XI

Italien. Riva; Mailand. Das Zollamt in Civitavecchia. Rom. Malerische Öde. Uralter Gesang. Zusammenbruch der Nerven.Heimreise. Portovenere. Seeon

[148] Ich segne mein Geschick, daß in meine Werdejahre auch die hohe Schule Italiens, die Verbrüderung mit der klassischen Schönheit der Natur, mit den Überresten großer Geschichte und mit der Antike gefallen ist. Diese innige Verbrüderung, die man nicht im Flug erringt, verlängerte meinen Werdegang, verzögerte meine Ausbildung als Schaffender; aber »der gerade Weg ist nicht immer der beste«, und diesem Umweg hab' ich wie so viele Großes zu verdanken.

Als ich im April 1864 meine erste Italienfahrt über den Brenner antrat, hatte ich noch auf der alten Straße mit der Post zu fahren; neben dem Postillon auf dem Bock, bei herrlichem Sonnenschein und gewaltigem Staub, rasselte ich von Innsbruck zum Paß hinan. Dann begleitete mich der schönste Mond bis zum Morgen durchs Eisacktal, das in zauberhaftem Dämmerlicht lag; und wie ein Kind des Glücks fuhr ich darauf im sonnigsten Frühling mit dem Morgenzug dem Süden zu.[148] Es war der alte Weg der Deutschen, von Bozen zur Etsch,


Wo deutsche Zunge mit welscher ringt,

Deutsches und welsches Lied erklingt,

Ein holder Hauch von Süden fährt,

Formbildend rings die Höh'n verklärt

Und sehnsuchtsvoll in deutscher Brust

Aufstört die tiefe Wanderlust.

O Straße du ins welsche Land,

Der Sehnsucht Straße sei genannt!

Du rufst und lockst seit alter Zeit

Zur Paradieses-Herrlichkeit;

Es brauste der Goten Heer hinab

Zum Schlachtentod ins welsche Grab;

Es wandert einsam Goethe hin,

Zu schönsten Lebens Hochgewinn:

Es werden nach vieltausend Jahren

Auf dir die letzten Deutschen fahren.


So fühlend, wenn auch noch nicht dichtend (die Verse sind aus einem späteren Festlied »Walther von der Vogelweide«), wunderte ich mich zwischen den braunen und grauen Bergen und den hochgelegenen Menschennestern des Etschlands hin und rollte seitwärts zum Gardasee, der mich bei Riva empfing. Hier ergriff mich zum ersten Mal mit aller Macht die ernste Farbenstimmung, die tiefe, wunderbare Harmonie, die den italienischen Landschaften ihre klassische Größe und ihren unaussprechlichen Zauber gibt; ein graubrauner Ton, der wie eine höhere Einheit alles umfaßt und wohl zuerst durch seine Fremdheit zum[149] Staunen reizt, dann wie eine geniale Erfindung der Natur, wie ein unmittelbarer Ausdruck des antiken Geistes in der Seele fortwirkt.

Ich stürmte aber weiter nach Rom; nur in Mailand und Genua hielt ich eine Weile an, wie etwa ein Wanderer auf hohem Weg trotz seiner Eile stehen bleibt, wenn er um eine Ecke gehend ein überraschendes Bild erblickt. In Mailand zog es mich vor allem zu Leonardos »Abendmahl«; welch ein Wunderwerk! Fast zerstört, vernichtet, und doch noch eine Welt; lange, lange Zeit saß ich in tiefster Andacht davor, wie je vor einem in Gesundheit blühenden und strahlenden Bild. Am Abend dann, welcher Gegensatz! Im Teatro Canobbiana sah ich große Oper und Ballett; modernstes Italien, lebendigstes, aber wie! Von dramatischem Vortrag kaum zu reden: sie sangen fast nur zum Publikum, die Rezitative wurden mit rasender Geschwindigkeit abgehaspelt, nur die Arien galten was. Folgte denen Beifall und Hervorruf, so trat allemal der Regisseur in schwarzem Frack und den Zylinder in der Hand aus den Kulissen hervor und führte den Sänger oder die Sängerin ans Proszenium und dann wieder ab; ein Anblick zum Lachen.

