I

[1] Ich meine das alte Burgtheater; denn nur in dem hab' ich mitgelebt. Wie viel hab' ich darin erlebt! – Dennoch sind so viele Jahre vergangen, eh ich mich entschließen konnte, etwas darüber niederzuschreiben; wohl manches »Unwägbare«, Unaussprechbare hat dabei mitgewirkt. Heute wieder einmal aufgefordert, setz' ich mich nun doch am Schreibtisch nieder; das macht meines alten Hermann Schöne Tod. Wieder einer von denen dahin, die mir das Burgtheater waren! Und ich hatte ihn besonders lieb. Von den ganz großen war er keiner, mit unmittelbar wirkender, gleichsam elementarer Kraft war er nicht so gesegnet wie die; aber er hatte alle Tugenden des Schauspielers wie wenige. Er war das vollkommene Gegenteil eines Komödianten und lebte doch ganz in seinem Beruf, der gewissenhafteste und liebevollste Schauspieler, den man sehen konnte. Er machte feinste Goldschmiedsarbeit. Er, der uns in seinen letzten Jahren gezeigt hat, was für ein Schriftsteller auch in ihm steckte, vermochte sich mit schmeckendem Verständnis, mit künstlerischer Wollust in den Dichter hineinzuleben. Er war praktisch wie kaum ein anderer[1] Mensch, er konnte alles. Im Maskenmachen kamen ihm wenige gleich. Nach seinem Urteil fragte jeder. Dazu nun sein tiefer Humor, seine Redlichkeit, seine unendliche Scheu vor allem, was Pose oder Phrase heißt, die Keuschheit seiner Seele...

Guter Hermann Schöne! Wie wenige deinesgleichen haben wohl bis heut auf unsrer Bühne gelebt! – Und das geht nun alles dahin? Auf dem großen Friedhof des Burgtheaters öffnet sich immer wieder ein neues Grabe – Ich sollte doch noch ein wenig davon reden, eh wir alle schweigen. Denn wie jung man sich auch fühlen mag – ich spür' meine Jahre nicht – wer kennt seine Stunde?

Ich habe als Dichter, dann als Gatte einer Schauspielerin, dann als Direktor, Übersetzer, Bearbeiter mit dem Burgtheater gelebt. Als ich es zum erstenmal betrat, anfangs Juni 1871, war ich als Verfasser des Lustspiels »Die Vermählten« nach Wien gekommen, dessen erste Aufführung bevorstand. Von den Darstellern kannte ich noch niemand außer Joseph Lewinsky, den ich als Gast im Münchener Hoftheater gesehen hatte – unter anderm als Franz Moor, den er mehr als zwanzig Jahre später unter meiner Direktion, bei seinem Jubiläum, mit so glänzender Jugendfrische spielen sollte. Mein Glaube aus Burgtheater war groß; ich will gleich bekennen, daß ich einige kleine Enttäuschungen erlebte. Ja, ich fand viel Vornehmheit, Feinheit, anmutvolle Natürlichkeit, nach der ich mich gesehnt hatte; ich erstaunte aber, wie gern doch auch hier im Lustspiel nach derberen Wirkungen gegriffen ward, wie man auch hier zuweilen der deutschen Neigung unterlag, über die Linie[2] zu hüpfen oder zu gleiten, welche die Komödie von der Posse trennt. Die Linie ist oft schmal, ich weiß es; eine kleine mutwillige Bewegung und man ist hinüber. Dieser Versuchung zu widerstehen, ist dem Italiener und dem Franzosen mehr als uns gegeben; sie empfinden darin weiblicher, möcht' ich sagen, unser Gefüge ist männlicher, derber. Und immer gilt wieder Laubes Wort: »Die Galerie muß lachen!« Es ist aber doch noch eine Frage, ob sie lachen muß. Wie schön, wenn ein ganzes Zuschauerhaus von unten bis oben kunstfroh lächeln könnte!

