4.

[194] »Die Lebenskräfte eines großen Reiches« (so fuhr Danischmend des folgenden Abends fort) »sind beinahe unerschöpflich; und eine Nation kann sich Jahrhunderte lang ihrem Untergange nähern, kann oft unmittelbar an dem Rande desselben schwanken, und noch Kräfte genug haben, sich wieder aufzuraffen und den schrecklichen Augenblick etliche Jahre weiter hinaus zu setzen. Ein weitläufiges, unter einem günstigen Himmel liegendes Land, welches eine lange Zeit aufs fleißigste angebaut worden ist, muß lange verwahrloset werden, bis es zur Wildnis wird; und Menschen, welche einmal an gewisse Gesetze, an einen gewissen Grad von Unterwürfigkeit gewöhnt sind, können unendlich viel leiden, bis das Unvermögen ihren Zustand[194] länger auszustehen die Bezauberung auflöst, oder Verzweiflung ihnen wenigstens den Mut gibt – zu sterben.

Diese Betrachtung pflegt die Werkzeuge einer ungerechten Regierung bei dem Anblick der zerstörenden Folgen ihrer Tyrannei gleichgültig und sicher zu machen. Das Übel ist noch nicht so groß, denken sie; der Esel schleppt sich noch immer unter seiner Last fort, er kann noch mehr tragen; und so wird immer noch mehr aufgelegt, bis er zu Boden sinkt und stirbt.35 Indessen ist wahrscheinlich, daß sich eine Wissenschaft erfinden ließe, wie man, unter gegebenen Umständen, für jedes Land den Tag, die Stunde, und den Augenblick ausrechnen könnte, wo der Staat unter einer gewissen Summe von Übeln – (die Dazwischenkunft irgend eines wohltätigen Wunderwerks ausbedungen) – einsinken müßte; und nichts ist mehr zu wünschen, als daß zum Besten des menschlichen Geschlechts ein Preis auf Erfindung eines solchen politischen Barometers gesetzt werden möchte.«

Schach-Gebal hatte, wie man vielleicht schon bemerkt haben wird, gewisse Launen, worin er, bei allem seinem Witz, Dinge zu sagen fähig war, welche seinem Oheim Schach-Baham Ehre gemacht hätten. Die Wahrheit zu sagen, er hörte zuweilen nur mit halbem Ohr, und dies war gerade, was ihm diesmal begegnete. Sobald er hörte, daß Danischmend seinen Diskurs mit einer Reflexion anfing, überließ er sich, ohne ganz unachtsam darauf zu sein, den Gedanken, die sich von ungefähr anboten, bis ihn der politische Barometer, wie ein elektrischer Schlag, auf einmal wieder zur Aufmerksamkeit weckte. Die Idee gefiel ihm. »Höre Danischmend«, rief er, »der Einfall, den du da hattest, ist vortrefflich. Wenn es nur an einem Preise liegt, so setze ich zehntausend Bahamd‹ or für den Erfinder aus. Du kannst morgen dem Präsidenten meiner Akademie Nachricht davon geben.«[195]

Nurmahal und Danischmend sahen einander verstohlner Weise an; aber der Ton des Sultans war zu ernstlich, als daß es ratsam gewesen wäre, ihn mit Lächeln zu beantworten. Sie zogen sich also mit Hülfe einer kleinen Grimasse so gut aus der Sache, als es in der Eile möglich war. Danischmend versicherte Seine Hoheit, der zehente Teil des versprochnen Preises werde hinlänglich sein, die Philosophen von Indostan in Tätigkeit zu setzen; und Schach-Gebal ergetzte sich nicht wenig an dem Gedanken, seine Regierung durch eine so sinnreiche und nützliche Erfindung verherrlicht zu sehen. Nach einer kleinen Weile fuhr Danischmend, auf Befehl des Sultans, in seiner Erzählung fort.

»Aus Mangel des politischen Lastenmessers, welcher das Glück gehabt hat den Beifall Ihrer Hoheit zu erhalten, läßt sich dermalen nicht genau bestimmen, wie lange Scheschian unter Isfandiars Regierung noch hätte schmachten können, wofern dieser unweise Fürst durch einen Schritt, der in den damaligen Umständen des Reichs durch nichts gerechtfertiget werden konnte, die fatale Stunde nicht selbst herbei gerufen hätte.

