VII

Bezirksfest in Wolfratshausen. Künstlerfest auf der Rottmannshöhe. Jubelfeier der Stadt München. Hirschgarten-Idyll. Nymphenburger Kürassiere. Doktor der Philosophie

[84] In diesem gesegneten Sommer und Herbst 1858 sollte ich nun auch den bayrischen Stamm in seiner warmblütigen und poesiereichen Eigenart vielfach kennen lernen, wie ich mir's gewünscht; und so wenig damals die allgemeine Stimmung uns Norddeutschen günstig war, ich persönlich habe meine bayrischen Landsleute zumeist in ihrer liebenswürdigen Sonnigkeit gesehn. Es begann eine Reihe von Festen, das erste bald nach unsrer »Verlobungsreise«, als wir wieder im Schlößt wohnten: das landwirtschaftliche Bezirksfest in dem sehr hübsch gelegenen Marktflecken Wolfratshausen, an der Isar aufwärts. An diesem Fest war mir neu und gefiel mir sehr, daß die sich beteiligenden Gemeinden und Ortschaften, zur Kundgebung besonderer Fertigkeiten und erfinderischen Ehrgeizes, je einen Wagen ausrüsten, verzieren und in eine Art von Lebensbild umzutäuschen suchen. Das hatten wir schon an dem Fuhrwerk gesehn, das unser Ebenhausen in Gemeinschaft mit Neufahrn und Unterschäftlarn gerüstet hatte: ein mächtiger Wagenbau war gezimmert, ohne Seitenwände gelassen, und auf breiter[84] Bretterlage eine Sennhütte naturgetreu aufgebaut; ein Vorplatz bedeutete ein Stück der Alm, ein kleiner Brunnen floß, alles war dem Leben zierlich nachgebildet. Oben aber erhob sich eine gewaltige Krone aus Laub und Blumen, und Gewinde schlangen sich überall herum. Eine Menge geschmückter Kühe sollte das Gefährt begleiten und mit gewaltigen Glocken (die zum Teil nichts anderes als Kessel waren) ein weithinschallendes Konzert aufführen; auch hatte man einen wahrhaft mephitisch duftenden Geißbock aufgetrieben, der mit seinen ungeheuren Hörnern die Wirkung vollenden sollte.

Neugierig waren wir also schon zur Genüge; und am Sonntagmorgen zogen wir Männer beizeiten hinaus, um nichts zu versäumen. Auf allen Wegen wimmelte es von festlich geschmücktem Volk; der Ebenhäuser Wagen schwankte langsani auf der Fahrstraße dahin, die Kühe mit betäubendem Geläut, der Bock mit unermeßlichem Gestank alles Land erfüllend. Wir kamen in das von unzähligen Fahnen blauweiße Wolfratshausen, auf allen Straßen rollten die Festwagen heran; die Böller auf dem Kalvarienberg krachten häufiger, der Zug bildete sich, blau und weiß gekleidete Knaben und Mädchen marschierten auf, Musikchor, Bürgerwehr, Schützenverein, hoch zu Roß die stattlichen Förderer und Anführer des Festes. Draußen auf einer reizend gelegenen Wiese an der Isar erwarteten uns in einem weiten Kreis Buden aller Art, Glückshäfen, Erfrischungen, Karussel, Steinadler aus dem Orient, Pulcinell, Somnambule, Temperamentsblätter, Seiltänzer und so weiter mehr, das alles nach diesem winzigen Nest zusammengeströmt, als wär' es Olympia.[85] Auf einer Tribüne nahmen der Landrichter und die »Honoratioren« von nah und fern Platz; endlich kam der Zug, schlängelte sich zweimal vorüber, erst beim zweiten Mal preisgebend, was er an dramatischem Leben zu zeigen hatte. Aus Eurasburg war ein ungeheures Bierfaß gekommen, fünfundzwanzig Eimer haltend; inwendig war's eine Kneipe, aus der die Bewohner des Fasses Bier ausschenkten. Aus Holzhausen ein schlankes, reich bewimpeltes Schiff, alles blau und weiß, auch die Ruder, mit denen die Schiffsleute gewaltig arbeiteten; vorne stand eine stattliche Maid in würdevoller Haltung, auf dem Verdeck kramte man gefangene Renken (Fische) aus. Dann aus dem dazu gehörigen Tambach eine Art Dielenraum mit einem wunderlichen Ofen, in dem die Renken geräuchert wurden; es sah lustig aus, wenn der Anführer die ganzen Reihen der Fische, an einen Stab gehängt, hervorzog und unter das vergnügte Volk verteilte. Aus Königsdorf die zwölf Monate, zwölf Lebensbilder, sinnige Gruppen, in ebenso vielen schön geschmückten Nischen reizvoll angeordnet. Aus ich weiß nicht wo ein einfacher Tannenwald, auf dem Wagen aufgepflanzt; an einem Ende hackte ein Mann Holz, wie es schien, am andern hieb ein zweiter in einen besonders hochaufragenden Baum, bis er ihn zum Jubel des Volkes fällte; dann fuhr der Wagen weiter, und auf einmal stand der Baum wieder unversehrt aufrecht da. Aus Icking ein großer, unschöner Kasten von Stroh; beim zweiten Vorbeizug fiel er auseinander und eine Tenne kam zum Vorschein, auf der acht Kerle mit großem Lärm schön im Takte droschen. So könnte ich noch viel[86] erzählen; fast immer war eine sinnig heitere Handlung im Bild. Auch auf dem Ebenhäuser Wagen erschien eine schmucke Sennerin mit ihrem Burschen, holte Wasser vom Brunnen, tat Butter und Käse in ein Gesäß. Stellt man sich nun noch vor, daß jedem Wagen eine kleine, geschmückte Schar vorausritt oder ein Wagen mit einer Musikbande ihn begleitete, so wird man wohl mit uns staunen: was für ein lebensvolles und erfindungsreiches Volksfest bei so unbedeutendem Anlaß, wie ehrenvoll für das feiernde Volk!