So ungefähr empfand ich damals, und als entzückter Verehrer des Burgtheaters verwunderte ich mich. Wie ward mir dann aber heilig zu Mut, als ich die letzten Proben meiner »Vermählten« miterlebte und die »Burg« bei der Arbeit sah. Der Direktor Franz von Dingelstedt hatte zwar seine vornehm klugen, lidschweren Augen wie immer mehr aufs Äußere gerichtet, auf das Bühnenbild, auf die Stimmung, die die Wände, die Möbel und die Kleider machen; aber mit erstaunlicher Kunst – damals noch so selten, wie sie jetzt verbreitet ist – stellte er die farbige Wahrheit des Lebens hin, und man konnte, man mußte sich in der etwas verrückten Gemütlichkeit eines englischen Landedelmanns und Sonderlings ganz zu Hause fühlen. Er war unermüdlich, bis er sein Mosaikbild beisammen hatte. Dann aber das Seelenbild, die Darstellung vor allem der beiden Vermählten, Adolf Sonnenthal und Auguste Baudius; so ein seines Ineinanderweben hatte ich noch nicht gesehn; und ein schöneres, vollendeteres Duo hab' ich überhaupt nie gesehn. Er[3] hat sie heiraten müssen gegen seinen Wunsch; sie haben sich geeinigt, daß alles bleiben soll wie es war; in der Hochzeitsnacht liest er die neuesten Zeitungen. Es kommt aber ein zweiter Aufzug, und der Dichter bringt die Vermählten Abends in einer Felshütte, auf der Jagd, zusammen: Intrigue einer Schwester, Gewitter, Regensturm, desertierte Pferde, Weg und Steg zerstört. Sie sehen ein, sie werden in der Hütte übernachten müssen. Er findet eine Flasche Wein und ein Glas. Seine ritterliche Liebenswürdigkeit erweckt ein altes, niedergekränktes Gefühl in ihr. Das Gespräch erwärmt sich. Er entdeckt, wie reizend sie ist. Und sie ist seine Frau! – Dann aber ein hereinbrechendes Mißverständnis, Eifersucht, jäher Rückfall der jungen Frau in die erstarrende Kälte. Zuletzt legen sie sich nieder, um zu schlafen, möglichst weit getrennt, er auf einer Bank, sie auf einem Stuhl. Letzte Versuche des Ehemanns, das Eis zu schmelzen. »Sie sagten etwas?« – »Nein! Ich sagte nichts.« – »Gute Nacht, Madame.« – »Gute Nacht.«

Diese lange (einmal lustspielhaft unterbrochene) Szene ward das anmutigste, bewegteste, natürlichste, in Scherz und Ernst entzückendste Spiel, das vielleicht schon den Erfolg entschied. Man befand sich die ganze Zeit in der Sphäre, in der sich der höchste Reiz der Schauspielkunst entfaltet: komplizierte Menschen, durch die man hindurchsieht; alles, was sie sagen und tun, ist volle Lebenswahrheit, und ebenso lebendig wird uns, was sie nicht sagen und nicht tun. Diese vollkommene, beständige Durchsichtigkeit, Seele gegen Seele, gibt das wirkliche Leben nie; nur auf der Bühne finden[4] wir diesen ungekannten Genuß. Und auch da nur, wenn die zur Meisterschaft gediehene Kunst sich in vollendetem Zusammenspiel aufs höchste steigert, wie es im Burgtheater gepflegt ward und insbesondere zwischen Sonnenthal und der Baudius in jenen Jahren aufs schönste blühte.

Der Erfolg der »Vermählten« war groß und dauernd, obwohl er im Juni zur Welt kam. Wir feierten ihn nach der Vorstellung, der Dichter und viele der Darsteller, ich weiß nicht mehr wo. Dann verbrachte ich zu Hause eine der schlaflosen Freudennächte, von denen man sagen kann: dem Glücklichen schlägt jede Stunde.