Ihre Hoheit erinnern Sich ohne Zweifel noch der Blauen und Feuerfarbnen, die unter der Regierung Azors so gefährliche Unruhen in Scheschian angezündet hatten. Isfandiar, der sich bei seiner Thronbesteigung das Gesetz gemacht zu haben schien, alles zu hassen was sein Vater geliebt hatte, nahm einige Jahre lang die Feuerfarbnen aus keinem andern Grund in seinen besondern Schutz, als weil unter der vorigen Regierung die Blauen die Oberhand gehabt hatten. Damit ja niemand an dem Beweggrunde seines Betragens zweifeln könnte, spottete er öffentlich und ohne Zurückhaltung über den Glauben der einen und der andern. Eblis hatte ihn angewöhnt, die Religion überhaupt in einem falschen Lichte zu betrachten. Nichts konnte kürzer sein als die Metaphysik dieses Günstlings war. ›Notwendigkeit und Ungefähr‹, sagte er, ›haben sich in die Regierung der Welt geteilt. Der Mensch schwimmt wie ein Sonnenstaub im Unermeßlichen; sein Dasein ist ein Augenblick; dieser Augenblick ist alles was er sein nennen kann, und sich diesen Augenblick zu Nutze zu machen, ist alles was er zu tun hat.‹ – Auf solche Trugschlüsse hatte er die ruchlose Sittenlehre und die tyrannische Staatskunst gebaut, wovon der Untergang seines Vaterlandes die Folge war. ›Die Religion‹, sagte man öffentlich an Isfandiars Hofe, ›ist eine nützliche Erfindung der ältesten Gesetzgeber, um unbändige Völker an ein ungewohntes Joch anzugewöhnen. Sie ist ein Zaum für das Volk; die Beherrscher desselben müssen den Zügel in[196] ihrer Hand haben: aber den Zaum sich selbst anlegen zu lassen, wäre lächerlich.‹

Wenn diese Sätze auch in gewisser Maße auf das, was man Staatsreligion nennt, anwendbar wären, so konnte doch nichts unbesonnener sein, als sie laut genug zu sagen, um von jedermann gehört zu werden. Wiewohl Eblis die Religion nur für ein politisches Mittel gegen die Unbändigkeit des Pöbels hielt, so hätte er doch einsehen sollen, daß die gute Wirkung dieses Mittels lediglich von dem Glauben an seine Kraft abhängt; so wie die Amulette, womit die Braminen und Bonzen ihre Anhänger in Ostindien und Sina zu beschenken pflegen, nur durch die hartnäckige Zuversicht zu ihren geheimnisvollen Kräften einige Wirkung tun können. Dem Volk öffentlich sagen daß man es nur betrüge, und erwarten daß es sich dem ungeachtet immerfort betrügen lassen werde, setzt eine Geringschätzung des gemeinen Menschenverstandes voraus, welche der Klugheit des witzigen Eblis wenig Ehre macht. Dieses Betragen mußte nach der damaligen Lage der Sachen in Scheschian notwendig einen gedoppelten Schaden tun. Auf der einen Seite schlich die Verachtung der Religion von den Großen und Gelehrten sich nach und nach bis zum Pöbel herab, welcher froh zu sein schien, daß seine Beherrscher töricht genug waren, den Damm, der ihnen noch einige Sicherheit gegen den Schwall der allgemeinen Verderbnis verschaffen konnte, selber zu durchstechen. Auf der andern Seite ließen die Bonzen von der blauen Partei, wie leicht zu erachten ist, diesen Anlaß, ihre verfallenen Angelegenheiten wieder herzustellen, nicht unbenützt. Je näher die Gefahr andrang, welche dem scheschianischen Aberglauben den Untergang drohte, desto eifriger waren sie, kein Mittel unversucht zu lassen, das Volk aus seiner schlafsüchtigen Gleichgültigkeit aufzuwecken, und in das wilde Feuer einer fanatischen Andacht zu setzen. Unter den Händen einer weisen Regierung würde die Gleichgültigkeit der Scheschianer gegen den ungereimten Glauben ihrer Väter das Mittel geworden sein, eine große Verbesserung ohne gewaltsame Erschütterungen und auf eine beinahe unmerkliche Weise zu bewerkstelligen. Aber die Unbesonnenheit der anmaßlichen Philosophen dieser Zeit, das alte Gebäude einzureißen, ohne ein anderes von festerem Grunde, bessern Materialien und edlerer Bauart auszuführen, ließ, nicht nur diese glückliche Gelegenheit entschlüpfen, sondern vermehrte noch die Übel, welche die unmittelbaren Früchte des Unglaubens sind, mit allen den unseligen Folgen des Fanatismus, der (wie uns die Jahrbücher der Menschheit belehren) allemal, wenn Gottlosigkeit und sittliche[197] Verwilderung am höchsten gestiegen sind, seine verwüstende Fackel am heftigsten geschwungen, und oft ganze Weltteile das grausame Schicksal eines Landes, das von Feinden und Freunden zugleich verheeret wird, hat erfahren lassen.

