu Kleinigkeiten, sobald gefragt wird: wie dieses Platonische Machwerk in Ansehung dessen, worin die wesentlichste Schönheit[28] eines Dialogs besteht, beschaffen sey? – Vorausgesetzt, daß die Rede nicht von Unterweisung eines Knäbleins durch Frage und Antwort, sondern von einem Gespräch unter Männern, über irgend einen wichtigen, noch nicht hinlänglich aufgeklärten, oder verschiedene Ansichten und Auflösungen zulassenden Gegenstand ist, so läßt sich doch wohl als etwas Ausgemachtes annehmen: ein erdichteter Dialog sey desto vollkommener, je mehr er einem unter geistreichen und gebildeten Personen wirklich vorgefallenen Gespräch ähnlich sieht. In einer solchen gesellschaftlichen Unterhaltung stellt jeder seinen Mann; jeder hat seinen eigenen Kopf mitgebracht, hat seine Meinung, und weiß sie, wenn sie angefochten wird, mit starken oder schwachen, aber doch wenigstens mit scheinbaren, Gründen zu unterstützen. Wird gestritten, so wehrt sich jeder seiner Haut so gut er kann; oder sucht man einen Punkt, welcher allen noch dunkel ist, ruhig und gemeinschaftlich aufzuhellen, so trägt jeder nach Vermögen dazu bei. Glaubt einer die Wahrheit, welche gesucht wird, gefunden zu haben, so hört er die Zweifel, die ihm dagegen gemacht werden, gelassen an, und die daraus entstehende Erörterung dient entweder die gefundene Wahrheit zu bestätigen und anerkennen zu machen, oder den vermeinten Finder zu überführen, daß er sich geirret habe; und wäre auch einer in der Gesellschaft allen übrigen an Scharfsinn und Sachkenntniß merklich überlegen, so ist dieser so weit entfernt sich dessen zu überheben, das Wort allein führen zu wollen, und den andern nichts übrig zu lassen als immer Ja zu sagen, daß er ihnen sogar, falls sie ihre Zweifel und Einwürfe nicht in ihrer ganzen Stärke vorzutragen wissen, mit guter Art zu[29] Hülfe kommt, ihre Partei gegen sich selbst nimmt, und nicht eher Recht behalten will, bis alle Waffen, womit seine Meinung bestritten werden kann, stumpf oder zerbrochen sind. Unterhaltungen dieser Art sind es, die der Dialogendichter zu Mustern nehmen muß; aber auch dadurch hat er den Forderungen der Kunst noch kein Genüge gethan. Denn da er, als Künstler, sich nicht auf das Gemeine und Alltägliche beschränken, sondern das Schönste und Vollkommenste in jeder Art, oder genauer zu reden, ein in seinem Geiste sich erzeugendes Bild desselben, zum Vorbilde seines Werkes nehmen und dieses eben dadurch zum wahren Kunstwerk erheben soll: so kann mit dem größten Rechte von ihm erwartet werden, daß die gelungene Bestrebung, dem Ideal eines vollkommenen Dialogs so nahe als möglich zu kommen, in seinem ganzen Werke sichtbar sey. Ich darf nicht besorgen einer Ungerechtigkeit gegen unsern Dialogendichter beschuldiget zu werden, wenn ich sage, daß er bei der Ausarbeitung des Gespräches, wovon wir reden, eher an alles andere als an diese Pflicht gedacht habe; denn statt eines Gemäldes, worin Sokrates als die Hauptfigur in einer Gesellschaft, in welcher es ehrenvoll ist der erste zu seyn, erschiene, glauben wir den Homerischen Tiresias unter den Todten zu sehen.


»Er allein hat Verstand, die andern sind flatternde Schatten.«


In der That sind von der letzten Hälfte des zweiten Buchs an alle übrigen eine Art von stummen Personen; selbst Glaukon und Adimanth, an welche Sokrates seine Fragen richtet, haben größtentheils wenig mehr zu sagen, als was[30] sie, ohne den Mund zu öffnen, durch bloßes Kopfnicken, oder ohne sichtbar zu seyn, wie die körperlose Nymphe Echo, durch bloßes Widerhallen hätten verrichten können; und so ist nicht zu läugnen, daß dieser sogenannte Dialog eben so gut und mit noch besserm Recht ein Sokratischen Monolog heißen könnte.