Aber die schwarzen Schleier der Mailänderinnen versetzten mich wieder in klassische, altrömische, von Griechenwind durchhauchte Luft. Eine erstaunliche Fülle von stattlichen, stolzen, schönen Mädchen und Frauen durchwandelte die Straßen oder saß auf den Balkonen, die fast jedes Fenster umgittern; fast alle trugen sie noch den Schleier, der das Gesicht völlig frei ließ, aber von den Armen und Händen mit Kunst[150] zusammengefaßt ward. Wie erhöhte er den ernsten Reiz dieser Nachblüten der Römerzeit! So wirkten die weißen Schleier nicht, die ich hernach in Genua allgemein getragen sah; sie verschönerten weniger und hätten es mehr gesollt, denn die Frauen von Genova la superba konnten sich mit denen des reichen Mailand nicht messen.

Endlich lag mein französischer Dampfer (damals herrschten noch die italienischen Gesellschaften nicht) nach seiner Fahrt von Genua her vor Civitavecchia still; auf den Bastionen am Meer sah ich die niederbaumelnden roten Hosen der sitzenden französischen Soldaten, die den Papst in seinem weltlichen Regiment beschützten. Man schiffte uns aus, im Saal der Dogana mußten wir den Zollbeamten unsere Gepäckstücke öffnen; und wie es mir vor sieben Jahren in Berlin mit meiner Bücherkiste ergangen war, so sollte es mir hier mit meinem Koffer ergehn. Von den Frankfurter schlaflosen Zeiten her war ich noch ein bleicher Mann mit fast hohlen Wangen und tiefen Augen; dazu langes Haar, breitkrämpiger Hut und ein gewaltiger Radmantel, den mir ein Münchener Freund für diese Reise geschenkt hatte. Es war nicht sehr verwunderlich, wenn die päpstlichen Zollbeamten einen Garibaldiner oder Mazzinisten zu sehen glaubten; eine entsetzlich peinliche Untersuchung meines Koffers begann. Sie dauerte zwei Stunden lang; drei, vier dieser Kerle umstanden mich, sie durchblätterten jedes Buch, sie studierten in den Albums, die ich mit mir führte, jede Photographie, jede einzeln; sie wollten offenbar durchaus politische Konterbande finden. Lange entdeckten[151] sie nichts als ein kleines italienisches Kursbuch, das ich in Mailand gekauft hatte; der Rothaarige, der ihr Oberster war, wies aber mit furchtbar ernstem Gesicht, das ich fast durch ein furchtbar lachendes beantwortet hätte, auf die Titelworte: nel regno d'Italia, im Königreich Italien – dem verhaßten Reich, das auch den größten Teil des Kirchenstaats verschluckt hatte. Er forschte im Album weiter und er triumphierte: fast am Ende – ein lächerlicher Zufall! – fand er eine kleine Plwtographie des bei Aspromonte zerschossenen Stiefels Garibaldis, die mir Hans Kugler als Kuriosität aus Rom nach München geschickt hatte. Garibaldis Stiefel, des verruchten Feindes! Einen großartigeren Sieger als diesen Rothaarigen hab' ich nie gesehn. »Dieses Buch,« sagte er und deutete auf mein Kursbuch, das er beiseite gelegt hatte, »bekommen Sie vielleicht im Hauptzollamt zu Rom zurück, wenn Sie sich hinbemühen; ma questo« – er hielt das kleine Stiefelbild mit beiden Händen – »ma questo si rompe!« »Das da wird zerrissen!« Alle seine zehn Finger arbeiteten auch, als wollten sie es in tausend Stücke zersetzen; zugleich arbeitete das welscheste Pathos auf seinem Judasgesicht. Er zerriß es aber nicht. Er hat es wohl seinem Buben geschenkt.

Ohne Garibaldis Stiefel und um einen Zug verspätet, kam ich dann doch nach Rom. Mein erster Gang war zum Monte Pincio hinauf; ruhelose Sehnsucht. Die Peterskuppel! Die ewige Stadt! Um mich her die Pinien und Zypressen, Lorbeer- und Orangenbäume, immergrüne Eichen, Palmen, alte Statuen und junge Mandelbäumchen; höchster Rosenflor in[152] allen Farben, an Mauern und Pinien in die Höhe kletternd; und immer Rom zu meinen Füßen, und hinter mir die Abendmusik der französischen Soldaten und die »schöne Welt« der lustwandelnden Stadt. Da war ich! Diesen Besitz konnte mir niemand mehr entreißen! Seit sechzehn Jahren, seit der Knabenzeit, hatte ich mich nach ihm hingeträumt.

