64.
Kleonidas an Aristipp.

[365] Ich bin mit meinem Geschäfte eher zu Stande gekommen als ich hoffen durfte. Beinahe alle Freunde des göttlichen Sokrates, die seine gerichtliche Ermordung und die Furcht vor den Verfolgungen seiner Feinde von Athen verscheucht hatte, haben sich nach und nach wieder zusammengefunden, und man begegnet ihnen mit so vieler Achtung, als ob man das an ihrem Meister begangene Unrecht dadurch zu vergüten suchte. Es gibt wohl sehr wenige Athener, die das Geschehene, wenn es möglich wäre, nicht ungeschehen zu machen geneigt wären: aber, was man mir schon zu Theben von der allgemeinen Trauer des Volks und von der Rache, die es an den Anklägern des verdienstvollen Greises genommen haben sollte, für gewiß erzählte, ist ohne allen Grund. Die Athener sind zu leichtsinnig und ruchlos, um einer tiefen, anhaltenden Reue über irgend eine ihrer Unthaten fähig zu seyn.173

Mein Tod des Sokrates, der nun beinahe fertig ist, erhält durch eine Menge kleiner Umstände, die mir meistens von dem wackern alten Kriton an die Hand gegeben wurden, und vornehmlich durch die richtige, beim ersten Anblick kenntliche[365] Bezeichnung aller dabei gegenwärtigen Personen, einen Grad von historischer Wahrheit, der diesem Gemälde ein ganz eigenes Interesse gibt; so daß es (wie ich aus mehr als Einem Beispiel weiß) von niemand, der den Sokrates und seine Freunde öfters gesehen hat, ohne Rührung betrachtet werden kann. Der Maßstab von anderthalb Spannen, den ich für die proportionelle Größe der Figuren angenommen habe, trägt, wie ich glaube, zu der guten Wirkung des Ganzen vieles bei, theils weil es so bequemer mit einem Blick umfaßt wird, theils weil sich bei dieser Größe alles deutlich bezeichnen und ausdrücken läßt, ohne daß die künstliche Darstellung der Natur gar zu gleich sieht und sich selbst dadurch Schaden thut. In Lebensgröße würde ein solches Gemälde, wenn es gut gemacht wäre, kaum auszuhalten seyn.