Daß das erste und zweite Buch hiervon eine Ausnahme macht brachte die Natur der Sache mit sich. In einer Gesellschaft von mehr als zwölf Personen, will sich's nicht wohl schicken, daß einer sich der Rede sogleich ausschließlich bemächtige; und Plato benutzt diesen Umstand, seine Leser gleich anfangs durch das Gespräch zwischen Sokrates und dem alten Cephalus (dem Herrn des Hauses) über die Vortheile und Nachtheile des hohen Alters (die kleinste und schönste Episode dieses Werks) in Erwartung einer angenehmen und interessanten Unterhaltung zu setzen. Aber lange kann der Platonische Sokrates ein Gespräch dieser Art nicht ausdauern. Er muß etwas zu disputiren haben; und da ihm Cephalus keine Gelegenheit dazu gibt, macht er sie selbst, indem er ihn, man sieht nicht recht warum, durch eine verfängliche Frage in einen Streit über den richtigen Begriff der Gerechtigkeit zu ziehen sucht, und dadurch den eigentlichen Gegenstand dieses Dialogs, wiewohl ein wenig bei den Haaren, herbeizieht. Der schlaue Alte, der die Falle sogleich gewahr wird, macht sich, mit der Entschuldigung, daß seine Gegenwart beim Opfer nöthig sey, in Zeiten aus dem Staube; seinem Sohne Polemarchus auftragend, die Sache mit dem kampflustigen Herrn auszufechten. Der junge Mann zeigt sich dazu bereitwillig, und der Streit beginnt über den Spruch des Simonides,[31] »jedem das Seine geben ist gerecht,« welchen Polemarch behauptet, Sokrates hingegen mit verstellter Bescheidenheit und Ehrfurcht »vor einem so weisen und göttlichen Manne wie Simonides,« unter dem ironischen Vorwand er verstehe die Meinung dieser Worte nicht recht, nach seiner gewohnten Art bestreitet, indem er jenen durch unerwartete Fragen und Inductionen in die Enge zu treiben und zum Widerspruch mit sich selbst zu bringen sucht. Polemarch wehrt sich zwar eine Weile, sieht sich aber, da er zu rasch und hitzig dabei zu Werke geht und seinem Gegner an Spitzfindigkeit nicht gewachsen ist, ziemlich bald genöthigt, seine Meinung zurück zu nehmen. Ich gestehe, daß ich es, an Platons Stelle, nicht über mich hätte gewinnen können, weder den Sokrates mit so ströhernen Waffen fechten, noch den Sohn des Cephalus sich so unrühmlich überwunden geben zu lassen. Man könnte zwar zu seiner Entschuldigung sagen: bekanntermaßen habe Sokrates sich gegen die Sophisten und ihre Schüler aus Verachtung keiner schwerern Waffen bedient; da es ihm nicht darum zu thun gewesen sey, sie zu belehren, sondern ihrer zu spotten, sie in Widersprüche mit sich selbst zu verwickeln, und eben dadurch, daß sie sich so leicht verwirren und in Verlegenheit setzen ließen, sie selbst und die Zuhörer ihrer Unwissenheit und Geistesschwäche zu überweisen. Ich antworte aber: sobald Plato, der Schriftsteller, sich die Freiheit herausnahm, den nicht mehr lebenden Sokrates zum Helden seiner philosophischen Dramen und dialektischen Kampfspiele zu wählen, und ihm zu diesem Ende eine subtile, schwärmerische, die Gränzen des Menschenverstandes überfliegende Philosophie, die nichts[32] weniger als die seinige war, in den Busen zu schieben; mit Einem Wort, sobald er sich erlaubte aus dem wirklichen Sokrates einen idealischen zu machen, würde es ihm sehr wohl angestanden haben, auch die einzigen Züge, die er ihm lassen mußte, wenn er sich selbst noch ähnlich sehen sollte, die Art wie er die Ironie und die Induction zu handhaben pflegte, zu idealisiren; ich will sagen, sie mit aller der Feinheit und Kunst zu behandeln, deren sie bedarf, wenn sie für eine Methode gelten soll, dem gemeinen Menschenverstand den Sieg über sophistische Spitzfindigkeit und täuschende Gaukelei mit Aehnlichkeiten, Wortspielen und Trugschlüssen zu verschaffen. Dieß, denke ich, müßte ihm Pflicht seyn, wenn er das An denken seines ehrwürdigen Lehrers wirklich in Ehren hielte, und ich sehe nicht, womit er zu entschuldigen wäre, daß er in diesem Wortgefechte mit Polemarch gerade das Gegentheil thut. Oder muß es nicht dem blödesten Leser in die Augen springen, daß sein vorgeblicher Sokrates den Spruch des Simonides auf eine Art bestreitet, die den Leser ungewiß läßt, ob der Sophist Sokrates den ehrlichen Polemarch, oder der Sophist Plato den ehrlichen Sokrates zum Besten haben wolle? Denn (was wohl zu bemerken ist) Polemarch erscheint in diesem Streit zwar als ein ziemlich kurzsinniger und im Denken wenig geübter Mann, aber nichts an ihm läßt uns argwohnen, daß es ihm nicht um Wahrheit zu thun sey; und der Satz des Simonides, wenn er gleich den höchsten und reinsten Begriff dessen was gerecht ist nicht erreicht, drückt doch eine so allgemein für Wahrheit anerkannte Maxime aus, daß man nicht begreift, wie Platons Sokrates sich erlauben[33] kann, einen so platten langweiligen Scherz damit zu treiben. Oder sollte Plato im Ernst glauben, die Erklärung des Simonides werde dadurch der Unrichtigkeit überwiesen, »daß einer z.B. Unrecht hätte, wenn er ein bei ihm hinterlegtes Schwert dem Eigenthümer auf Verlangen wieder gäbe, falls dieser wahnsinnig wäre, oder der Depositor gewiß wüßte, daß er seinen Vater damit ermorden wolle?