Beim Fürsten Bismarck in Friedrichsruh

(1895[235] 2)

In diesen Tagen, wo alle Erinnerungen an den großen Einsiedler von Friedrichsruh erwachen, stehen auch die meinen auf; ja Ihre freundliche Stimme lockt sie, an das Licht zu treten. Zweifelnd frag' ich mich freilich: sind sie dessen wert? Vier Jahre sind sie schon alt; zwar noch nicht getrübt; vielmehr wunderbar lebendig für einen wie ich, der so vieles vergißt. Nur einmal war ich in Friedrichsruh; nur am Winterabend, aus der Nacht in das helle Schloß hinein und wieder in die Nacht hinaus. Kaum wüßt' ich zu sagen, wie das Haus auf der Erde steht. Bis auf diesen Tag kam ich nicht wieder hin; der freundlichen Einladung des Fürsten zu folgen hinderte mich bald dies, bald das, wie das Leben schon ist. Werden Ihre Leser wirklich gerne hören, wie ich vor vier Jahren vier Stunden in Bismarcks Hause verlebte?

Wenn ich die zögernde Feder doch eintauche, so tu' ich es mit einem Hintergedanken, den ich Ihnen preisgebe: mit dem tiefen Verlangen, nach alter deutscher Art mich zu meinem Helden als sein »Mann« zu bekennen.[235] Als ich mit Freund Lenbach, dem ständigen Weihnachtsgast von Friedrichsruh, die Verabredung traf, ihn dort zu besuchen und auf diese oder jene Weise auch den Fürsten Bismarck zu sehen, trieb mich natürlich auch die »Neugier«, des Dichters wie des Menschen; mehr aber ein Gefühl der Zugehörigkeit, das schwer auszudrücken ist. In einem Brief, den ich einige Tage nach meinem Besuch an den Fürsten schrieb, hab' ich es zu sagen versucht: »Ich würde mich falsch bezeichnen, wenn ich mich nur einen Ihrer feurigsten Verehrer und Bewunderer nennen würde: ich gehöre zu den nicht sehr häufigen (und zum Aussterben vorgemerkten) Menschen, denen Sie recht eigentlich das Glück des Daseins erst ermöglicht haben. In den Jahren meiner Jugendkraft gemartert und gefoltert durch die Zerrissenheit unseres Volks, die Posse des deutschen Bundes, die Schmach unseres ganzen Zustands, die Ohnmacht des einzelnen, den halberstickte Tränen des Grimms und der Scham nicht befreien konnten – in diesem verzehrenden Elend erlebte ich in Ihnen den Befreier, den Erretter, der mich selig machte, vor dessen Größe ich mich mit Gefühlen der Dankbarkeit beuge, die kein Wort umfaßt...«

So kam denn der ersehnte Tag, an dem ich zu diesem »Erretter«« pilgern sollte; ich mit meinem Sohn, dem fünfzehnjährigen, von Begeisterung und Verehrung durchglühten; nur ein steinernes Vaterherz hätte ihm versagen können, auf der Pilgerfahrt mitzuziehn. Es war eine grimmig kalte Zeit, Ende 1890; als wir am Morgen des 30. Dezember durch die Straßen von Hamburg und zum Hafen gingen, blies ein schneidiger, hautzerbeißender[236] Nordost bei 15 Grad Reaumur unter Null; auf der Elbe krachte das zertrümmerte, zerkrümelte Eis, in dem die unzähligen kleinen Dampfer rastlos hin und her fuhren, die neblige Luft mit ungeheuren Dampfwolken erfüllend. Wir wanderten im neuen Freihafengebiet, wo sich das Ameisenleben wie im Sommer rührte; eine neue Welt, auch sie einer von den steingewordenen Gedanken unsres Reichsbegründers, dessen vorwärtsdrängende Zähigkeit nicht ermüdete, bis sie die Zähigkeit der Bequemen und der Ewigbesserwisser überwand.... Der Mittag kam, und mit ihm Freund Lenbach; er wollte einige Stunden mit uns in Hamburg verleben, eh er uns nach Friedrichsruh und zum »Alten« führte. Daß wir dessen Gäste sein sollten, war schon abgemacht; Lenbach, der durch das Leben gereifte Diplomat, der Schüler Bismarcks und Moltkes, hatte beim letzten Diner über den Tisch hinüber hingeworfen: »Der Wilbrandt kommt von Rostock, um mich zu besuchen. – Er bringt auch seinen Buben mit. – Er möcht' aber auch gern Durchlaucht kennen lernen. Wie machen wir das, Durchlaucht?« – »Wir laden sie zum Essen ein,« antwortete der Fürst. Diese Botschaft war denn noch nach Rostock geflogen, eh wir von dort abfuhren: »zum Diner; ohne Frack!«

