36.
Lais an Aristipp.

[229] Welcher ungnädigen Nymphe bist du zur Unzeit in den Weg gekommen, Aristipp? Wüßte ich nicht, wie wenig das[229] war, das dich in so wunderbare Seelenzuckungen zu setzen scheint, und daß ein Löffel voll Wein, sey es auch vom besten Cyprier, niemanden berauschen kann, du hättest mich beinahe glauben gemacht, es sey dein Ernst. Aber vermuthlich wolltest du nur einen kleinen Versuch machen, wie weit du es in der Manier des jungen Kleombrotus bringen könntest. Ich würde dich beklagen, wenn du wirklich so wenig ertragen könntest als du vorgibst. Gut indessen, daß du mich gewarnt hast. Ich werde mir's gesagt seyn lassen, und mich wohl hüten, dich glücklicher zu machen als dir zuträglich ist. Wenn ein Tröpfchen Nektar in einem Becher voll Wasser dir schon so stark zu Kopfe steigt, was für Unheil würde eine ganze Trinkschale unvermischten Göttertranks in deinem Gehirn anrichten?

Ernstlich zu reden, lieber Aristipp, muß ich fast vermuthen, daß du mich über die kleinen Untreuen, wozu dich die schöne Timandra, vielleicht ohne Absicht und Wissen, verleitet, sicher machen willst. Wenn das deine Meinung wäre, mein Freund, so hättest du das unrechte Mittel ergriffen. Bleibe, wenn ich dir rathen darf, in deinem gewöhnlichen Ton, und verlass' dich wegen des Uebrigen auf mich. Ich weiß wie viel man euch zu gut halten muß, und bei mir bist du vor den zwei häßlichsten Weiblichkeiten, der Eifersucht und der Rachlust, sicher. Ich werde immer ehrlich und aufrichtig mit dir verfahren, aber ich erwarte auch das Nämliche von dir.

Syrakus, sagt man, hat die schönsten Weiber in ganz Griechenland. Findest du es wirklich so? Sage mir gelegentlich ein Wort hierüber, und melde mir zugleich, wie meine[230] neue Freundin mit ihrem sophistischen Liebhaber, oder wie man es nennen muß, haushält? Etwas Kunst wird sie nöthig haben, wenn sie so viel Gewalt über ihn behalten will, als schlechterdings nöthig ist, wenn ein Mann sich glücklich durch uns fühlen soll. Doch sie ist in einer guten Schule gewesen, und die ehemalige Geliebte des Alcibiades kann des Raths einer Anfängerin nicht bedürfen. Wenn ich sie recht gesehen habe, so ist viel feiner Sinn, um nicht Schlauheit zu sagen, unter der naiven Einfalt versteckt, die ihr eine so eigene Anmuth gibt, und desto sichrer wirkt, weil sie mit Geist und Güte des Herzens verbunden ist. Sie ist wirklich ein liebenswürdiges Weib, und ich erlaube dir, ihr so gut zu seyn als dein Freund Hippias es gerne sehen mag.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 229-231.
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