« Denn wer sieht nicht, daß hier bloß mit den verschiedenen Bedeutungen, die das Wort gerecht im gemeinen Leben hat, gespielt wird; daß die Fälle, worin es nicht recht, d.i. weder gesetzmäßig noch klug, schicklich und rathsam ist, das Anvertraute dem Eigenthümer wieder zu geben, Ausnahmen sind, die aus dem Zusammenstoß verschiedener gleich heiliger Pflichten entstehen; und daß daher unter verschiedenen Umständen und in verschiedener Ansicht eben dasselbe recht und unrecht seyn kann? Daß Sokrates dieß nicht zu wissen scheint – und daß der gute Polemarch, sobald ihm die Ausnahme als ein Einwurf vorgehalten wird, gleich so erschrocken, als würde ihm der Kopf der Gorgone vor die Augen gehalten, zurückspringt, und den Worten des Simonides flugs eine andere Deutung gibt, die er gleichwohl eben so wenig gegen die Sophistereien und Ironien des großen dialektischen Kampfhahns zu behaupten weiß, – alle diese Antinomien11 gegen die Gesetze der gesunden Vernunft sind, ich muß es gestehen, etwas hart zu verdauen, wiewohl sie aufhören in Erstaunen zu setzen, wenn man gesehen hat, daß das ganze Buch von ihres gleichen wimmelt. Und gleichwohl dürft' es jedem Leser, der gerade keinen besondern Sinn für die Reize dieser Art[34] von Spaßmacherei hat, schwer fallen, an dem göttlichen Plato nicht irre zu werden, wenn er auf die platten, und in eine Menge kleiner, zum Theil ganz müßiger Quästiunkeln aufgelösten Inductionen stößt, wodurch der treuherzige Polemarch sich vom Sokrates weiß machen läßt: aus seiner Hypothese, »jedem das Seine geben sey so viel als seinen Freunden Gutes und seinen Feinden Böses thun,« folge ganz natürlich, der gerechteste Mann sey der größte Dieb, und die Gerechtigkeit sey nur insofern etwas Gutes als man keinen Gebrauch von ihr mache. Wer kann sich einbilden, ein so scharfsinniger geometrischer Kopf wie Plato habe sich selbst über die Armseligkeit solcher Beweise, die zum Theil auf bloßen Wortspielen beruhen, täuschen können, und sehe nicht so gut als wir, daß Polemarch der blödsinnigste Knabe von der Welt gewesen seyn müßte, wenn er sich in so groben Schlingen hätte fangen lassen? Er muß also eine besondere Absicht dabei gehabt haben; und was konnte diese anders seyn, als seinem Pseudo-Sokrates, um ihm desto mehr Aehnlichkeit mit dem wahren zu geben, eine Eirons12-Larve umzubinden; und die bekannte Manier im Dialogisiren, welche dem ächten Sokrates eigen war und vom Xenophon in seinem Symposion so schön dargestellt wird, auf eine Art nachzuahmen, die zu jener Larve paßt, und gerade deßwegen, weil sie übertrieben ist, dem großen Haufen und den Fernestehenden die Aehnlichkeit seines Zerrbildes mit dem Original (dessen feinste Züge im Gedächtniß der Meisten schon ziemlich abgebleicht sind) desto auffallender macht?

Unter die ziemlich häufig in diesem Dialog vorkommenden[35] Beispiele, daß Plato, sobald er will, die dramatische Wahrheit und das, was jeder Person zukommt, sehr gut zu beobachten weiß, rechne ich die Art, wie er den Sophisten Thrasymachus auf den Kampfplatz springen läßt, und überhaupt, die wahrhaft Attische Eleganz und Feinheit, womit er die eitle Selbstgefälligkeit und den neckenden, naserümpfenden, nicht selten in beleidigende Grobheit übergehenden Stolz des plumpen Sophisten mit der kaltblütigen Urbanität und ironischen Demuth des seiner spottenden Sokrates contrastiren läßt. Nur Schade, daß der letztere auch hier seine Würde nicht durchaus so behauptet, wie der Anfang uns erwarten macht. Man könnte zwar sagen, es zeige sich in dem ganzen ersten Buche, daß es dem Sokrates noch kein rechter Ernst sey; daß er bloß, wie ein Citherspieler der sich hören lassen will, sein Instrument zu stimmen und zu probiren scheine, wiewohl er, auch indem er nur nachlässig auf den Saiten herumklimpert, schon zu erkennen gibt was man von ihm zu erwarten habe. Es mag seyn, daß Plato diesen Gedanken hatte; indessen möcht' ich doch behaupten, daß die Disputation mit dem Sophisten Thrasymachus unter die ausgearbeitetsten Theile des ganzen Werks gehöre, und für ein Meisterstück in der ächtsokratischen Manier, einen streitigen Punkt aufs Reine zu bringen, gelten könnte, wenn Sokrates seinem eigenen Charakter immer getreu bliebe und – nachdem er den Sophisten so weit getrieben, daß er geradezu behaupten muß, die Ungerechtigkeit sey Weisheit, und die Gerechtigkeit also das Gegentheil, – sich nicht, aus wirklicher oder verstellter Verlegenheit wie er ihn widerlegen wolle, in eine[36] weitausgeholte, spitzfindige Manier mit unbestimmten, schillernden und doppelsinnigen