Es ward endlich sechs Uhr, wir stiegen vor dem Friedrichsruher Schloß aus dem Wagen aus. Ein Schloß? Eine Fürstenwohnung? Nein; das einfache Haus eines großen Menschen, den die Eitelkeit der Welt nie besessen hat; der nur für seinen gewaltigen Körper eine gute Küche, einen guten Keller, und für sein rastloses Gehirn einen geräumigen Arbeitstisch braucht. Es[237] ward mir wunderbar »preußisch« zu Mut, als ich durch das Haus ging; zuerst zu Lenbachs Zimmer hinauf, dann nach unten zurück. Nichts von Prunk und Pracht, nichts von »Eleganz«. An den Türen im ersten Stock sah ich noch die Nummern, offenbar aus der Zeit, als dieses Haus ein Gasthof am Sachsenwald war. Alles hell, die Türen, die Fenster, die Wände; große, lichte Räume von ruhigster Einfachheit, gutes, warmes Obdach bei der »Hundekälte«, behaglich und weiter nichts. So vornehm und schlicht stand dann auch die Hausfrau vor mir; die ruhige, scheinlos würdevolle Gestalt mit den klugen, milden, menschenfreundlichen Augen; ein großer, unvergeßlicher Kopf, wie vom Schicksal dazu bestellt, den Mann, der so hohe Wege ging, frei von aller Eitelkeit und mit dem reinen, sachlichen Verstand eines hingebenden Herzens zu begleiten.

Ich begrüßte sie, und an ihr vorbei sah ich in der Tiefe des Saals ein Bild, das mir das Herz ergriff. Auf einem Sofa, ganz mit sich allein, saß der Fürst; er hatte noch nicht bemerkt, daß Fremde eingetreten waren; tief in sich zusammengesunken, die rötliche Gesichtsfarbe verblaßt, alte, welke Züge, so schien er auf den »Trümmern Karthagos« zu sitzen und über dieses scheidende Jahr, das seinen »Sturz« erlebt, über den Undank des Lebens nachzudenken. In diesem Augenblick erschien er mir wirklich als ein alter Mann... Wie anders hatte ich ihn gesehn, als ich die Heldengestalt zum erstenmal erblickt: vierundzwanzig Jahre früher, im September 1866, beim Einzug der siegreichen Truppen in Berlin. Ich saß auf einer der großen Tribünen des Pariser Platzes; durch das Brandenburger[238] Tor ritten sie in der weichen warmen Südluft heran, hinter dem König Wilhelm seine Paladine; Bismarck zwischen Moltke und Roon, im Waffenkleid wie sie. Eine ergreifende Blässe deckte sein Gesicht, denn er hatte mit einem starken Unwohlsein zu kämpfen; er saß aber aufrecht und fest, wie aus Stein gehauen, mit den fernwirkenden gewaltigen Brauen und dem mächtigen Knebelbart, in ehernem Ernst, als ritte der Geist der Geschichte durch das Tor der Zeit. Da sah ich den Helden, den germanischen, wie das Herz ihn träumte. Find' ich den nun nicht mehr? fuhr mir durch den Sinn. Überlebt sich alles? Komm' ich schon zu spät?