Wenige Tage später kam aus München Friede Eggers mit einem Freund, mich zu einem anderen Fest abzuholen, dem letzten der diesjährigen Münchener Künstlerfeste, das am Starnbergersee auf der Rottmannshöhe gefeiert ward. Wir drei wanderten im allerschönsten Septemberwetter hin; auf dem waldigen Hügel, den der Landschaftsmaler Rottmann besonders geliebt hatte, dem langgestreckten See und der Alpenkette gegenüber, verbrachte eine festlich heitere Menge nach Künstlerart einen goldenen Tag. Man lagerte unter den Bäumen und auf dem Rasen, aß und trank aus freier Hand; zierliche Ausschmückung des Festplatzes, Musik, viele Redner, Männerchöre, Tanz. An einem Baum stand ein Kanzelchen, auf dem erschien unter andern ein Münchener Regierungsrat (sein Name will mir nicht einfallen), der als »Frater Hilarius« an solchen Tagen mit vielem Glück witzige und anmutige Reimreden hielt. In einer braunen Kutte, die Kapuze über dem Kopf, so daß er auch für das »Münchener Kindl« gelten konnte, trug er sein' Sach' unter fröhlichem Beifall vor. Auf einmal[87] stand dann ein anderer auf der Kanzel, dessen Kopf schon zu der allgemeinen Fidelität nicht zu stimmen schien: mächtige Nase, gepreßte Lippen, himmelnde Augen; es mochte eher der Prediger einer etwas fanatischen Sekte sein. Als er dann gar die Lippen öffnete und sein lautschallendes »Festgenossen!« sprach, erschrak ich und wohl alle mit: eine Hasenscharte oder eine ähnliche Mißbildung entstellte seine Sprache so, daß es zum Lachen reizte. Wollte der hier reden? Und mit dem Gesicht? – Hier sollte ich nun aber erleben, was ein starker Wille und ein begeistertes Gemüt vermag. »Festgenossen!« Er wiederholte das Wort, unbeirrt, etwas deutlicher; er trieb seine Zunge unentwegt über alle Hindernisse, er schilderte diesem Wald voll Menschen, was für ein hohes und schönes Wunder so ein Festtag sei. Wie er sich hier selig fühle, an dieser kunstgeweihten Stätte unter kunstdurchglühten Jüngern der Schönheit, im Jubellicht der Mutter Sonne, das lebendige Lied der Freude zu vernehmen, die uns aus Menschen zu Göttern macht. Ja, das Lied der Freude, aus der die Begeisterung quillt, die dem Künstler den Odem gibt. Denn ohne Begeisterung wird nichts geschaffen, das wieder zur Freude führt, das uns selig macht....