Das Fest der Juno zu Samos und der Wettstreit der Künstler ist nun vorbei, und du hast vielleicht schon gehört, daß Timanthes mit seinem Ajas und Skopas mit seiner Aphrodite (die du zu Aegina entstehen sahst) beinahe mit allen Stimmen den Preis erhalten hat. Parrhasius, der einzige der meinem Freunde den Sieg streitig machen konnte, ist sehr übel mit dem Urtheil zufrieden von hier abgegangen. Es verdrieße ihn, sagte er, nur für seinen armen Helden174, daß er nun zum zweitenmal gegen einen Unwürdigen habe verlieren müssen. Man muß beide Stücke selbst gesehen haben, um zu errathen, was die Richter bewogen haben könne dem Timanthes den Vorzug zu geben. In der That sind beide Gemälde vortrefflich, an beiden ist sehr viel zu loben, wenig oder nichts mit Recht zu tadeln. Beide sind mit großer[366] Kunst zusammengesetzt, groß gedacht und mit vielem Fleiß ausgeführt; auch haben beide Künstler eben denselben Augenblick der Handlung erwählt, nämlich den, da Odysseus unmittelbar nach dem Ausspruch der versammelten Achaier sich der Waffen des Achill bemächtiget. Ich gestehe, daß ich lange zwischen diesen beiden Meisterwerken ungewiß hin und her schwebte, bis ich mich endlich durch eben dasselbe Gefühl, das die Richter bewogen zu haben scheint, auf Timanthes Seite ziehen ließ. Sein zauberischer Pinsel besticht nämlich das Auge gleich beim ersten Anblick durch die Wärme und Harmonie seiner Färbung, und thut durch einen gewissen heroischen Geist, der das Ganze durchweht, und den schönen Ton, der alle Figuren und Gruppen zusammenbindet, eine stärkere oder wenigstens schnellere Wirkung als das Werk seines Antagonisten. Der letztere hat durch die äußerst sorgfältige Ausführung der einzelnen Figuren, und weil beinahe jede sich unsers Auges besonders zu bemächtigen strebt, über das Ganze eine gewisse Kälte verbreitet, die von dem Feuer des Timanthischen Stücks zu stark absticht, um nicht in den Augen der meisten Anschauer gegen dieses zu verlieren; wiewohl der Kenner immer wieder zu Betrachtung der einzelnen Theile in dem Werke des Parrhasius zurückkehrt, und immer mehr zu bewundern findet, je schärfer er untersucht. Merkwürdig ist die verschiedene Art, wie beide Künstler die zwei Hauptpersonen behandelt haben. Parrhasius läßt seinen Odysseus sich der ihm zugesprochnen Waffen mit einem beinahe höhnisch triumphirenden Blick auf seinen Mitbewerber bemächtigen, während Ajas in seinen von Odysseus abgewandten und über Agamemnon, Menelaus und[367] das Griechische Heer hinblitzenden Augen, so wie in seiner ganzen Miene und Gebärdung, Zorn und Verachtung ausdrückt, und den Griechen ihren Undank ohne alle Zurückhaltung vorzuwerfen scheint. Timanthes Ajas hingegen steht stumm und in sich selbst zusammengedrängt, mit dem ganzen furchtbaren Ausdruck einer verbiss'nen Wuth, die dem Ausbruch nah' ist, aber noch durch einen schmerzlichen innerlichen Kampf zurückgehalten wird, indeß sein Odysseus, über sein Glück erröthend, beinahe zu zweifeln scheint, ob er den Sieg wirklich erhalten habe. Die Samier, sagt man, sind ein sehr sinnreiches Volk und große Liebhaber der Homerischen Gesänge; jedermann bemerkte gegen seinen Nachbar, daß Timanth auf die Anrede des Odysseus an die zürnende Seele des Ajas, im fünften Gesang der Odyssee, angespielt habe; und diese Bemerkung that vielleicht mehr als alles andere, um den Sieg auf seine Seite zu entscheiden. Uebrigens muß ich von ihm anrühmen, daß er beim Empfang des Preises wie sein Ulysses erröthete, und, vielleicht aufrichtiger als der Homerische, durch den über einen so großen und ältern Meister erhaltenen Vorzug mehr gedemüthigt als aufgebläht zu seyn schien.