Der Hof, dessen einzige Beschäftigung war, die allgemeinen Übel des Staats in seinen besondern Nutzen zu verwenden, unterließ nicht, alle Bewegungen der Blauen aufs schärfste zu beobachten, und fand desto leichter Gelegenheit ihnen beizukommen, da sie, durch ihre schwärmerische Hitze verblendet, sich stark genug glaubten, ihre Gegner, die Feuerfarbnen, und den Hof der sie beschützte selbst, heraus zu fordern. Wiewohl sie, der Zahl nach, die kleinere Partei ausmachten, so schien ihnen doch der Reichtum ihrer vornehmsten Glieder eine desto gewissere Überlegenheit zu geben, da, ordentlicher Weise, der Reichste derjenige ist, der sich die meisten Anhänger zu verschaffen weiß. Aber eben diese Reichtümer waren das, was die Raubsucht Isfandiars und seiner Gehülfen reizte. Man beschloß sich derselben unter einem Vorwande zu bemächtigen, den man entstehen lassen konnte sobald man wollte. Man stellte sich als ob man über die Bewegungen der Blauen unruhig würde; man sprach viel von Gefahren, welche über dem Nacken des Staats schweben sollten; man flüsterte von einer übel gesinnten Partei, von geheimen Anschlägen, von verdächtigen Zusammenkünften; und man endigte damit, daß es vonnöten sein werde, mit einiger Strenge gegen die Blauen zu verfahren. Man hielt mehr als man versprochen hatte, in Hoffnung, die Blauen würden sich nicht geduldig genug mißhandeln lassen, um keine Gelegenheit zu größern Mißhandlungen zu geben; und man fand sich nicht betrogen. Kurz, man ruhete nicht, bis man sie zu einigen Bewegungen aufgereizt hatte, denen man den Namen von Aufruhr und Empörung geben konnte; und nun hatte Eblis seinen Zweck erreicht. Aber er und der unglückliche Isfandiar genossen diese Freude nicht lange. Die Blauen, angeflammt von einigen schwärmerischen Anführern, welche desto mehr zu gewinnen hofften je weniger sie zu verlieren hatten, empörten sich endlich im ganzen Ernste. Eine unendliche Menge von Mißvergnügten aller Arten schlug sich zu ihrer Partei. Das Volk, welches schon lange mit Ungeduld auf ein öffentliches Zeichen zum Aufruhr gewartet hatte, rottete sich in verschiedenen Provinzen von Scheschian zusammen, riß allenthalben die Bildsäulen Isfandiars nieder, plünderte seine Kassen, und ermordete alle, die es als Werkzeuge seiner tyrannischen Regierung verabscheute. Der Taumel, worin man am Hofe zu Scheschian zu leben gewohnt war, machte, daß man die ersten[198] Ausbrüche eines Aufstandes, von welchem so leicht vorher zu sehen war daß er allgemein werden würde, mit Verachtung ansah; und Eblis glaubte einen großen Streich gemacht zu haben, da er die Anführer einer zusammen gelaufnen Rotte, welche in der Hauptstadt selbst Unruh erregt hatte, mit Strafen belegen ließ, bei deren bloßer Erzählung allen übrigen, wie er sagte, die Waffen aus den Händen fallen sollten. Aber er kannte die menschliche Natur nur halb. Das unmittelbare Anschauen dieser Strafen, und der Anblick einiger tausend gedungener Mörder, bereit, auf den ersten Wink, wie eben so viele wilde Tiere, unter ein friedsames und schüchternes Volk einzufallen, hätte diese Wirkung allerdings getan: aber die Nachrichten, welche sich von diesen neuen Beweisen der Grausamkeit Isfandiars in den Provinzen verbreiteten, taten eine ganz entgegen gesetzte auf die Einbildungskraft der Scheschianer. Ihr Mißvergnügen verkehrte sich in Wut; die Anführer der Empörung fanden sich nun in der unumgänglichen Notwendigkeit zu siegen, oder wenigstens nicht ungerochen zu sterben. Der Aufstand, dessen Gefahr Eblis, so lang es möglich war, seinem betrogenen Herrn verborgen hatte, gewann in kurzem eine solche Gestalt, daß man sich gezwungen sah Isfandiarn die Augen zu öffnen.