Doch nun erhob sich der »Alte« auf dem Sofa, und lässig aufgereckt, in ruhiger, behaglicher Würde stand die volle, hohe Gestalt vor mir und meinem »Buben«, ins Leben zurückgekehrt; von den Trümmern Karthagos war nichts mehr zu sehn. Wenige Augenblicke hatten ihn verjüngt; mit freundlichem Hausherrnblick begann er das Gespräch; mit dem ruhigen, wartenden Blick der vordringenden Augen, der zwischen seinem durchbohrenden Nahblick und seinem Denkerfernblick gleichsam in der Mitte schwebt; denn, um es gleich hier zu sagen: nie hab' ich an einem Menschen so erstaunlichen und leichten Wechsel vom zugreifenden Nahblick des Tatmenschen und vom tiefen, geisterhaften Fernblick des vorausschauenden Weisen gesehn. Wie sich in ihm so viele und verschiedene Kräfte der deutschen Volksart zu einem mächtigen Akkord vereinigt haben: wilde, dreinschlagende Tatkraft, bedächtige Zähigkeit, strahlender Humor, plattdeutsche Gemütlichkeit, selbstwilliger Herrschersinn, hingebende Mannestreue, tiefgrabende Klugheit, hochfahrende[239] Wahrheitsliebe – so gehen von seinem Auge in oft unmerklichem Übergang brüderliche Strahlen der widersprechendsten Menschenformen aus: des Kämpfers, der sich mit allen Kräften durchzusetzen sucht, der in dich hineinbohrt, vor dessen Scharfblick du dich vielleicht gern verstecken möchtest, und des Denkers, der dich gar nicht sieht, der durch dich hindurch in irgend eine Ferne schaut, eine vergangene oder zukünftige, der auf der Welt nichts zu wollen scheint, als aus der Nichtigkeit des Augenblicks in das Wesen der Dinge zu tauchen.

Er wunderte sich mit einer Art von Vorwurf, daß in meinem Sprechen kein heimatlicher, mecklenburgscher Anklang zu bemerken sei; ich suchte ihm kurz zu erklären, wie mein Lebensgang, mein ästhetisches Bedürfnis nach reinster Sprachform mich so »verhochdeutscht« hätte; – übrigens würde er mit mir gewiß zufrieden gewesen sein, wenn ihm eingefallen wäre, Plattdeutsch mit mir zu sprechen. Er zeigte sogleich, wie wunderbar sein Gedächtnis ist: indem er auf die drei Reisen kam, die ihn in jungen Jahren durch Mecklenburg geführt hatten, wußte er noch alle die kleinen Städtchen zu nennen, durch die er gezogen war, und so, wie sie nacheinander folgen. Es erschien jetzt noch ein Gast aus der mecklenburgschen Nachbarschaft: ein Oberstleutnant aus Ratzeburg; für diesen militärischen Besuch hatte der Fürst Uniform angelegt, und mich freute es, ihn darin zu sehn. Indem er nun als »Generaloberst« vor dem Offizier stand und dessen Begrüßung militärisch entgegennahm und erwiderte, erschien er gleichsam in dritter Gestalt: nach dem in sich versunkenen Greis und dem rasch verjüngten Weltmann die lässige Hoheit[240] eines Herrschers, »jeder Zoll ein König«.... Man ging zu Tisch, eine kleine Gesellschaft, denn außer uns drei Zugereisten und Lenbach waren nur die Söhne des Fürsten da (die ich von Wien und Berlin her kannte), die Gattin des Grafen Wilhelm (zugleich eine Nichte Bismarcks) und Doktor Chrysander, der junge Sekretär. Der Fürst, an der Schmalseite der Tafel präsidierend, nahm bald seine vierte Gestalt an, die behaglichste: mehr und mehr schwand die Blässe aus dem heiteren Antlitz, die Farbe des Rotweins schien hindurchzuleuchten; die Urfreude des Lebens: der Genuß der Sinne, durch gesellige Fröhlichkeit geadelt, lächelte aus den strahlenden Augen. Er war der Landedelmann, der sich in der Feierzeit mit seinen Gästen seines guten Kellers erfreut; er durfte es jetzt, denn für ein paar Wochen, bis zum Dreikönigsabend, hatte er Schweningerserien und die Freiheit, mit seiner Diät zu machen was er wollte. Nachdem er schon einige Sorgenlöser erprobt hatte, wünschte er noch einen; Graf Herbert nahm die Kellerkarte und verlas sie mit humorvollem Ernst. Auf einen edlen Rheingauer fiel die Wahl des Fürsten, und mir schien, daß er vortrefflich gewählt hatte. Es lag aber ein großer stiller Humor darin, daß, wie wir bei Tisch erfuhren, dieser Fürst des Weingenusses sämtliche Heidelbeeren seiner Wälder an einen großen Händler verkauft, der daraus Rotwein macht; Rotwein, den der Graf Wilhelm bei irgend einem Festessen in Hannover oder Hamburg kennen gelernt hatte und mit erbarmungsloser Kritik verurteilte.