Timanth hat die Gewohnheit, alle seine vorzüglichen Werke für sich selbst zu copiren, und nicht selten ist das Nachbild noch vollkommner als das Original. Gegenwärtig ist er im Begriff die Copie eines großen Gemäldes zu vollenden, welches ein reicher Kunstliebhaber zu Argos bei ihm bestellt hat, und womit er in kurzem selbst dahin abzugehen gedenkt. Es stellt die Aufopferung der Iphigenia in Aulis vor, und ist[368] eines seiner schönsten Bilder. Iphigenia, eine ächte Gestalt aus der Heroenzeit, von hoher tadelloser Schönheit und in der ersten Blume der Jugend, steht am Altar, mit schwärmerischer Entschlossenheit bereit, sich für das Heil und den Ruhm ihres Vaterlandes zu opfern; ihre Stellung, ihr großes, zur Göttin aufgehobenes Auge, ihr ganzes Wesen scheint zu sagen, hier bin ich! und kein Zug verräth die auch nur leiseste Schwäche, wodurch das Wohlgefallen der Göttin an dem reinen jungfräulichen Opfer vermindert worden wäre. Um sie her stehen die Häupter der Achäer, Menelaus, Diomedes, Achilles, Odysseus u.s.w., und hinter ihnen in einem weiten Kreise das ganze Griechische Heer. Alle, selbst den Priester Kalchas nicht ausgenommen, zeigen sich in verschiedenen Graden, nach ihrem Charakter oder Verhältniß gegen das Haus Agamemnons, gerührt und theilnehmend; nur Agamemnon, der Vater selbst, steht zwar gegen den Altar gekehrt, aber das Gesicht mit einem Zipfel seines langen faltenreichen Talars bedeckt. Ich war eben bei Timanth in seiner Werkstatt, als ein junger Athener mit einem Paar andern Fremden kam, und sich die Erlaubniß ausbat, dieses Gemälde zu besehen, dessen Schönheit ihm sehr angerühmt worden sey. Alle drei ließen es an bewundernden Ausrufungen nicht fehlen; doch bemerkte Einer, mit einer bedeutenden Kennermiene, gegen seine Gefährten: ob ihnen nicht auch eine gewisse Kälte im Ausdruck des Schmerzes, den die umstehenden Helden zeigten, besonders beim Menelaus, der doch der Oheim der Prinzessin sey, zu herrschen scheine? Aber der Athener konnte nicht Worte genug finden, den sinnreichen Gedanken des Künstlers zu bewundern,[369] daß er, nachdem er alles was die Kunst vermöge, im Ausdruck der verschiednen Grade einer anständigen Betrübniß an den Umstehenden erschöpft habe, den Vater selbst verhüllt, und es dadurch der Einbildungskraft der Anschauer überlassen habe, das, was der Pinsel nicht vermocht, selbst zu ersetzen und gleichsam auszumalen. Ein andrer behauptete: diese Verhüllung sey gerade der möglichst stärkste Ausdruck des gränzenlosen väterlichen Jammers, und müsse eine weit größere Wirkung thun, als der höchste Schmerz, den das unverhüllte Gesicht Agamemnons hätte ausdrücken können. Timanth, nachdem er dem Streit dieser weisen Kunstkenner eine Zeitlang lächelnd zugehört hatte, sagte endlich: die Herren sind sehr gütig, mir so viel von ihrem eigenen Scharfsinne zu leihen; denn ich muß gestehen, daß ich bei der Verhüllung Agamemnons, so wie bei der Behandlung des ganzen Stücks, keinen andern Gedanken hatte, als die bekannte Scene in der Iphigenia des Euripides, gerade so, wie der Dichter sie schildert, und wie ich sie mehrmal auf der Schaubühne gesehen, darzustellen. Steckt in der Verhüllung irgend ein besonderes Verdienst, so gebührt alles Lob dem Dichter; ich zweifle aber sehr, daß sein Agamemnon einen andern Grund, warum er seinen Kopf einhüllt, hatte, als weil er sich selbst nicht so viel Stärke zutraute, daß er beim Anblick des tödtlichen Stoßes in die Brust seines Kindes Gewalt genug über sich behalten würde, um die Heiligkeit des Opfers nicht durch irgend einen ungebührlichen Ausbruch des Vatergefühls zu entweihen. Denn nach den Begriffen und Sitten jener Zeiten mußten solche Opfer, um von den Göttern mit Wohlgefallen aufgenommen[370] zu werden, freiwillig, ja mit fröhlichem Herzen dargebracht werden. Auch den übrigen Anwesenden war jeder stärkere Ausdruck von Schmerz und Betrübniß untersagt; das Schlachtopfer wurde mit Blumen bekränzt unter jubelnden Lobgesängen zum Altar geführt, und sogar nach Vollendung der Ceremonie war es weder Verwandten noch Freunden erlaubt, den Tod der geliebten Aufgeopferten durch irgend eine sonst gebräuchliche Handlung oder Sitte zu betrauern. Weit entfernt also daß ein Maler, der eine solche Geschichte bearbeitet, seine Kunst im Ausdruck der verschiedenen Grade des Schmerzes und der Traurigkeit erschöpfen dürfte, besteht seine größte Geschicklichkeit bloß darin, daß er die Umstehenden nicht mehr Theilnahme und Rührung zeigen lasse, als nöthig ist, daß sie nicht als Unmenschen oder ganz gefühllose Klötze dastehen. An die sinnreiche Idee, die Einbildungskraft der Anschauer ergänzen zu lassen, was der Pinsel des Malers oder die Kunst des Schauspielers nicht vermochte, hat Euripides vermuthlich so wenig gedacht als ich. Es dürfte doch wohl eine unerläßliche Pflicht des Künstlers seyn, der Einbildungskraft so viel nur immer möglich ist vorzuarbeiten; auch erfordert es eben keine außerordentliche Kunst, den höchsten Grad irgend einer Leidenschaft oder irgend eines Leidens mit Pinselstrichen auszudrücken. Aber gerade dieser höchste Grad ist dem Maler, wie dem Bildner, durch ein unverbrüchliches Gesetz der Kunst untersagt, weil er eine Verunstaltung der Gesichtszüge bewirkt, die das edelste Angesicht in ein widerliches Zerrbild verwandeln würde. – Der Athener stutzte einen Augenblick über diese authentische Erklärung aus dem Munde des Meisters[371] selbst, der doch wohl am besten wissen mußte was er hatte machen wollen; doch erholte er sich sogleich wieder, und versicherte uns mit einem großen Strom von Worten: er sey gewiß, daß er den wahren Sinn der Verhüllung errathen habe. »Das Genie (setzte er mit vieler Urbanität hinzu) wirkt oft als bloßer Naturtrieb, und selbst der größte Künstler, wenn er etwas unverbesserlich Gutes gemacht hat, ist sich nicht allemal der Ursache bewußt, warum es so und nicht anders seyn mußte.« – Als wir wieder allein waren, lachten wir beide herzlich über dieses kleine Abenteuer, und Timanth, dem dergleichen Kenner häufiger vorgekommen sind als mir, versicherte mich: es sey sehr möglich, daß das schiefe Urtheil dieses Menschen die öffentliche Meinung von seiner Iphigenia auf immer bestimme, und ihm, lange, nachdem die Zeit das Gemälde selbst zerstört haben werde, noch Lobsprüche zuziehe, die er sich schämen müßte verdient zu haben.175