Dieser Prinz, dem es weniger an Mut, als an der Geschicklichkeit ihn zu regieren, fehlte, machte sich fertig, an der Spitze eines Kriegsheers, dessen Treue er durch große Geschenke und noch größere Versprechungen erkauft zu haben glaubte, zum ersten Mal in seinem Leben – gegen seine eigenen Untertanen zu Felde zu ziehen. Die Häupter der Empörung hatten inzwischen Zeit genug gehabt, sich in Verfassung zu setzen, Abrede mit einander zu nehmen, und nach einem gemeinschaftlichen Plane zu handeln. Da sie entschlossen waren, die Waffen nicht eher niederzulegen, bis sie die Wohlfahrt des Staats und die Rechte seiner Bürger gegen die Anmaßungen der willkürlichen Gewalt auf eine dauerhafte Art sicher gestellt hätten: so fanden sie nötig alles so viel möglich zu vermeiden, was ihrem Unternehmen das Ansehen eines strafbaren Aufruhrs geben könnte. Das ganze Scheschian sollte überzeugt werden, daß sie die Waffen nicht gegen ihren rechtmäßigen König, sondern bloß zu notgedrungner Beschützung ihrer wesentlichsten Rechte gegen die Eingriffe seiner Ratgeber ergriffen hätten. In dieser Absicht ließen sie eine Art von Manifest an Isfandiarn gelangen, worin sie, nach einer lebhaften Vorstellung aller ihrer Beschwerden, sich erklärten, daß sie sogleich wieder aus einander gehen wollten, sobald der König diesen Beschwerden abgeholfen, und, zum Beweise seiner Aufrichtigkeit,[199] den Günstling Eblis der gerechten Rache einer ganzen beleidigten Nation ausgeliefert haben würde.«

»Dies«, sagte Schach-Gebal, »war eine Zumutung, wozu ein Fürst, der auf seine Ehre hält, sich nie verstehen wird.«