Das Diner ging zu Ende, Fürst Bismarck reichte seiner Dame, der Schwiegertochter, den Arm, und mit[241] jugendlich elastischem Schwung, der mich überraschte – als wäre er wieder der schlanke Frankfurter Bundestagsgesandte – führte er sie aus dem Speisesaal hinaus. Die Gesellschaft verteilte sich; in einem der großen angrenzenden Räume betrachtete ich mit der Gräfin und Lenbach die neuen Skizzen, die der Unermüdliche nach dem »Altreichskanzler« machte; doch hatte er auch nach den jüngeren Gliedern der Familie dies und das entworfen. Wir scherzten dann hinüber und herüber; es ward eines der scheingroben Scharmützel daraus, wie sie zwischen Lenbach und mir nach alter heiterer Übung immer einmal wiederkehren. Plötzlich stand die hohe Gestalt des Fürsten da. Er hatte wohl eine Weile zugehört. Sein ruhig schalkhaftes Auge hatte einen stummen Frageblick. »Er mißbraucht gern seine geistige Überlegenheit, Durchlaucht,« sagte ich zur Erklärung, auf Franz Lenbach deutend. Mit einem Ausdruck männlicher Anmut, der diesem großen Gesicht ganz eigen und nicht wohl zu beschreiben ist, lächelte der Fürst ein wenig; dann erwiderte er in seiner langsam formenden, doch immer behaglich sicheren Art: »Er mißbraucht sie auch dazu, von den Leuten Karikaturen zu machen,« indem er auf all die alten und neuen Skizzen blickte. Ich erfuhr hernach, daß es sozusagen ein Hausbrauch war, die Lenbachschen Bismarckbilder Karikaturen zu nennen. Im Ernst wird man sie wohl nirgends höher schätzen als dort; wer hätte denn auch, außer Bismarck selbst, so viel dafür getan, ihn der Welt bekannt zu machen, als der Altbayer aus Schrobenhausen, den ein gleichsam symbolisches Schicksal mit dem Altmärker verband. Die Genialität des Malers, durch leidenschaftlich[242] bewundernde Liebe verklärt, grub sich in das Genie des Staatsmanns bis in den Kern seiner Form hinein; wie sie auch das große Moltkeproblem der schaffenden Natur künstlerisch aufzulösen wußte. Die beiden norddeutschen Helden haben ihm vor allem dadurch gedankt, daß sie an seinem nie versagenden süddeutschen Humor reinste Freude fanden, sich daran »ergänzten«. Lenbach ist in Friedrichsruh wie ein Kind des Hauses; und wenn er in den Achtzigerjahren sein Malzelt in Berlin aufschlug, wie oft tauchte dann der lange, hagere Moltke zwischen den Leinwänden auf, um – etwa vor einer saftlos theoretischen Reichstagsrede fliehend – sich an Lenbachs Urfrische und Mutterwitz zu erquicken.