Der Umgang mit diesem liebenswürdigen Künstler ist mir so angenehm, und zugleich so belehrend und zuträglich in Rücksicht auf meine Liebhaberei, daß ich mich nicht entschließen kann, Samos eher zu verlassen, als bis er selbst abgehen wird. Er hat mir verschiedene wichtige Winke zum Vortheil meines sterbenden Sokrates gegeben, und ich hoffe ihr sollt es gewahr werden, daß mir ein solcher Meister zur Seite dabei gestanden hat.

Beinahe hätte ich vergessen, dir zu sagen, lieber Aristipp, daß ich mich bei Kriton und Cebes im Vertrauen erkundigte, ob man sich auf die Aechtheit der Gespräche, welche Plato dem Sokrates im Phädon zuschreibt, verlassen könne. Beide versicherten[372] mich, es wäre zwar die Rede von der geistigen Natur der Seele und von ihrem Zustande nach dem Tode gewesen; aber Plato hätte so viel von dem Seinigen eingemengt, und die Zusätze so künstlich mit dem, was Sokrates wirklich gesagt habe, zu verweben gewußt, daß es ihnen selbst, wofern sie eine Scheidung vornehmen müßten, schwer seyn würde jedem das seinige zu geben. Ebendasselbe sagte mir der wackere alte Kriton auch von dem Dialog, welchem Plato seinen Namen überschrieben hat, und worin, unter anderm, die schöne Rede der personificirten Gesetze, und überhaupt die dialektische Form der Fragen und Antworten, ganz auf Platons Rechnung komme. Uebrigens haben diese beiden Dialogen viel Aufsehen in Athen gemacht, und wegen der klugen Schonung, womit die Athener darin behandelt werden, und des schönen Lichts, in welchem der sittliche Charakter des Sokrates darin erscheint, nicht wenig zu der günstigen Stimmung beigetragen, welche dermalen über ihn und seine Anhänger zu Athen die herrschende ist.

Du würdest mir keine kleine Freude machen, Aristipp, wenn du deine beschlossene Reise nach Samos so beschleunigen wolltest, daß du Timanthen noch anträfest; wozu die Gelegenheit vielleicht nie wieder kommt. Auch Hippias erwartet dich mit Ungeduld.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 365-373.
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