»Auch war Isfandiar weit von einem solchen Gedanken entfernt«, fuhr Danischmend fort. »Aber es währte nicht lange, so bekam er Ursache sich reuen zu lassen, daß er die Erhaltung eines Einzigen – die auf der Waage der Klugheit ein Atom ist, wenn die Wohlfahrt des Staats und die Sicherheit des Thrones in der andern Schale liegt, – für wichtig genug angesehen hatte, sie so teuer zu erkaufen. Eblis wurde bald gewahr, daß die Sachen seines Herrn und seine eigene einer furchtbaren Entscheidung nahe waren. Er fand es zu gefährlich für sich selbst, seine eigene Sicherheit von dem Ausgang eines Treffens abhangen zu lassen, von welchem er sich in jeder Betrachtung wenig versprechen konnte. Er bedachte sich also nicht lange. Treue, Dankbarkeit, Freundschaft konnten ihn nicht verhindern, eine schändliche Tat zu tun; denn sie waren für ihn bloße Namen ohne Bedeutung. Er ließ sich in geheime Unterhandlungen mit den Häuptern der Mißvergnügten ein, und machte sich anheischig, mit dem größten Teile des königlichen Kriegsheeres zu ihnen überzugehen, wofern sie ihm die Ehre, auf gleichen Fuß mit ihnen selbst an der Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe zu arbeiten, zugestehen und hinlänglich versichern würden. Die Empörten gingen alles ein, und Eblis arbeitete inzwischen mit eben so viel Eifer als Behutsamkeit daran, die Truppen und ihre vornehmsten Anführer teils in seinen Anschlag zu ziehen, teils zu unwissenden Werkzeugen desselben zu machen; und dies tat er zu eben der Zeit, da er seinen Herrn durch den Schein der feurigsten Ergebenheit und durch eine Menge falscher Nachrichten in die tiefste Sicherheit zu versenken wußte. Sein Anschlag ging so glücklich von Statten, daß er, in einem Anstoße des Schwindelgeistes, welcher große Verbrecher schon so oft zu Werkzeugen ihres eigenen Untergangs gemacht hat, auf einmal sich die stolze Hoffnung träumen ließ, in dem Augenblicke, da Isfandiar vom Throne herab stürzen würde, sich selbst hinauf zu schwingen. Die Empörten hatten bisher noch immer geneigt geschienen, die königliche Würde in dem verhaßten Isfandiar zu schonen. Aber Eblis stellte ihnen vor, daß es unmöglich sei, so lange der Tyrann lebe, an eine dauerhafte Staatsverbesserung zu denken, oder nur Sicherheit für ihre eignen Personen und Güter zu hoffen. Er wußte ihnen die Notwendigkeit, das Übel (wie er sagte) durch einen kühnen Streich an der Wurzel abzuhauen, so eindringend vorzustellen,[200] daß man ihn auf alle mögliche Weise zu unterstützen versprach, wofern er die Ausführung dieses Streiches übernehmen wollte.