Ungefähr in diesem Sinn sprach er fort. Seine himmelnden Augen waren schön geworden, sie zogen uns zum Himmel mit. Sein Sprechfehler war vergessen oder es rührte nur, daß ein Mann mit diesem Gebrechen so kunst- und glückselig sprach. Man hörte mit Andacht sein Begeisterungsevangelium, die vielen guten und sinnigen Worte. Am Schluß brach der Beifall[88] los. Von den Rednern auf dieser Kanzel hatte er den größten Erfolg.

Nun erfuhr ich erst, wer es war. Hermann Allmers aus Rechtenfleth an der Unterweser, der Verfasser des Marschenbuchs.

Noch ein beredter Fremdling wirkte auf mich, aber ohne Worte, nur durch seine Schönheit: eine junge Nordamerikanerin, unter dem reichen Mädchenflor die reizendste, »als weiße Taub' in einer Krähenschar«, wie der so plötzlich verliebte Romeo sagt. Ebenso plötzlich war ich's auch; aber nicht so dauerhaft. Immerhin lange genug, um hernach die Ebenhäuser im Schlößl mit meiner Schwärmerei zu »elenden«, bis sie an ihren Entladungen starb. Das Mädchen aus der Fremde war zu früh vom Waldfest verschwunden, und ich hab' sie nie mehr gesehn.

Am Abend fuhren wir – wir andern – über den See nach Starnberg zurück, in ungezählten großen und kleinen, schön verzierten und bewimpelten Gondeln, die den dunkelnden See mit ihren tausend Fackeln und Papierlaternen erhellten. Es war aber ein Lichterspiel um uns her, wie man es selten sieht: hinter uns Wetterleuchten, seitwärts der Mond, ihm gegenüber der langgeschweifte große Komet dieses gesegneten Jahres, am Ufer mächtige bengalische Flammen (dazu Musik und Gesang); bis uns nach langer, langsamer Fahrt in Starnberg ein herrliches Feuerwerk als letzter Lichtgruß empfing.

Nach diesem Natur-, Kunst- und Schönheitsfest konnte nur noch ein großes, historisch bedeutungsvolles wirken: die siebenhundertjährige Jubel- [89] feier der Münchener Stadt, die vier Tage später, am 27. September folgte. Wir hatten inzwischen Ebenhausen verlassen, wo ich mich zu letzt in das Studium von Schillers philosophischen Schriften schön vergraben hatte; in München empfing uns nach der Paradiesesstille eine Völkerwanderung, die hereinflutete, um den großen historischen Festzug der Jubelfeier zu sehn. Sieben Jahrhunderte in geschichtlichen und allegorischen Aufzügen, in treuen Kostümen, von einer gewaltigen Menschenmenge dargestellt, zogen fünf Stunden lang durch die Straßen der festlich aufgeputzten Stadt; ein glänzender Zug, weniger sinnvoll in den Allegorien, als phantasiebelebend durch die Fülle der lebendig gewordenen Trachten, Rüstungen, Waffen. Alle großen Männer des Gebirgs waren aufgeboten, viele prächtige Riesen darunter; man staunte vor allen die Tölzer und die Jachenauer, die Tegernseer und Schlierseer an. Friedrich Eggers, als Herausgeber des »Deutschen Kunstblatts«, schmuggelte sich und mich unter die »Künstler« ein, die am Schluß mitmarschierten; wir sahen alles aus bester Nähe, bis es günstiger war, zu desertieren und den Zug anderswo wieder als Zuschauer aufzusuchen. So hab' ich ihn dreimal gesehn; zuletzt war er doch wie ein Rausch oder Traum vorüber.