Begriffen und Sätzen, wie mit falschen Würfeln, zu spielen, verirrte, d.i. wenn der verkappte Sokrates, der seine Rolle bisher bis zum Täuschen gespielt hatte, nicht auf einmal in den leibhaften Plato zurückfiele, und am Ende noch zehnmal mehr Sophist würde als sein Gegner selbst. Es ist schwer zu begreifen, wie Plato sich in solchen Spielereien so sehr gefallen, oder wie er glauben kann, er habe seinen Gegner zu Boden gelegt, wenn er durch eine lange Reihe nichts beweisender Gleichungen zuletzt das Gegentheil von dem, was jener behauptet hatte, herausbringt. Das Allerseltsamste aber ist dann doch, daß in diesem ganzen Schattengefechte beide streitende Parteien, indem sie einen bestimmten philosophischen Begriff von der Gerechtigkeit suchen, den popularen, auf das allgemeine Menschengefühl gegründeten Begriff immer stillschweigend voraussetzen, ohne es gewahr zu werden. Es ist als ob die närrischen Menschen den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen könnten; sie suchen was ihnen vor der Nase liegt, und was sie bloß deßwegen nicht finden, weil sie sich in einer Art von Schneckenlinie immer weiter davon entfernen. Sie würden gar bald einig geworden seyn, wenn Sokrates, statt der kleinen spitzfindigen und hinterstelligen Fragen, die ihm schon Aristophanes vorwarf, geradezu gegangen, und das, was alle Menschen, vermöge eines von ihrer Natur unzertrennlichen Gefühls, von jeher Recht und Unrecht nannten, in seiner ersten Quelle aufgesucht hätte. Leicht wär' es dann gewesen, das, was Recht ist, von dem, was Wahn oder Gewalt zu Recht[37] setzen, zu unterscheiden; die Streitenden hätten einander nicht lange mißverstehen können, und wären in der Hälfte der Zeit einig geworden, welche Platons sophistisirender Sokrates verschwendet, um – am Ende selbst gestehen zu müssen, daß – nach allem, was über die albernen Fragen: ob die Gerechtigkeit Tugend oder Untugend, Weisheit oder Thorheit, nützlich oder schädlich sey? seit mehr als einer langen Stunde gewitzelt, ironisirt und in die Luft gefochten worden, – die große Frage, was ist Gerechtigkeit? aus seiner Schuld noch immer unausgemacht geblieben sey.

Wie Sokrates, nach einem solchen Geständniß, zu Anfang des zweiten Buchs sagen kann: »er habe geglaubt das Gespräch sey nun zu Ende,« weiß ich nicht; denn daß Thrasymachus schon seit einer ziemlichen Weile, mit dem hoffärtigen Anstand einer Kämpfers, der seinen Gegner nicht für gut genug hält ihn seine Ueberlegenheit fühlen zu lassen, sich zurückzieht, machte zwar dem Spiegelgefecht mit ihm ein Ende; aber die Untersuchung selbst war so wenig beendigt, daß sie nicht einmal recht angefangen hatte. In der That hatte Thrasymachus seine Sache so schlecht geführt, daß man zur Entschuldigung des Sokrates sagen könnte: er habe es nicht der Mühe werth gehalten Ernst gegen einen Antagonisten zu gebrauchen, den man schon mit Strohhalmen in die Flucht jagen konnte. Ob Plato diesem Sophisten, indem er ihn zu einem eben so hohlen als aufgeblasenen Strohkopf macht, Recht oder Unrecht gethan habe, mag dahingestellt seyn; genug daß durch die Art, wie der Streit bisher geführt wurde, für die gute Sache der Gerechtigkeit, welche doch[38] nach Platons Absicht in diesem Dialog einen entschiedenen Sieg über ihre Gegner erhalten sollte, wenig oder nichts gewonnen war. Das Werk mußte also ernsthafter angegriffen werden. Um dieses zu bewerkstelligen, stellt Plato in seinen Brüdern Glaukon und Adimanthus zwei neue Personen auf, welche bisher noch keinen thätigen Antheil an dem Gespräche genommen hatten; und man muß gestehen, daß er sein Möglichstes gethan hat, die Rolle, die er ihnen im zweiten Buche zu spielen gibt, glänzend und ehrenvoll zu machen. Der erste von ihnen, Glaukon, tritt zwar als Verfechter der Ungerechtigkeit auf, deren Sache Thrasymachus (wie er meint) allzu lässig vertheidigt und ohne Noth viel zu früh aufgegeben habe; verwahrt sich aber mit vieler Wärme gegen den Verdacht, als ob er, indem er alle seine Kräfte zu Gunsten der Ungerechtigkeit aufbiete, aus eigener Ueberzeugung und gleichsam aus der Fülle des Herzens rede. Also bloß um den Gegnern der Gerechtigkeit alle Möglichkeit der Einwendung, als ob ihre Gründe nicht in ihrer ganzen Stärke geltend gemacht worden wären, abzuschneiden, und um den Sokrates in die Nothwendigkeit zu setzen, sich der guten Sache in vollem Ernst anzunehmen, nimmt Glaukon das Wort, und macht sich anheischig: vor allen Dingen zu erklären, was nach der Meinung derjenigen, für welche Thrasymachus gesprochen habe, die Gerechtigkeit sey und woher sie ihren Ursprung nehme; sodann zu zeigen, daß diejenigen, die sich der Gerechtigkeit befleißigen, es nicht deßwegen thun, weil sie in ihren Augen ein Gut, sondern weil sie ein nothwendiges Uebel ist; und endlich drittens zu beweisen, daß[39] diese Leute Recht haben; sintemal die Erfahrung bezeuge, daß das Leben des Ungerechten in der That glücklicher sey als des Gerechten. »Nicht als ob ich selbst diese Meinung hegte,« sagt Glaukon; »aber doch stoßen mir zuweilen Zweifel auf, da ich täglich von Thrasymachus und zehntausend andern so viel dergleichen hören muß, daß mir die Ohren gellen, hingegen mir noch niemand, so wie ich es wünschte, bewiesen hat, daß der Gerechte sich im Leben besser befinde als der Ungerechte.«