Alles schien sich zu vereinigen, den Verräter Eblis des glänzenden Ziels seiner Wünsche teilhaftig zu machen, als er auf einmal (aber zu seinem Unglück erst da es zu spät war) die Erfahrung machte: daß der Lasterhafte sehr unrecht tut, wenn er von den Werkzeugen seiner Übeltaten Tugend erwartet. Eblis hatte gehofft, die Wenigen, denen er sein Geheimnis anzuvertrauen genötiget war, durch Eidschwüre, Belohnungen und Erwartungen eines schimmernden Glückes gefesselt zu haben. Aber er betrog sich. Einer von ihnen machte die Bemerkung, daß wahrscheinlicher Weise noch mehr zu gewinnen sei, wenn er dem Sultan die Treulosigkeit seines Vertrauten entdecken würde. Er tat es eine Stunde zuvor, ehe der Anschlag gegen das Leben des Sultans ausgeführt werden sollte. Es war um Mitternacht. Isfandiar, von wütendem Grimm über die Undankbarkeit eines Günstlings, für den er sich selbst aufgeopfert hatte, hingerissen, verschmähte den bloßen Gedanken der Flucht. Der Emir, der ihm die Verschwörung entdeckte, hatte nicht vergessen, sich vorher eines Teils der Leibwache zu versichern. Von diesen und von allen, auf deren Treue er sich am meisten verlassen zu können glaubte, umgeben, befahl Isfandiar, den Verräter Eblis und die übrigen Zusammenverschwornen in Verhaft zu nehmen. Sie hatten sich eben an einem abgeredeten Orte versammelt, um zur Ausführung ihres Vorhabens zu schreiten, als sie gewahr wurden, daß sie verraten waren. Es brauchte nur einen Augenblick, um das Schreckliche ihrer Lage in seiner ganzen Größe zu übersehen. Die Verzweiflung allein konnte ihnen den einzigen Ausweg öffnen, der noch möglich war. Sie entschlossen sich zum hartnäckigsten Widerstand. ›Der schrecklichste Tod ist uns gewiß‹, rief Eblis: ›mit den Waffen in der Hand können wir, im unglücklichsten Falle, nur sterben; aber es ist eben so wohl möglich, daß wir die Oberhand erhalten.‹ Wütend schlugen sie sich durch die Trabanten Isfandiars hindurch, drangen mit großem Geschrei in den Palast ein, und stießen alles nieder, was sich ihnen entgegen setzte. In wenigen Augenblicken war der ganze Palast in Aufruhr; die meisten schlugen sich auf die Seite der Verschwornen. Der Augenblick kam, da derjenige, zu dessen Füßen vor kurzem Millionen Sklaven im Staube sich wälzten, in angstvoller Betäubung nach Hülfe, nach Mitleiden umher sah, und nicht einen einzigen fand, welcher Tugend genug gehabt hätte, seine Brust zum Schilde eines verabscheuten Königs zu machen. ›Ja‹, rief er den auf ihn eindringenden Verschworenen entgegen, ›ich will sterben, aber[201] ich will nicht ungerochen fallen.‹ Mit diesen Worten stürzte er sich mit gezücktem Dolch auf Eblis hin; doch eh er ihn erreichen konnte, fiel er von unzähligen Stichen durchbohrt zu Boden. Inzwischen hatte der Lärm, den dieser wilde Auftritt im Palaste verursachte, einen großen Teil der Hauptstadt aus dem Schlaf erweckt. Das Volk stürmte haufenweise herbei. Dumpfes, gräßliches Geschrei: ›Freiheit, Freiheit! weg mit dem Tyrannen und seinen Gehülfen!‹ schallte furchtbar durch die Hallen des Palasts. Eblis, mit dem Haupte Isfandiars an der Spitze seines Schwerts, hoffte durch diesen Anblick die Raserei des Pöbels zu besänftigen: aber das abgerissene Haupt des Sultans in der Hand seines treulosen Günstlings zu sehen, dieser Anblick veränderte auf einmal den Gegenstand ihrer Wut. Der Verräter wurde in Stücken zerrissen. Alle die ihn verteidigen oder rächen wollten, fielen. Der Palast wurde geplündert und in Flammen gesetzt. Das Feuer ergriff einen Teil der Stadt, und fraß desto schneller um sich, da niemand daran dachte, seinen Verwüstungen Einhalt zu tun. Alle Greuel eines allgemeinen Aufruhrs vereinigten sich, die unglückliche Stadt Scheschian etliche Tage lang zu einem Schauplatz von Taten zu machen, von welchen die Menschlichkeit schaudernd ihr Antlitz wendet. Gleichwohl war dies alles nur der Anfang, und, so zu sagen, das Zeichen zur allgemeinen und völligen Auflösung aller Bande, wodurch die Nation bisher noch zusammen gehalten worden war. Isfandiar hinterließ keinen gesetzmäßigen Thronfolger; denn er hatte seine Brüder und seine Neffen, die Söhne eines jüngern Bruders von Azorn, bald nach seiner Thronbesteigung unter verschiedenem Vorwande aus dem Wege geräumt. Die vornehmsten Städte des Reichs machten Anstalten sich in Freiheit zu setzen, konnten aber über die Gestalt der Verfassung, welche sie sich geben wollten, so wenig einig werden, daß sie entweder durch bürgerliche Unruhen zu Grunde gingen, oder bald diesem bald jenem von fünf oder sechs der mächtigsten Emirn, welche um die Krone stritten, sich unterwerfen mußten. Während dieses Streites, der mit aller Wut und Langwierigkeit eines Bürgerkrieges geführt wurde, erfuhr Scheschian die Drangsale der Anarchie zum zweiten Mal in einem Grade, der entsetzlich gewesen sein muß, da er mit der Stufe der Verderbnis, zu welcher die Nation herab gesunken war, in Verhältnis stand. Etliche Jahre lang schien alles Gefühl von Moralität in jeder Seele bis auf den letzten Funken erloschen zu sein, und den ungeheuern Leichnam des Staats einer scheußlichen Verwesung überlassen zu haben. Auch würde dies, allem Ansehen nach, das Schicksal von Scheschian gewesen sein, wofern nicht der[202] Schutzgeist der Menschheit zu einer Zeit, da man alle Hoffnung aufzugeben anfing, den unglücklichen Rest einer einst so großen und blühenden Nation mit mitleidigen Augen angesehen hätte.«