Dingelstedt liebte das Melodrama; so hatte er auch das Finale dieses Felshüttenaktes mit einer leisen Musikbegleitung versehen, die ich nach der ersten Verwunderung willig anerkannte, da sie den Reiz der sonderbaren Situation in der Tat erhöhte. Die Schwierigkeit war nur, das so sein abgetönte Zusammenspiel der Darsteller auch mit der Musik in demselben vollkommenen Einklang zu erhalten; das gelang fast nie. Der höchst empfindlichen Künstlerseele Adolf Sonnenthals war das Orchester bald zu leise und bald zu laut; und bei den späteren Aufführungen war es oft eine Tragikomödie, ihn in seiner ohnmächtigen Empörung auf der Bank zu sehen, so lange der Vorhang oben war. William-Sonnenthal hat der Arabella-Baudius ritterlich seinen Mantel angeboten, sich damit zuzudecken; sie hat ihn »kalt wie Eis« abgelehnt, er legt ihn auf einen Stuhl in der Mitte, auf »neutralen Boden«. Als er nun mit geschlossenen Augen daliegt – leise (oder auch zu laut) spielt die Musik – schleicht[5] Arabella in ihrer Eifersucht zum Mantel hin, in dem sie ein Briefchen weiß, das sie lesen möchte. Er hört's. »Sie entschließen sich doch zum Mantel?« fragt er mit seiner weichen Sonnenthal-Stimme. »Ja, ich entschließe mich.« Sie liest heimlich das Brief chen, das sie falsch versteht. Sie steckt's wieder in die Manteltasche. Er, da sie noch dasteht: »Sie besinnen sich noch?« – »Nein.« Sie geht mit dem Mantel zu ihrem Stuhl. Leise (oder zu laute) Musik. Arabella faßt einen erregten Entschluß, vor sich hin. Er, weich wie je (inwendig rasend): »Sie sagten etwas?« – »Nein. Ich sagte nichts.« Sie setzt sich wieder auf ihren Stuhl. Er, in seiner Rolle unwillkürlich seufzend (den Kapellmeister erschlag' ich! denkt er): »Gute Nacht, Madame.« Sie, sich zurücklehnend, kalt: »Gute Nacht.« Langsam fällt der Vorhang, die (zu laute) Musik vergeht.... Sowie die Leinwand unten war, sprang Sonnenthal, der Schauspieler und Regisseur, in seiner heiligen Wut in die Höhe; die Stimme, die eben geflötet hatte, stieß König Lear-Töne aus: »Wo ist der Kapellmeister? Der Kapellmeister soll herauskommen! Rufen Sie ihn her! Rufen Sie ihn her!«

Ich bin manches Mal ins Theater, zwischen die Kulissen gegangen, nur um diese bezaubernde Szene und diese – verzeih, mein teurer Adolf! – diese furchtbar komische Verwandlung zu sehn.

In demselben Jahr 1871, im Herbst, kam auch mein Lustspiel »Die Maler« ins Burgtheater, mit noch größerem Erfolg; die Hauptrollen wieder von Sonnenthal und der Baudius in stimmungsvollster Ergänzung gespielt. Aufgaben wie diese, in denen es sich um gewinnende[6] Liebenswürdigkeit der Seele handelt, löst doch eigentlich nur der Mensch; der Dichter kann den Darsteller geistreicher erscheinen lassen, als er ist, auch edler, auch gewaltiger, aber das seelisch Holde, das er nicht besitzt, kann er ihm nicht geben, und einfach erlügen läßt sich's nicht. Ich werde nie vergessen, wie Else zu ihrem brüderlichen Freund Oswald kommt und ihm erzählt, daß sie das Malen nun doch aufgeben will, weil es »ihr so billiger kommt, wenn sie nicht mehr malt«; und mit ihrem Entsagungskummer kämpft, und dem so viel begabteren Kameraden die Pistole auf die Brust setzt: »Sei ganz ehrlich, Oswald. Wenn ich dich aufs Gewissen frage, nicht wahr, ich hab' eigentlich kein Talent?« Oswald-Sonnenthal – wer weiß nicht, wie Sonnenthal rühren kann, wenn ihm ein tiefster Menschenjammer aus der Brust hervorbricht; da schlägt er alle; aber auch die zweimal drei Worte, die er der armen Else antwortet, gingen wunderbar zu Herzen, weil ein so liebenswürdiges Herz sie sprach. Er legte die Hand auf ihre Hand, ganz schlicht, dann, ein wenig zögernd: »Wenig, liebe Else.« Und als sie darauf sagt: »Zu wenig also. Sag, zu wenig, Oswald,« da streichelt er ihre Hand ein bißchen: »Zu wenig. Ja.« Es war der ganze Mensch darin.

»Siehst du: wir sind einig,« sagt sie dann mit heroischem Lächeln und steht auf. Und damit ich auch der Else-Baudius gerecht werde: nach diesen fünf Worten rauschte im Burgtheater oft ein warmer Beifall durchs Haus.