Ich zweifle ob unser alter Freund Hippias selbst diese Lieblingslehre der Sophisten (die übrigens in der Geschichte der Menschen und der Erfahrung nur allzu gegründet ist) deutlicher und scheinbarer hätte vortragen und zierlicher zusammenfassen können, als in der kleinen Rede geschehen ist, welche Plato seinem Bruder Glaukon hier in den Mund legt. Ob aber gleichwohl durch die unserm Philosophen eigene Art, alles aufs Höchste zu treiben, den Behauptern der Lehre, »daß der Unterschied zwischen dem, was die Menschen Recht und Unrecht nennen, sich bloß auf einen durch die Noth aufgedrungenen Vertrag gründe,« nicht einiges Unrecht geschehe, dürfte wohl die Frage seyn. »Unrecht thun« (sagt Glaukon) »ist, nach der gemeinen Meinung, an sich selbst, oder seiner Natur nach gut, Unrecht leiden an sich selbst, übel. Aber aus dem Unrecht leiden entsteht mehr und größeres Unheil, als Gutes aus dem Unrecht thun. Nachdem nun die Menschen einander lange Unrecht gethan und Unrecht von einander erlitten, glaubten die Schwächern, – eben darum, weil die Schwäche, um derentwillen sie alles[40] Unrecht von den Stärkern leiden müssen, sie unvermögend machte, das Vergeltungsrecht an jenen auszuüben, – sich nicht besser helfen zu können, als indem sie in Güte mit einander übereinkämen weder Unrecht zu thun noch zu leiden.« – Auf diese Weise, meint er, seyen die Gesetze und Verträge entstanden, und so habe das durchs Gesetz Befohlene oder Verbotene die Benennung des Rechts oder Unrechts erhalten. Dieß sey also der Ursprung der Gerechtigkeit, und so stehe sie, ihrem Wesen nach, zwischen dem Besten und dem Schlimmsten in der Mitte; denn das Beste wäre, ungestraft Unrecht zu thun, das Schlimmste Unrecht zu leiden ohne sich rächen zu können. Die Gerechtigkeit werde also nicht geschätzt weil sie etwas Gutes an sich sey, sondern bloß insofern sie den Schwächern zur Brustwehr gegen die Beeinträchtigungen der Stärkern diene. Wer sich folglich stark genug fühle, dieser Brustwehr nicht zu bedürfen, werde sich wohl hüten sich in Verträge, andern kein Unrecht zu thun um keines von ihnen zu leiden, einzulassen; denn da er das letztere nicht zu befürchten habe, so müßte er wahnsinnig seyn, wenn er sich des Vortheils, den Schwächern ungestraft Unrecht zu thun, freiwillig begeben wollte.

Ich kann mich irren, aber so weit ich die Sophisten, deren System Plato in diesem zweiten Buche in seiner ganzen Stärke vorzutragen unternommen hat, kenne, scheint er mir, es sey nun vorsetzlich oder unvermerkt, etwas von seiner eigenen Vorstellungsweise in die Darstellung der ihrigen eingemischt zu haben. Ich wenigstens zweifle sehr, ob es jemals einem Menschen eingefallen ist, zu behaupten: Unrecht[41] thun sey gut an sich. Und was versteht Glaukon, aus dessen Munde Plato hier spricht, unter Unrecht thun? Wenn der Unterschied zwischen Recht und Unrecht erst durch Verträge und verabredete Gesetze bestimmt werden muß, so gibt es in dem Zustande der natürlichen Freiheit, der den gesellschaftlichen Vereinigungen vorhergeht, kein Unrecht. Oder spielt Plato, wie er so gern thut, auch hier mit dem Doppelsinn des Worts adikein, welches sowohl beleidigen, als Unrecht thun bedeutet? Im Stande der natürlichen Freiheit (den ich lieber den Stand der menschlichen Thierheit nennen möchte) beleidige ich den Schwächern, dem ich die Speise, womit er seinen Hunger stillen will, mit Gewalt wegnehme; im Stande der politischen Gesellschaft thue ich ihm dadurch Unrecht, weil das Gesetz alle Beleidigungen verbietet. So verstehen es meines Wissens, die Sophisten; und wiewohl sie behaupten, daß es dem Menschen, welcher Macht genug hat alles zu thun was ihm beliebt und gelüstet, nicht unrecht sey die Schwächern zu berauben oder zu unterjochen, sobald er Vortheil oder Vergnügen davon zu ziehen vermeint: so hat doch schwerlich einer von ihnen jemals im Ernste behauptet, Unrecht thun, oder andere beleidigen sey schon an sich selbst, ohne Einschränkung, Bedingung oder Rücksicht auf einen dadurch zu gewinnenden Vortheil, gut, folglich recht thun an sich selbst übel. Sie kennen überhaupt kein Gut noch Uebel an sich, sondern betrachten alle Dinge bloß wie sie in der Wirklichkeit sind, d.i. wie sie allen Menschen, in Beziehung auf sich selbst oder auf den Menschen überhaupt, unter gegebenen Umständen scheinen. Im Stande der freien