Der letzte Teil des Abends begann, der »gemütliche«: die kleine Gesellschaft fand sich um den großen Kaffeetisch wieder zusammen, der Fürst streckte sich, die ruhebedürftigen Glieder zu schonen, auf mehreren Stühlen aus; die berühmte lange Pfeife ward in Brand gesetzt, und von den Zeitungen, die den Tisch neben ihm bedeckten, wanderte eine nach der andern durch seine Hände und, sobald sie durchflogen war, zu den mächtigen Reichshunden (doch der eigentliche echte Tyras lebte nicht mehr) auf den Boden hinab. Im Lesen hörte er aber, wie es schien, fast alles, was wir sprachen; oft warf er ein Wort hinein, oder eine Rede, oder er wandte sich für eine Weile ganz dem Gespräche zu. Unterdessen war nebenan der riesige Weihnachtsbaum wieder entzündet worden, der noch allabendlich brannte; durch die offene Tür konnte man ihn sehn. Die Fürstin in ihrer sacht geräuschlosen Weise ging von uns in den Saal[243] hinein, und sich in einen Lehnstuhl setzend, der ganz allein mitten in dem großen Raum stand, betrachtete sie lange den strahlenden, verheißungsvollen Baum, den blassen Kopf träumerisch gesenkt; ein merkwürdig rührendes Bild.... Wir sprachen von hundert Dingen, am wenigsten von Politik; die großen Abgründe wurden nicht berührt. Da wir Gäste aus den beiden Mecklenburg gekommen waren, fiel dem Fürsten die Gestalt eines sonderbaren Prinzen ein, der zu einem unserer Regentenhäuser gehörte; von seiner Zeitung aufschauend begann er zu erzählen: wie dieser Prinz im März 1848, damals junger preußischer Gardeoffizier, noch am Morgen nach dem großen Berliner Straßenkampf in kriegerischer Wut in die Häuser bekannter Demagogen oder Demokraten eingedrungen sei und sie mit dem blanken Säbel angegriffen habe. »Nun, das war wohl gut gemeint,« fuhr Bismarck mit seiner humoristischen Trockenheit fort, »aber für einen fürstlichen Herrn doch keine geeignete Beschäftigung....« Der junge Fürstensohn, über die Schwäche der preußischen Regierung gegen die Revolution empört, quittiert den Dienst und verfolgt fortan die Berliner Staatsleitung mit Haß und Verachtung; er bleibt dabei, auch als mit Bismarck ein anderer Wind zu wehen beginnt; ja endlich geht er so weit, vor König Wilhelm zu treten und gegen Bismarck Klage zu erheben, daß er dem König nach dem Leben trachte. »Eines Tages,« fuhr der Fürst fort, »erzählte mir der alte Herr: Wissen Sie, Bismarck, was der Prinz... behauptete Sie hätten Attentatsgelüste gegen mich. Nun, das ist ja wahr: Sie wären der nächste dazu! – Majestät, sagte ich, erlauben Sie: ich denke[244] doch, Ihre Kammerdiener und Ihre Generaladjutanten hätten es ebenso nahe als ich. Aber ich bitte Eure Majestät, wollen Sie die Gnade haben, mir es immer offen zu sagen, wenn ich bei Ihnen angeschuldigt werde; damit ich mich doch verteidigen und rechtfertigen kann. – Da lachte der alte Herr: Aber, Bismarck! Wenn ich Ihnen das alles wiedersagen wollte, was mir gegen Sie vorgebracht wird, da reichte das Jahr nicht aus!«