Daß ich in Rom fast nur mit Malern lebte, mit Hans Kugler, Böcklin, Lenbach, Hagn, Marées, Fitger, Penther, Füßli, Metzener und andern, und als wie gute Kameraden wir lebten, davon hab' ich schon in meinen Lenbacherinnerungen erzählt. Hier alles mit Künstleraugen sehen zu lernen, war mein Hauptbegehren; nach archäologischer Gelehrsamkeit verlangte mich nicht. Es war mir vielmehr eine reine Luft, daß das Forum Romanum noch dem alten Campo vaccino ähnlich, ein malerisch zusammengestimmtes Überwuchertes war – wie hat man es seitdem zerwühlt! – und daß Rom noch das alte, melancholisch majestätisch feierlich öde Rom war, noch ebenso sehr ein Friedhof der Weltgeschichte wie lebendige Gegenwart Wie ich diese gefüllte Ode genoß, schildert unter anderm ein Brief, den ich im Mai an die Meinen schrieb, über einen Ausflug mit Hans Kugler zur Basilika Sankt Paul und von da weiter hinaus: »Wir schlugen einen einsamen Weg – wie immer zwischen alten, wildbewachsenen Mauern hin – zur Via Appia ein. Alles öde und still, aber man schwelgt in Bäumen und kleinen Felsen und üppigem Gebüsch und in botanischen Studien, die ich jetzt ganz besonders liebe. Hier ragen Maulbeerbäume und Ölbäume, dort Pinien, Zypressen,[153] Rosen, Hollunder, gelbblühender Fenchel, Winter- und Sommereichen über die Mauern hervor; wunderbar marmoriertes mächtiges Distelkraut, Feigengebüsch, glühendroter Mohn, Moos und wilde Blumen aller Art klettern an dem Mauerwerk umher; auch auf dem ödesten Weg (und deren gibt es unzählige mitten in der toten Stadt) wird man nicht müde, die Augen nach allen Seiten zu richten. Endlich hatten wir die Via Appia erreicht; der Zirkus des Maxentius, das mächtige Grabmal der Cäcilia Metella, mittelalterliche Burgruinen, uralte Kirchen und Kapellen, die Trümmer der Aquädukte, fern die Peterskuppel und das hinter seinen Hügeln versteckte Rom – um uns her Weinberge und Wiesen mit den hochbehörnten grauen Kühen und Büffeln – wie einem da zu Mut wird! – O Ihr Lieben, wie beschreib' ich Euch meine römische Seligkeit!«

Oft zog auch die Sehnsucht, die uns blaue Berge machen, in die Ferne hinaus; wenn nach Regentagen die herrlich durchleuchtete Abendluft so durchsichtig war, daß das Auge (zum Beispiel vom Monte Testaccio oder Scherbenberg aus) in allen Vertiefungen und Städten und Dörfern des Albanergebirgs spazieren ging; oder wenn dasselbe Gebirge, vom San Lorenzotor gesehen, in seiner sonnig schimmernden Lieblichkeit mich so sirenenhaft lockte, daß ich Hans beschwor: »Halt' mich fest! – Führ' mich weg!«

Wunderbar ergriff mich's auch, wenn ich in der Stadt oder draußen Gesang ertönen hörte, der wie aus andern Jahrtausenden herausklang; so, wenn Büffeltreiber in der Campagna, neben ihrem langsamen Gespann scheinbar schläfrig dahintrottend, niegehörte[154] Halbmelodien oder Tonfolgen anstimmten, daß man denken mußte: so sangen sie hier schon zu Sullas oder Marcus Furius Camillus' Zeit! Einmal ging ich in der Nacht mit Lenbach, Böcklin und andern vom Ponte Molle nach Rom zurück; darüber schrieb ich an meinen Vater, der sich wie wenige in die griechische Lyrik und die Chorgesänge der attischen Tragiker versenkt hatte: »In einem Wirtshaus am Weg spielten zwei auf der Mandoline, der eine sang und improvisierte, mit häßlicher Stimme, aber in sehr interessanten, durchaus altertümlichen, einfach nüchternen Rhythmen: der Gesang im alten Athen und Rom muß ähnlich gewesen sein. So, denk' ich, hat man den Homer, den Pindar und die Chöre vorgetragen; etwas schöner und anmutiger, wie man sich einbildet, aber im gleichen Charakter: ohne eigentliche Melodie, der Gesang nur das Kleid, der Text die Sache selbst. Wie wünschte ich Dich herbei, daß Du mit uns vor der Tür der Osteria hättest lauschen können!«