Natur[42] erlaubt sich (sagen sie) der Stärkere alles, wozu er durch irgend ein Naturbedürfniß oder irgend eine Leidenschaft, Lust oder Unlust, getrieben wird; aber in diesem Stande gibt es, genau zu reden, keinen Stärkern als für den Augenblick; denn der Stärkste wird sogleich der Schwächste, sobald mehrere über ihn kommen, wiewohl er jedem einzelnen überlegen wäre. Jener angebliche Naturstand ist also ein allgemeiner Kriegsstand, bei welchem sich am Ende, wo nicht alle, doch gewiß die meisten so übel befinden, daß sie sich entweder in Güte zu einem gesellschaftlichen Leben auf gleiche Bedingungen verbinden, oder irgend einem Mächtigen gezwungen unterwerfen müssen, falls sie sich ihm nicht aus Achtung und Zutrauen, mit oder ohne Bedingung, freiwillig untergeben. In allen dreien Fällen sind Gesetze, welche bestimmen was sowohl den Regierenden oder Machthabern als den Regierten oder Unterworfenen recht und unrecht ist, nothwendig; denn sogar ein Tyrann, der alles kann was ihn gelüstet, wird sich, wenn er Verstand genug hat sein eigenes Bestes zu beherzigen, nicht alles erlauben was er kann. Indessen ist nicht zu läugnen, daß der Grundsatz der Sophisten, »die Gerechtigkeit (insofern die Erfüllung der bürgerlichen Gesetze darunter verstanden wird) sey ein Zaum, den bloß die Nothwendigkeit den Menschen über den Hals geworfen habe, und von welchem jedermann, sobald er es ungestraft thun könne, sich loszumachen suche,« sich als Thatsache auf die allgemeine Erfahrung gründet, und daß die Sokratesse (wofern es jemals mehr als Einen gegeben hat) noch seltner als die weißen Raben sind. Diese Thatsache ist[43] im Lehrbegriff der Sophisten eine natürliche Folge des Beweggrundes, der die Menschen aus dem freien Naturstande (wo die Kraft allein entschied, und, weil es noch kein Gesetz gab, jeder sich alles erlauben durfte was er auszuführen vermögend war) heraustrieb, und in den Stand des politischen Vereins zu treten nöthigte. Jene unbeschränkte Freiheit würde von den Menschen als ihr höchstes Gut angesehen werden, wenn sie nicht, eben darum weil sie nur von dem Stärkern ausgeübt werden kann, die unsicherste Sache von der Welt wäre. Denn welcher Mensch kann sich in einem Stande, wo Einer immer gegen Alle und Alle gegen Einen sind, nur einen Tag darauf verlassen, der Stärkere zu bleiben? Die eiserne Nothwendigkeit zwingt sie also, wider ihren Willen, zum gesellschaftlichen Verein, als dem einzigen Mittel, ihr Daseyn und jeden daher entspringenden Genuß unter Gewährleistung der Gesetze in Sicherheit zu bringen. Natürlicherweise aber behält sich jeder stillschweigend vor, die Gesetze (die ihm nur, insofern sie ihn gegen andere schützen, heilig, aber, insofern sie seiner eigenen Freiheit Schranken setzen, verhaßt sind) so oft zu übertreten, als er es mit Sicherheit thun kann. Diesem nach wäre denn bei allen, welchen es an Macht gebricht sich öffentlich und ungescheut über Recht und Unrecht wegzusetzen, kein anderer Unterschied zwischen dem gerechten und ungerechten Manne, als daß jener sich nie ohne eine Larve der Gerechtigkeit sehen läßt, die er sich so geschickt anzupassen weiß, daß sie sein eigenes Gesicht zu seyn scheint; dieser hingegen so plump und unvorsichtig ist, sich immer über der That[44] ertappen zu lassen. Darin, daß keiner sich etwas, das ihn gelüstet, versagen möchte, und jeder wo möglich alles zu haben wünscht, sind sie einander beide gleich.

Da dieß in der That hart klingt, so hält sich Glaukon, im Namen derjenigen, deren Sachwalter er vorstellt, zum Beweise verbunden, und führt ihn sehr sinnreich, vermittelst der Voraussetzung, daß beide, der Gerechte und Ungerechte, wie jener aus dem Herodot bekannte Lydier13 (dessen fabelhafte Geschichte Glaukon hier etwas anders als Herodot erzählt) im Besitz eines unsichtbar machenden Ringes wären. Ein solcher Ring würde, dünkt mich, als Probierstein gebraucht allerdings das untrüglichste Mittel seyn, den wahrhaft rechtschaffenen Mann von dem Heuchler zu unterscheiden; aber zu dem Gebrauch, den Glaukon von ihm macht, scheint er nicht zu taugen. Denn indem dieser ganz herzhaft annimmt, daß der Gerechte, sobald er sich im Besitz eines solchen Ringes sähe, nicht um ein Haar besser als der Ungerechte seyn, und alle möglichen Bubenstücke, wozu Lust, Habsucht oder andere Leidenschaften ihn reizen könnten, eben so unbedenklich verüben würde als jener, setzt er als etwas Ausgemachtes voraus, was erst bewiesen werden sollte. Wenn auch wir andern gewöhnlichen Leute so überschwänglich bescheiden seyn wollten, einen Zweifel in uns selbst zu setzen, ob wir wohl den Versuchungen eines solchen Zauberringes widerstehen könnten; wer darf nur einen Augenblick zweifeln, daß ein Sokrates durch den Besitz desselben weder an Macht, noch Geld, noch sinnlichen Genüssen reicher geworden wäre?