Indem der Fürst so erzählte, sprach er mit der eigentümlichen, suchenden, pausierenden Langsamkeit, die man an ihm kennt; die mich befremdete, als ich ihn zuerst im Reichstag reden hörte; doch gewöhnt man sich wohl an weniges so leicht wie an diese Sprechweise, da sie, statt den Hörer zu beunruhigen, ihm vielmehr bald das Gefühl der Sicherheit, der Gewißheit gibt, daß ein so geistiger Kopf, der so behaglich-bedächtig an seinen Gedanken formt, sie anziehend gestalten und zu einem guten Ende führen werde. Mich erinnerte sie zuweilen an Salvinis Art, des großen italienischen Schauspielers, der zumal in seinen Monologen durch merkwürdige Pausen voll Geist, durch gleichsam äußeres Spiel des Denkens das, was kommen sollte, so wunderbar vorbereitete, daß einem war, als hebe oder teile sich seine Schädeldecke, als sehe man ihn denken. Freilich, was bei ihm höchste Kunst war, ist beim Fürsten Bismarck schlichte, ungewollte Natur; aber der Reiz des Zuschauens ist doch von ähnlicher Art. Ich sah dabei sehr wohl, daß sich der Schädel nicht hob, nicht teilte; seine reine, herrliche Form veränderte sich nicht – das schönste Schädelgebilde, das ich bis heute gesehn; die Peterskuppel unter den Menschenköpfen. Meine formseligen[245] Augen wanderten so andächtig an diesen Formen herum, daß ich vielleicht nicht immer gehört habe, was er zu mir sagte.

Er kehrte noch wieder zu seinen Zeitungen, zu dem beginnenden Vordringen der Franzosen in Westafrika von Senegambien aus, zurück; doch ließ er unsere Gespräche nicht mehr aus dem Ohr. Wir vertieften uns ein wenig in die Frage, ob man aufhören solle, das Griechische im Gymnasium zu lehren; ein Gedanke, der dem Fürsten offenbar durchaus mißfiel. Als von irgend jemand betont wurde, daß unser Aussprechen des Griechischen so ganz anders sei als das der heutigen »Hellenen«, ließ er die Zeitung sinken und sagte: »Darauf kommt's auch nicht an. Es kommt darauf an, wie Achilles und Hektor ihr Griechisch ausgesprochen haben;« und mit einem seinen, flüchtigen Lächeln setzte er hinzu: »Hektor denk' ich mir mit einem leisen Anklang von trojanischem Dialekt.«

Die letzte Zeitung fiel endlich unter den Tisch; der Fürst gab seine »horizontale Lage« auf und wandte sich ganz zu uns. Wir debattierten über die alte und die neue Fechtweise der deutschen Studenten; in ihm erwachte der alte Mensurenpaukant, er rückte näher, sein Körper beugte sich vor, seine Augen schienen noch mehr hervorzutreten und zu leuchten; er erinnerte mich jetzt an seine Photographien aus den letzten Sechzigerjahren, vor dem französischen Krieg. Als der junge Otto von Bismarck sich in Göttingen schlug, und ebenso noch zu meiner Studentenzeit, galt es für das Rechte, bei aller Schneidigkeit des Angriffs so gedeckt zu schlagen, daß man die feindliche Klinge sich nicht ins Gesicht kommen[246] ließ; wie denn auch Jung Otto von allen seinen Mensuren fast unversehrt heimgekommen ist. Die heutige Studentenschaft ist gegen ihre Haut rücksichtsloser, im Angriff gleichsam wilder, spartanischer geworden: Hieb und Gegenhieb sollen gleichzeitig sein; nur einem Meisterfechter würd' es wohl noch gelingen, von einer langen Reihe von Paukereien ohne jeden »Schmiß« davonzukommen. Der Fürst schüttelte doch den Kopf; die Weise, wie er sie kannte, schien ihm – wie soll ich's sagen – die kunstgerechtere oder stilvollere zu sein. Er verwarf aber die heutige nicht; er wanderte nur mit Vergnügen in seiner akademischen Vergangenheit herum und erzählte uns sein letztes Duell. Lange nach der Göttinger Zeit, als er in Greifswald noch einmal auf die Universität ging, um (wenn ich nicht irre) Landwirtschaft zu studieren, flog ihm ein Zweikampf zu; wie wenig blutgierig er aber dabei war, zeigte die Art seines Angriffs. »Mein Gegner,« erzählte er, »hatte eine sonderbare Mütze auf dem Kopf, obendrauf ein loser, baumelnder Tippel. Das Ding reizte mich; ich hatte die Ambition, ihm den Tippel von seiner schönen Mütze wegzuschlagen. Es wollte aber nicht glücken. Zuletzt sah ich ein, daß ich bei diesem Unternehmen selber tüchtig in Gefahr kam – und ich machte der Sache auf andre Weise ein Ende.«