Diesem schönen Lernen und Leben machte ein plötzlicher Zusammenbruch ein Ende, der auf meine Unerfahrenheit wie ein Blitz ohne Wolke herniederfuhr. Durch meine alte Ausdauer im Studieren und Genießen getäuscht, hatte ich mich meiner alten Rastlosigkeit froh und frech ergeben; von der Frankfurter Nervenverwüstuug meinte ich ganz genesen zu sein; Anfang Mai schrieb ich nach Hause: »Meine Gesundheit unaufechtbar, mein Glück unbeschreiblich!« Achtstündiges Herumlaufen in Sciroccohitze, fünfstündiges, angestrengtestes Antikenstudium im Vatikan schien mir ganz das rechte; »was für ein Sehen und Lernen in[155] diesem Rom!« meldete ich ahnungslos; »die Maschine des Geistes hat mit verdreifachter, verzehnfachter Kraft zu arbeiten.« Auf einmal weigerte sie sich, diesen Frondienst zu tun. Mit scheinbar gemeinen Zahn- und Gesichtsschmerzen fing es an; dann folgte ein ernsthafteres Nervenrebellieren, und nach vermeinter Erholung, die ich wieder durch geistige Orgien feierte, brach eine unverkennbare Erkrankung des ganzen, zu viel mißhandelten Nervensystems herein. Mitte Juni mußte ich endlich nach Hause schreiben: »Es ist zwar erstaunlich unsinnig, hier in Rom nicht gesund zu sein; aber der verruchte, ewige Scirocco (Frühjahr und Sommer sind hier diesmal verpfuscht) und die noch immer nicht verwundene reizbare Empfänglichkeit der Nerven haben mich wieder unwiderstehlich auf den Hund gebracht. Auf eine seltsame und mir bisher unbekannte Weise: allgemeine Verstimmung und Lähmung aller Nerven, in Kopf, Unterleib, Brust, gemäßigter in den andern Gliedern; sanfte Übelkeit, Gehirnweh, Mattigkeit der Augen, vereinzelte Nervenschmerzen hier und da, Schwere im ganzen Körper; Unfähigkeit, zwar nicht zu lesen, aber zu schreiben, nicht zu denken oder heiter zu sein, aber zusammenhängend zu arbeiten oder andauernd zu genießen. So war mir wenigstens an allen schlimmeren Tagen. Sowie der Scirocco nachließ, tat mein Zustand desgleichen; und ich bin gewiß, wenn ich jetzt (wo vollends die heiße Zeit beginnt) dieses gefährliche Rom verlasse, wenn ich mich (mit Hans, der das gleiche Bedürfnis fühlt) nach Nordenwende und die eigentlichen Glutmonate jenseits der Alpen in Ruhe, Behaglichkeit und[156] deutscher Luft als verständiger Selbstarzt verlebe, so werde ich zum Herbst wieder ein vollkommen gesunder Mensch sein.«

Die Flucht nach dem Norden, mit der Absicht und Aussicht, zum Winter wiederzukommen, war gewiß das rechte; aber der Glaube an den »verständigen Selbstarzt«, der kam viel zu früh. Die Heimreise, zunächst nach München, ward zwar schon am 19. Juni angetreten, zu Lande, mit dem Vetturin; das Ziel für den Sommer war Seeon, eine stille, anmutige Sommerfrische an einem bayrischen See im Angesicht des Hochgebirgs, mit Heyse-Kuglers vereint. Lenbach, der uns mit anderen Freunden bis zur Abfahrtsstelle des Vetturins geleitete, rief denn auch im letzten Augenblick mit vernichtendem Humor: »Auf nach Seeon!«; er sah uns für wahnsinnig an, daß wir Rom mit diesem bayrischen Nest vertauschen wollten. Hätten wir's nur geschwinder getan! Auch den armen Hans hatten das Klima und seine alten Nervengebreste übel zugerichtet; aber er wie ich traten wie urgesunde Leute in schon heißer Zeit eine kühn gedehnte Luft- und Lernreise an und ließen dem Hochsommer volle Frist, ganz hereinzubrechen. Über Viterbo, Montefiascone, Orvieto, Siena, Pisa, Spezia, die Riviera und Genua, mit Wanderungen im tollsten Scirocco, drangen wir langsam zu den Schweizer Alpen vor, die gelegentlichen Rückfälle ins tiefe Nervenelend verachtend. Auf der Fahrt von Viterbo nach dem Felsenmärchen Orvieto im offenen Einspänner, von der Sonne prächtig angeglüht, von der Tramontana wonnevoll angeweht, nahm ich den Hut vom Kopf[157] und setzte ihn nicht wieder auf; die Folge war, daß nachts in Orvieto, im Bett, unter schlafzerstörendem Jucken die verbrannte Haut von meinem Oberkopf herunterging.