Indessen, wofern es auch an einzelnen Ausnahmen nicht[45] fehlen sollte, so ist doch nur gar zu wahrscheinlich, daß unter Tausend, die für gute ehrliche Leute gelten, weil sie weder Muth noch Macht haben sich in ihrer wahren Gestalt zu zeigen, nicht Einer wäre, der mit dem Ring des Gyges nicht die vollständigste Befreiung von allem Zwang der Gesetze zu erhalten glauben würde. Glaukon (der noch immer im Namen derjenigen spricht, denen Recht und Unrecht für bloße Satzung des gesellschaftlichen Vereins und der Machthaber in demselben gilt) ist seiner Sache so gewiß, daß er geradezu versichert: jedermann sey so völlig davon überzeugt, daß die Ungerechtigkeit dem Ungerechten vortheilhafter sey als die Gerechtigkeit, daß, sobald jemand glaube er könne mit Sicherheit unrecht thun, er es nicht nur ohne alles Bedenken thun werde, sondern sich für den größten aller Thoren und Dummköpfe halten würde, wenn er es nicht thäte. Um sich, sagt er, zu überzeugen, daß einem verständigen Menschen nicht zuzumuthen sey, anders zu denken und zu handeln, brauche es nichts als das Loos zu erwägen, das der Gerechte und Ungerechte im Leben unter den Menschen zu gewarten habe.

So weit hatte Plato seinen Glaukon die Lehre der Sophisten, die er nicht ohne Grund die gemeine Meinung nennt, ziemlich treu und unverfälscht vortragen lassen; aber nun schiebt er ihm wieder unvermerkt seine eigene Vorstellungsart unter, indem er ihn aus der wirklichen Welt, aus welcher sich jene nie versteigen, auf einmal in seine eigene Ideenwelt versetzt, unter dem Vorwand: das Problem, wovon die Rede ist, könne auf keine andere Weise ganz rein aufgelöset werden. Wir wollen sehen![46]

Denken wir uns (sagt der platonisirende Glaukon) um uns den Unterschied zwischen dem gerechten und ungerechten Mann völlig anschaulich zu machen, beide in ihrer höchsten Vollkommenheit, so daß dem Ungerechten nichts was zur Ungerechtigkeit, dem Gerechten nichts was zur Gerechtigkeit gehört, abgehe. Es ist also, um mit dem Ungerechten den Anfang zu machen, nicht genug, daß er immer und bei jeder Gelegenheit so viel Unrecht thut als er kann und weiß; wir müssen ihm auch noch erlauben, daß er, indem er nichts als Böses thut, sich immer den Schein des Gegentheils zu geben und die Meinung von sich fest zu setzen wisse, daß er der rechtschaffenste Mann von der Welt sey; und da es, mit allem dem, doch begegnen könnte, daß auf eine oder die andere Weise etwas von seinen Bubenstücken an den Tag käme, so muß er auch noch Beredsamkeit genug, um sich in den Augen der Menschen völlig rein zu waschen, und im Nothfall, so viel Muth, Vermögen und Anhänger besitzen, als nöthig ist um Gewalt zu brauchen, wenn List und Heuchelei nicht hinreichen will. Diesem Bösewicht nun stellen wir den Gerechten gegen über, einen guten, ehrlichen, einfachen Biedermann, der was er ist nicht scheinen will, sondern sich begnügt es zu seyn. Damit wir aber recht gewiß werden, daß ihm nichts zur vollkommnen Rechtschaffenheit abgeht, ist schlechterdings nöthig, daß wir ihn in der öffentlichen Meinung zum Gegentheil dessen machen, was er ist, denn wenn er auch rechtschaffen zu seyn schiene, würden ihm Ehrenbezeugungen und Belohnungen nicht fehlen, und da würde es ungewiß seyn, ob er das, was er schiene, wirklich und aus[47] reiner Liebe zur Gerechtigkeit, oder nur der damit verbundenen Vortheile wegen sey. Wir müssen ihm also alles nehmen, bis ihm nichts als die nackte Rechtschaffenheit übrig bleibt, und ihn, mit Einem Worte, so setzen, daß er in allem als das Gegentheil des Ungerechten dastehe. Dieser ist ein ausgemachter Bösewicht und scheint der unbescholtenste Biedermann zu seyn; jener ist sein ganzes Leben durch der rechtschaffenste aller Menschen, und wird für den größten Bösewicht gehalten; geht aber, ohne sich seinen schlimmen Ruf und die Folgen desselben im geringsten anfechten zu lassen, seinen Weg fort, und beharret, wiewohl mit jeder Schande des verworfensten Buben belastet, unbeweglich bei seiner Rechtschaffenheit bis in den Tod. Man kann sich leicht vorstellen, wie es diesen beiden idealischen Wesen, wenn sie verkörpert und ins menschliche Leben versetzt würden, ergehen müßte. »Der Gerechte, sagen