Viele Jahre später, als Bismarck der Mann mit dem deutschen Michel raufte, ist es ihm geglückt, den Zipfel von Michels Schlafmütze herunterzuhauen.... Oder nicht? Schien auch das nur so? Sitzt der Zipfel noch? Wird er auch im Deutschen Reich bis aus Ende leben?[247]

Lassen wir diese Frage heut am Feiertag.... Und scheiden wir von dem großen Kämpfer, wie damals Wilbrandt und Sohn scheiden mußten, da die Stunde schlug: um zehn mußten wir zur Bahn, um noch bis Hamburg zu fahren, in unsern Gasthof am Jungfernstieg. Die Nacht war kalt wie der Tag, oder kälter; obwohl man in unserm Zimmer so mächtig geheizt hatte, daß die ganze Ofentür noch glühte, erwarteten uns doch kaum 12 Grad über Null. Freilich für die Nacht mehr als genug. Wir lagen in unsern breiten Betten nebeneinander, von den Gefühlen und Erinnerungen dieser Stunden voll; die strahlenden Augen meines Fünfzehnjährigen suchten mich noch lange, die Zunge und das Herz fanden keine Ruhe. Diese echte, schlichte, weltgeschichtliche Größe lag auf seiner jungen Seele.... Endlich schmeichelte ihm der Schlaf doch die Herrschaft ab, und er schloß die Augen, noch einen Ausdruck von Seligkeit auf dem stillen Gesicht.

Guter Junge! dacht' ich, selber noch herzwach, möchtest du, auch wenn der erste Flaum dort längst zum Bart gereist ist, noch so einschlafen können; noch so hingebungsfähig, so bewunderungssroh, so jugendwarm sein! Möchtest du diesen Frühling nie aus der Brust verlieren! – Deutsche Jugend, ihr alle! O daß euch doch kein Thersites, auch der klügste, der wissendste nicht, daß euch kein Loki, kein Teufel in menschlicher Gestalt das Herz so verwirren könnte, daß ihr für die Größe keine Begeisterung, für das Verdienst keinen Dank, für die höchsten Stimmen der Ehre keinen Widerhall im Busen habt! Möchtet ihr nie die Freude des Nergelns, des Verkleinerns, des Kaltlächelns lernen, diese gifthaltigste[248] Freude, die alle ihre edleren und schöneren Schwestern um sich her zerstört. Möchtet ihr jeden verlachen, der euch nehmen will, was euer Bestes ist: euch in Liebe zu beugen vor dem, was durch seine segenspendende Größe sich und euch verherrlicht!

Ich summte mir noch die Verse, die ich zum 1. April desselben Jahres 1890 an den Altreichskanzler als telegraphischen Gruß geschickt hatte:


Mit Wehmut ringt dein Volk heut schmerzerschüttert;

Mit heißem Dank begrüßt es diesen Tag.

Der du wie Wodan durch die Welt gewittert,

Dein Geist der Blitz, dein Mut der Donnerschlag,

Du gabst dann Sonne, Frieden, Frühlingsregen,

Das Land befruchtend, das dein Blitz durchdrang;

Du deines Volkes gottgesandter Segen,

Dich segnet liebend deines Volkes Dank!
[249]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Erinnerungen. Stuttgart, Berlin 21905, S. 235-250.
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