Wahrhaftig lebendig ward er erst am Abend des nächsten Tages auf dem Festbankett, das – ein hübscher Gedanke – das fünfzehnte Jahrhundert den andern im »Odeon« gab. Im Hauptsaal tafelten die kostümierten, das achtzehnte mit eingeschlossen; für die schwarzen Gäste aus dem neunzehnten Jahrhundert[90] – die Gesangvereine und unzählige Privatpersonen, darunter auch Eggers, Frau Klaras Bruder Baurat Hitzig und ich – war in einer Reihe von kleinen Sälen um den großen herum gedeckt. Das fünfzehnte Jahrhundert, als Wirt der andern, wartete mit dem biedersten Eifer auf: Söldner, Pagen und anderes Volk; moderne Kellner mußten freilich helfen. Eggers und ich freuten uns besonders an den kleinen Pagen, unter denen einige allerliebste Buben waren; wir machten mit ihnen Bekanntschaft, und da wir hörten, daß man ihnen zum Selbstessen wenig Zeit und Stoff gelassen, schleppten wir die lieblichsten zu unsern Plätzen, holten Bier und Speisen und fütterten sie nach Lust. Unterdessen ging das Fest seinen Gang: viele Reden, Musikstücke, Nationalhymnen, alles mit der etwas trocken sentimentalen Gemütlichkeit, die am Bayern nicht das beste ist. Als aber das Bier zu wirken begann (was bei diesen festen Männern seine Zeit braucht) und der endlos strömende Champagner ihm half, ward die Sache heiter, und in alle Jahrhunderte kam Leben und Natur. Kaiser Ludwig der Bayer wurde gemütlich und trank mit seinen biderben Herzögen und Schweppermänuern Brüderschaft; die gezopften und gepuderten Akademiker fraternisierten mit Tillyschen Lanzknechten, und die stattlichen Pappenheimer ließen sich vom neunzehnten Jahrhundert mit männlicher Grazie den Hof machen. Herzog Ludwig der Strenge winkte seinen Getreuen, ihn hinauszuführen, um »a bissel zu speien«; die wehrhaften Mannen aller Zeiten aber scharten sich von Zeit zu Zeit zusammen, ein seltsames Wallensteiner Heer, hielten dröhnenden Umzug durch den[91] Saal, fochten und scharmützelten mitten zwischen den engen Tafelreihen, »daz der sal erdôz«. Dazu rauschte eine noch nie gehörte Musik, ein echter, alter Marsch aus Prinz Eugenius' Zeit, mit dem die bayrischen Hilfstruppen 1688 zu Belgrads Erstürmung aufgespielt; eine harte, knorrige Melodie, wild und blutdürstig, in dieser Umgebung von fast unheimlicher Wirkung, so daß man nicht ermüdete, sie immer von neuem zu hören. Plötzlich blitzte dazwischen eine lustige Tanzmusik auf, und nun fuhr der elektrische Funke durch die Beine dieser tapferen Waffenbrüder; wo's am engsten war, packten sie sich, ohne Unterschied der Person und des Jahrhunderts, auch den Freund im Frack nicht verschmähend, und tanzten im wahren Sinne des Wortes über- und durcheinander.

So ging's lange fort, doch vor immer abnehmendem Volk. Als auch Eggers und ich gegen Morgen abzogen, waren die weiten Räume fast leer; Ludwig der Strenge wachte längst nicht mehr, Ludwig der Bayer nahm die Huldigungen seiner Knappen mit verglasten Augen und hoher Gleichgültigkeit an, und ein Metzger aus dem fünfzehnten Jahrhundert war der Haupthahn und der lustigste Zechbruder geworden; freilich gab ihm auch sein riesiger Knochen- und Muskelbau das Recht, alle Kaiser und Herzöge zu überdauern. Aus der tiefsten Ecke sang aber noch ein sanfter, anmutiger Tenor mit tiefster Brummstimmenbegleitung »Den Frauen Heil« in die geisterhafte Maskerade hinaus.

Jener wilde Belgrader Marsch, Max Emanuels-Marsch genannt, ward seit diesem Bankett eine Münchener Nationalmusik; seine barbarische Sturmkraft und[92] Größe verdiente es. Im November hörten ihn auch Kuglers, der Berliner »Madonnenpietsch« Amsler und mein wiedergekehrter Schwager Friedrich, als wir spät abends ins Englische Kaffeehaus gingen und eine Musikseligkeit erlebten, wie sie selbst bei den Bayern selten ist. Bei ein paar beliebten süddeutschen Musikstücken brach die schon lange angewachsene Begeisterung endlich wie ein Gewitter los; mit Händen und Füßen arbeitete das Publikum – voran eine Menge von Offizieren – im Takte mit, begleitete die packendsten Stellen mit Singen und Pfeifen, erstürmte Dacapos und Zugaben – und nun spielte die Kapelle auch den Belgrader Marsch. Da ward es ein Orkan von Begeisterung.