die Lobredner der Ungerechtigkeit, wird gegeißelt, auf die Folter gespannt und in Ketten gelegt werden: man wird ihm die Augen ausbrennen, und nachdem er alle nur ersinnlichen Mißhandlungen erduldet hat, wird er ans Kreuz geschlagen werden, und nun zu spät einsehen, daß man zwar rechtschaffen scheinen, aber kein Thor seyn muß es wirklich zu seyn. Wie herrlich ist hingegen das Loos des Ungerechten, der die Klugheit hat, die öffentliche Meinung auf seine Seite zu bringen, und während er sich unter der Larve der Tugend ungestraft alles erlauben kann, für einen rechtschaffnen und verdienstvollen Mann gehalten zu werden? Die höchsten Ehrenstellen im Staat erwarten seiner; er kann heirathen wo er will, und die Seinigen ausgeben[48] an wen er will; jedermann rechnet sich's zur Ehre in Verhältniß und Verbindung mit ihm zu kommen; ihm, dem kein Mittel zu seinem Zweck zu schlecht ist, schlägt alles zum Vortheil an; bei allen Gelegenheiten weiß er andern den Rank abzulaufen, kurz er wird ein reicher und gewaltiger Mann, und ist also im Stande, seinen Freunden nützlich zu seyn, seinen Feinden zu schaden, und die Götter selbst durch häufige Opfer und reiche Weihgeschenke zu gewinnen, so daß er ihnen lieber seyn wird, als der Gerechte, der nichts zu geben hat.«

Ich weiß nicht wie vielen Dank eure Sophisten dem göttlichen Plato für diese Darstellung ihrer Lehre von den Vortheilen der Ungerechtigkeit über die Gerechtigkeit wissen werden; gewiß ist wenigstens, daß es keinem von ihnen je eingefallen ist, die Frage auf diese Spitze zu stellen, und einen gerechten Mann, wie nie einer war, noch seyn wird noch seyn kann, zu erdichten, um durch Vergleichung des glücklichen Looses des Ungerechten mit dem jammervollen Leben und schrecklichen Ende dieses Rechtschaffnen die Vorzüge der Ungerechtigkeit in ein desto größeres Licht zu setzen. Ich, meines Orts, habe gegen das Ideal des Platonischen Gerechten zwei Einwendungen. Erstens liegt es keineswegs in der Idee eines vollkommen rechtschaffenen Mannes, daß er nothwendig ein Bösewicht scheinen müsse; im Gegentheil, es ist ihm nicht nur erlaubt zu scheinen was er ist, sondern die Rechtschaffenheit selbst legt es ihm sogar als Pflicht auf, bösen Schein, so viel möglich, zu vermeiden. Auch sehe ich nicht, wie er es ohne[49] Nachtheil sowohl seiner Rechtschaffenheit als seines Menschenverstandes anfangen wollte, um von allen den Menschen, welche tägliche Augenzeugen seines Lebens sind, immer verkannt, gehaßt und verabscheuet zu werden. Alle Umstände, alle Menschen, die ganze Natur müßten sich auf die unbegreiflichste Art gegen ihn verschworen, und er selbst müßte sich, unbegreiflicherweise, unendliche Mühe gegeben haben, seinen Tugenden und guten Handlungen die Gestalt des Lasters und Verbrechens zu geben. Ich zweifle sehr, ob ein einziges Beispiel aufzustellen sey, daß ein so guter, redlicher und gerechter Mann, wie ihn Plato setzt, ohne alle Freunde geblieben, und von Niemand gekannt, geliebt und geschätzt worden wäre. Ueberdieß ließe sich noch fragen, ob irgend ein menschenähnliches Wesen, ohne ein Gott zu seyn, die Probe, auf welche unser Ideendichter seinen Gerechten stellt, zu bestehen, und alle Schmach und Marter, die er zu Bewährung seiner Tugend über ihn zusammenhäuft, auszuhalten vermöchte. Dieses Ideal ist also, von welcher Seite man es ansieht, ein Hirngespenst und zu der Absicht, wozu Plato es erdichtet hat, ganz unbrauchbar. Denn solcher ungerechter Menschen, wie er bei dieser Vergleichung annimmt, hat es zwar in der wirklichen Welt von jeher nur allzu viele gegeben, einen solchen Gerechten hingegen nie. Wenn sich also auch aus der Vergleichung des einen mit dem andern die Folge ziehen ließe, welche Glaukon daraus zieht, so würde doch dadurch nicht bewiesen seyn, daß die Vortheile, welche der wirkliche Ungerechte von seiner Heuchelei erntet, wenn alles, was bei einer scharfen Berechnung in Anschlag kommen muß, ehrlich und[50] redlich angesetzt wird, denen, die der wirkliche Gerechte durch seine Rechtschaffenheit genießt, vorzuziehen wären.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 24, Leipzig 1839, S. 22-51.
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