Doch wir welschlandseligen Märtyrer sollten wie zum Lohn noch einen besonderen Himmelssegen erleben: das damals fast ungekannte Meerwunder Portovenere. Wir saßen in der Croce di Malta in Spezia, vor uns Golf und Meer; ich las in Ernst Försters»Handbuch für Reisende in Italien« einige trockene Worte über ein in der Nähe gelegenes Porto Venere mit Schloß und Kirche; »S. Pietro auf den Fundamenten eines Venustempels.« Dann noch ein Wort über »eine wundervolle Aussicht« und »Brüche von schwarzem Marmor mit gelben Streifen«. Dieses Letzte erregte meine Phantasie, ich weiß nicht, warum; »Hans,« sagte ich, »das könnte etwas ganz Besonderes sein, das Förster unterschätzt hat wie anderes auch. Jedenfalls gibt's eine reizende Fahrt. Versuchen wir's, auf gut Glück!« Einig wie immer nahmen wir ein Boot mit zwei Ruderern und fuhren in den schönen, sonnengoldenen Golf hinaus. Als wir nach dritthalb Stunden um die Ecke bogen, erstarrten wir fast vor Überraschung: so märchenhaft schön erhob sich Portovenere aus der Flut mit seinen grauen, hochstirnigen, dreifach übereinander gedrängten Häusern, dem betürmten Kirchlein auf der letzten Klippe und der hochaufragenden Festung über der alten, halbverschwundenen Burg. Gegenüber, nur einen Pfeilschuß entfernt, lag die Marmorinsel Palmaria wie ein riesenhafter besonnter Walfisch auf dem grünen, blauen, am Horizont dunkelroten Meer.[158]

Wir landeten, wir stürmten durch den schmalen Ort, die engen Gassen zum äußersten Fels, den statt des alten Venustempels die genuesisch schwarz und weiß gestreifte Kirchenruine San Pietro krönte. Von rechts erscholl ein Durcheinander von hellen Stimmen, plätscherndes Gelächter; wir traten durch eine Pforte in der alten Burgmauer auf das Ufergestein hinaus und sahen ein entzückendes Bild. Ein Hause badender Knaben, groß und klein, tummelte sich in einer kleinen, schiefer- und marmorfelsigen, durchbrandeten Bucht; die einen schwammen hin und her, die andern stürzten sich jauchzend kopfüber in das weiß aufschäumende, durchgrünte Blau. Hinter ihnen stiegen hoch, gelblich, rötlich, grau, die allerschönsten Felsen aus dem Meer empor, wie von einem edelsten Künstler gefühlt und geformt; so griechisch, wie wir's je geträumt, etwa wie ein sehnsuchtsvolles Erinnerungsbild des blinden Homer.

Wir schlenderten berauscht, halbbetäubt in den Ort zurück, stärkten uns an Aal und Hummer; wiederkommen! dachten wir wie aus einem Kopf. Wir fuhren in unsrer Barke wieder nach Spezia, verschwelgten dort den übrigen Tag; am nächsten Morgen wanderten wir aber über die Höhen an den Golfbuchten hin nach dem »Venushafen«. Als gemeinsame Wohnung fanden wir ein großes, stattliches Zimmer mit schönem Blick (im Karneval der Tanzsaal dieses Fischernestes); wir zahlten zusammen Nacht für Nacht eine Lira, achtzig Pfennige. Unsere Ernährung übernahm der Schneider des Orts, der zugleich auch Wirt war; es gab aber nur Meeres fleisch: Fische in jeder Art der Zubereitung,[159] Aale, Hummern, Muscheln. So verlebten wir hier fünf, sechs Tage, eine allerseligste Zeit. Wir stiegen und kletterten überall umher, auch drüben auf Palmaria, genossen diese kleine odysseische Welt, bis wir sie auswendig gelernt hatten, den reinen Zauber der Formen, das wunderbare Brausen um die felsigen Ruinen, die züngelnde Brandung in den Grotten, die Fernblicke auf das in blauem Duft schwimmende Capraja und die dämmernden Gestade von Korsika, die unerschöpflichen Wechsel der Beleuchtung. Hans zeichnete, ich dichtete: mir wuchs hier eine Versdichtung »Die Geschwister von Portovenere« heran, die ich später als Erzählung schrieb. Er zeichnete auch vor der Tür unseres Wirts, die Weiber und die schöne Cerina, unter großem Zulauf des Volks. Im Hafen warfen wir Geld unter die Knaben. Kurz, wir waren glücklich.