Übrigens, wen soll's denn wundern? Hat nicht der bayrisch-österreichische Stamm Gluck und Mozart, Haydn und Schubert, Lanner und Strauß hervorgebracht?

Musikseligkeit fanden wir überall, im Dorf wie in der Stadt. So in eilwm ländlichen Wirtshaus am Hirschgarten bei Nymphenburg, wo Eggers und ich im Mai ein reizendes Idyll entdeckt hatten: gemütlich herzliche Wirte, zutrauliche Kinder, tausendstimmiges Waldvögelkonzert und Scharen von Rehen um uns her, die sich ein Vergnügen daraus machten, uns aus der Hand zu fressen. Damals waren wir oft hinausgepilgert; im Oktober kamen wir wieder hin, konnten noch vor dem Haus unter dem blauen Himmel sitzen, die sich herbstlich schön färbenden Bäume um uns her. Wir aßen zu unserm Kaffee Kirchweihnudeln, die uns die Wirtin mit Gewalt verehrte, die Rehe weideten sich bis zu uns heran, und in Gemeinschaft mit Schafen,[93] Hühnern, Enten und Tauben schmausten sie von unsern Nudeln mit. Das Holdeste war aber, mit den drei allerliebsten Kindern – die Älteste schon fast dreizehn alt – zu schäkern und zu plaudern; sie waren zutulich wie zu alten Freunden und gaben uns beim Scheiden noch eine Strecke das Geleit durch den Wald. So wanderten wir denn gleich am nächsten Abend wieder hinaus, mit einem Berliner Freund, Max Geppert; diesmal hatte aber Meister Hasselschwert das Wort. Hasselschwert war ein Münchener »Künschtler«, der mit seiner Musikbande durch die Wirtshäuser zog, um vor allem durch seine halbdramatischen Gesangsvorträge zu ergötzen; er konnte viel, er war reich an wirksamer Mimik; der vortreffliche Wiener Komiker Matras hat mich später stark an ihn erinnert, wenn Matras auch hoch über ihm stand. Auch in dieser abgelegenen Hirschparkkneipe fand der große Mann sein Publikum; eine lustige Gesellschaft in blauer Kirchweihmontagsstimmung saß in dem dunstigen Saal beisammen und bewunderte und beklatschte ihn ganz so feurig, wie er es verdiente. Daß seine Vorträge mit Zweideutigkeiten jeder Art gefüllt waren, störte auch hier draußen nicht, es erhöhte die Stimmung nur; auch die liebe Weiblichkeit nahm ganz und gar keinen Anstoß daran, so wenig wie in Wien und Paris. Ich sah hier das harmlos fidele Volk so recht in sinnlicher Gemütlichkeit schwimmen; Freundschaft, Wohlwollen, gute Laune, alles sprach sich gleich in Umarmungen aus, und jeder meinte offenbar, es gehöre sich so. Wir Fremdlinge waren keine Spaßverderber; man nahm uns wie Freunde auf, die Kinder und die Wirtin hielten[94] sich gern zu uns, die stattliche und feurige Kellnerin Christine bewarb sich um unser Wohlwollen, und die Schwester der Wirtin, die allerliebste Anna, die beste von ihnen allen, die wir zum ersten Mal sahen, war sogleich zutraulich und freundschaftlich. Bei ihr sah ich wieder wie bei meinen Berliner Schusterstöchtern, an die ich erinnert ward, was die schlichte Feinheit der Seele tut; sie war auch nicht schön, aber der Ausdruck des guten Gesichts so unendlich echt, natürlich, wahr, so ganz liebenswürdigste Rasse, daß man sie liebgewann. Ich dachte nach dem Berliner Tierarzneischulplatz hinüber und sah alles zugleich, das Ähnliche und den Unterschied.