»Ich danke dir, Danischmend«, sagte Schach-Gebal, »für die gute Justiz, welche du, zur Ehre des Thrones und zur Warnung aller künftigen Isfandiarn und Eblissen (wenn anders die Natur jemals wieder ihresgleichen hervorbringen sollte) an diesen Ungeheuern ausgeübet hast. Im übrigen will ich dir nicht verhalten, daß du uns eine Art von Genugtuung dafür schuldig bist, uns seit dem ehrlichen Ogul-Kan (der bei allem dem gleichwohl einige große Untugenden hatte) mit lauter namenlosen oder schwachen Königen unterhalten, und die Reihe zuletzt gar mit einem Taugenichts beschlossen zu haben, der in der Tat so hassenswürdig ist, daß der verdienstloseste unter seinen Vorgängern bloß dadurch, weil man gar nichts von ihm sagen kann, in Vergleichung mit ihm zu einem guten Fürsten wird. Es ist unangenehm einen so mißgestalteten Charakter nur für möglich zu halten.«

»Und noch unangenehmer«, sagte Danischmend, »daß schwerlich eine Nation auf dem Erdboden ist, welche sich des Glückes rühmen könnte, unter ihren Fürsten keinen Isfandiar gehabt zu haben. Gleichwohl deucht mir sogar dieser schlimmste unter den Königen von Scheschian weniger Haß als Bedauern verdient zu haben. Alle Umstände, in welchen er lebte, schienen von irgend einem feindseligen Genius zu seinem Verderben zusammen geordnet zu sein. Kein tugendhafter, kein ehrlicher Mann unter seinem ganzen Volke, welcher Menschlichkeit genug gehabt hätte, dem verblendeten Fürsten wenigstens aus Mitleiden die Wahrheit zu sagen! Lauter abschätzige Sklaven zu seinen Füßen, lauter schändliche der Schamröte unfähige Schmeichler an seinem Ohr! Sollte man es für möglich halten, daß ein Isfandiar, ein gekrönter Missetäter, dessen Leben eine Kette von lasterhaften und unsinnigen Ausschweifungen war, von einer Menge von Rednern und Schriftstellern seiner Zeit mit allen Lobsprüchen, die nur immer der beste König verdienen kann, überhäuft worden sein könnte? Sollte man glauben, daß ein Scheschianer unverschämt genug habe sein können, diesen nämlichen Isfandiar, in Gegenwart von Tausenden, deren Blicke und Mienen ihn Lügen straften, den würdigsten und geliebtesten unter den Fürsten, den Vater seines Volkes, den wohltätigen Schutzgott seines Reiches zu nennen? Gleichwohl gab es unter den Gelehrten, unter den angeblichen Weisen der Nation solche Elende; und, was beinahe eben so erstaunlich ist, Isfandiar war fähig solchen Unsinn[203] mit Vergnügen anzuhören, und die dreifachen Sklaven, welche die Verwegenheit hatten mit Wahrheit Tugend und Ehre ein so freches Gespötte zu treiben, auf der Stelle mit Belohnungen zu überhäufen, welche zu geben und verdient zu haben in gleichem Grade schändlich war. Konnte Isfandiar alles Gefühl von Recht und Unrecht so gänzlich verloren haben, um die ausschweifendsten Lobreden, Lobreden welche den bittersten Satiren so ähnlich tönten, ohne vor Scham zu vergehen, anzuhören? Und wenn er es konnte, wie unwürdig der menschlichen Gestalt mußte der erst sein, den die Hoffnung eines ehrlosen Gewinsts fähig machte, die Sprache der Empfindung wissentlich zu mißbrauchen, um einen weltkündigen Tyrannen in seiner Verhärtung zu bestärken! Was für Elende mußten es sein, welche solche Lobreden anhören konnten, ohne in allgemeinem Aufstand dem ungeheuern Lügner ins Gesicht zu widersprechen! welche sogar fähig waren, ihm lauten Beifall zuzuklatschen! Man muß gestehen, die Scheschianer verdienten einen König wie Isfandiar; und man braucht sich nur einen Augenblick vorzustellen, wer sie waren, um das Mitleid, welches der Anblick des Leidens unsrer Mitgeschöpfe natürlicher Weise in uns erweckt, in Freude über die Zerstörung einer so häßlichen Brut ausgearteter Menschen verwandelt zu fühlen.«

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Der goldne Spiegel und andere politische Dichtungen. München 1979, S. 194-204.
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