Einmal standen wir oben auf einer der Terrassen, die zur Festung hinansteigen und noch darüber hinaus, und schauten auf San Pietro und die alte Burg hinab; ein so großes wie liebliches Bild. Trunken von so viel Schönheit, waren wir wohl lange still. Plötzlich sagte Hans: »Dies ist aber ebenso schön:


Doch ist es jedem eingeboren,

Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,

Wenn über uns, im blauen Raum verloren

Ihr schmetternd Lied die Lerche singt;

Wenn über schroffen Fichtenhöhen

Der Adler ausgebreitet schwebt,

Und über Flächen, über Seen,

Der Kranich nach der Heimat strebt.«
[160]

Ich nickte ihm zu: du hast recht! Und so feierten wir beide unsern Dichterkönig.

Indessen schon in Portovenere hatte die Buße für diese nervenverzehrende Seligkeit begonnen; im Weiterwandern jenseits von Spezia bei afrikanischer Schwüle, in den durchfahrenen, ruhelosen Nächten, in den schonungslos genießenden Tagen wuchs sie zum »Fegefeuer« heran. Mit zersehenen Augen und zerlebten Sinnen kamen wir endlich nach Deutschland zurück. Gegen den neuen, wilden, elftägigen Scirocco, der nun München durchschwülte, hatte ich keine Waffe mehr; meine Nerven erlagen wie zarte Pflänzchen, die eine tropische Mittagsglut verbrennt. Als ich dann mit den andern nach Seeon kam, war ich derselbe, der vor mehr als drei Monaten aus Frankfurt geflohen war: ein vom Schlaf verlassener Mann. Wieder lag ich die langen Nächte in ewigem Wachsein da; mich zuletzt oft ins Dichten rettend, um die langsam schleichende Zeit wenigstens etwas edler zu töten. Ein Zustand, von dem eines dieser Gedichte, an die Sehnsucht gerichtet, sagt:


Doch wenn du im tiefen Schoß

Der Nacht erglühst,

Mit brennenden Augen

Aus dem Dunkel seufzest,

Und über dir

Der mitleidlose Schlaf

Ungreifbar schwebt,

Ein ruhlos Schattenbild,

Über die müden, wunden Lider schreitend!
[161]

Davon sag' ich nun weiter nichts. Nur von der rührenden Liebe und Freundschaft der andern, Frau Klaras und ihrer Söhne, Paul Heyses, auch seiner Kinder, sag' ich noch ein Wort. Sie vergoldeten mir jede gute Stunde, verkürzten mir die Einsamkeit, in die mich die krankhafte Scheu meiner Nerven trieb. Ich konnte endlich nicht mehr die Orgel am Sonntag in unserer Kirche (wir wohnten in einem ehemaligen Kloster), nicht das Niederstoßen eines Bierseidels im lebhaften Gespräch ertragen. Als wir im September nach München zurückkehrten, ging ich aufs Marsfeld in die Nervenschule: während die jungen Trommler sich im Trommeln übten, übte ich mich darin, ihnen zuzuhören. Nun, ich lernt' es auch. In der langen Seeoner Ruhe hatte ich doch wieder Kraft gesammelt.

Aber erst in München fand ich besseren Schlaf. Als der Oktober kam, konnte ich gegen Lenbachs »Auf nach Seeon!« wieder »Auf nach Rom!« sagen. Und so hielt ich dem Hans doch mein Wort: im Herbst er und ich ins »gelobte Land« zurück![162]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Aus der Werdezeit. Erinnerungen. Neue Folge, Stuttgart, Berlin 1907, S. 148-163.
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