Es lockte mich, sie wiederzusehn; zwei Tage später führte ich Friede Eggers nach dem nahen Gern an der Würm, wo sie ihrem Bruder, dem Gastwirt und Revierförster, die Wirtschaft führte. Sie freute sich herzlich, daß wir unser Versprechen, sie zu besuchen, schon so bald erfüllten, war sehr liebenswürdig. Hier sahen wir nun aber noch einmal das bayrische Volk im Bann der Musik und in der wohlerhaltenen Reinheit und Kraft seiner alten Art. Eine stattliche Schar von Nymphenburger Kürassieren brach in die Wirtsstube herein; nachdem sie ihre weißen Reitermäntel abgelegt hatten, streckten sie die langen Glieder behaglich aus und begannen ihren Saufkomment, ein wunderliches, höchst ergötzliches Gemisch aus unserm Hospiz, Landesvater und Rundgesang. Sie erstiegen dabei alle Gipfel der Lustigkeit. Ein besonders stattlicher Kürassier begleitete alles auf der Zither mit entzückender Meisterschaft. Diese wilden Kehlen, diese bärtigen Gesichter, nach dem Schnitt der[95] alten Zeit gemacht, dieser üppige, derbe Humor und die selbstbewußte Behaglichkeit: das alles gab ein so lebendiges Bild, man konnte sich ohne jede Mühe in die Zeit der Wallensteiner versetzen.

So hatte ich denn nun doch Land und Volk nicht umsonst gesucht und fühlte schon tief in Sinn und Seele, was uns Deutschen Süddeutschland ist. Unterdessen hatte die große historische Kunstausstellung ausgelebt, ich viele halbe Tage allein und mit andern in ihr verbracht, und meine langen Lehrjahre auf dem Gebiet der bildenden Künste mit Erfolg begonnen. Vor Ebenhausen sah ich noch als müßiger Beschauer gleichsam von oben herab – wie so viele tun, ohne es zu wissen – urteilte raschen Blicks nach Intention, Gegenstand, idealem Gehalt; nachdem ich in Ebenhausen aufmerksamer, tiefer in Natur- und Menschenleben hineingesehn, dann in München mit erfahrenen und gescheiten Künstlern so schauend und horchsam wie möglich verkehrt hatte, begann mir das eigentlich Malerische aufzugehn, mit dem die Malkunst lebt und stirbt. Als Studiosus der Geschichte aber hatte ich mit Bernhard Kugler die Ehre, zu den Historischen Abenden hinzugezogen zu werden, die Sybel vor Beginn des Winters stiftete; wir beiden die einzigen Studenten in einer kleinen, hochansehnlichen Gesellschaft. Als werdender Schriftsteller trat ich mit ein paar verwegenen Abhandlungen in Paul Heyses Literaturblatt ein; als Redakteur des Kunstblatts schrieb ich noch einige Kleinigkeiten, bis diese große, schöne Seifenblase zerging. Das »Deutsche Kunstblatt« starb (für mich war es vielleicht ein Glück) an dem Mißmut und Wankelmut des hypochondren[96] Verlegers, der die sicheren Unkosten und die unsicheren Erträgnisse scheute.

So konnte ich mich nun ganz auf mein nächstes Ziel werfen, das zwar eigentlich nur ein Titel war: Doktor der Philosophie. O was für ein Winter! Wieviele dicke Bücher, die ich von Anfang bis zu Ende las; wie viele Merkzettel, die ich mit Namen, Daten und Zahlen füllte. Ein »stumpfsinnigmachendes Auswendigbehaltenmüssen«, wie ich mit einem grimmigen Seufzer nach Hause schrieb. Aber wir hatten ein Wort, mein Schwager Friedrich und ich, das wir aus Geibels »Brunhild« genommen hatten, das uns immer stärkte, Hagens letztes Wort am Schluß: »Sei's drum! Als Männer tragen wir auch das.«

Und so ward ich denn auch vor Ostern 1859 in Rostock, sogar summa cum laude, wie das ungebührlich schmeichelnde Diplom sagte, Doktor der Philosophie.[97]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Aus der Werdezeit. Erinnerungen. Neue Folge, Stuttgart, Berlin 1907, S. 84-98.
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