In den »Malern« trat zum erstenmal auch Ernst Hartmann in mein Dichterleben ein, als der Tiermaler[7] Mockert, genannt Plato; und sogleich mit einem großen Erfolg. Er war, wenn auch schon Gatte und Vater, noch in der ersten Jugendblüte: er hatte noch diesen mutwilligen, erfindenden Humor, den ich den Pagenhumor nennen möchte, der ihm im Leben so oft zu Gebote stand, und der mit den Jahren naturnotwendig seine Farbe oder auch sein Wesen ändert. Die Grazie seines Humors ging in seine Rollen mit; so in den Tiermaler Plato, dessen kleine Rolle er groß machte und fast immer mit lautem Beifall schmückte, obwohl sonst im alten Burgtheater ein ehrenvoll geräuschloser Abgang, etwa mit einem einzelnen »Bravo« verziert, mehr die Regel war.

Als gleichsam amtlicher Vertreter des Pagenhumors folgte ihm dann Hugo Thimig, der 1874 ins Burgtheater eintrat; lange, goldene Zeit ein entzückender Eulenspiegel, bis ihn dann die Jahre nahmen und zu dem »großen Mann« machten, der dem Direktor als vielschaffender Regisseur zur Seite steht.

Sonnenthal hatte eine Schwäche, die zu seinem tiefen und großen Pflichtgefühl, seinem hohen Künstlerernst in einem drolligen Widerspruch steht: er ist leicht zum Lachen zu reizen, er hat gleichsam eine kitzlige Seelenhaut. In den »Malern« benutzte Zerline Gabillon diese seine Schwäche zu einem Scherz, der bei jeder Aufführung wiederkehrte und, so simpel er war, jedesmal einen Teil der Schauspieler in die Kulissen zog, um sich an Sonnenthals innerem Kampf und Krampf zu weiden. Die Gabillon, als kokette Witwe Leonore von Seefeld, kommt zu Oswald-Sonnenthal ins Atelier, um ihrem Roman mit ihm ein Ende zu machen und[8] Abschied zu nehmen: sie will fort. Er hat ihr Bild gemalt; »bitte,« sagt sie noch, »haben Sie die Güte, mir das nachzuschicken – nach Rom.« Sie hatte den Einfall (und ich hatte natürlich nichts dagegen), bei jeder neuen Aufführung eine andere Hauptstadt zu nennen; er wußte aber nie, welche wird es sein? Und ihre Kunst war so groß, die Pause vor dem entscheidenden Wort so ausdrucksvoll, und der Kitzel in ihm so unwiderstehlich, daß es allemal ein Lustspiel im Lustspiel war. Sie reiste allmählich auf der ganzen Erde herum; sie ließ ihn das Bild nach Rio-de-Janeiro, Madrid, Edinburg, Hongkong, Buenos Aires schicken. Jedesmal zuckte das Wetterleuchten der Spannung, der Erwartung, des gräßlichsten Lachreizes auf Sonnenthals Gesicht; jedesmal kämpfte er wie ein Held; ob er immer gesiegt hat, weiß ich nicht.

Im Herbst des nächsten Jahres, 1872, begann der große Kampf gegen das Burgtheater; so muß man wohl die Erscheinung und die rastlose Tätigkeit des von Heinrich Laube gegründeten Wiener Stadttheaters nennen, das den Coriolanschen Groll seines Direktors gegen dessen ehemalige, geliebte Bühne als Kampf- und Trutztheater durchzufechten hatte. Daß es dabei unterlag, ist bekannt; daß es nicht siegen konnte, so ehrenvoll es auch unterlag, hätte ein so klarer Kopf wie Laube so gut wie irgend einer gewußt, wenn ihn nicht die Leidenschaft und ein gewisser Berserkerglaube an sich selbst verblendet hätte. Ich hatte schon in einem der ersten Monate Gelegenheit, in diese Sachlage hineinzuschauen, da es sich so fügte, daß zu gleicher Zeit das Burgtheater und das Stadttheater eines meiner[9] Dramen zur Aufführung brachte: am 16. November erschien »Der Graf von Hammerstein« bei Laube, am 18. November »Gracchus der Volkstribun« in der Burg. Hammerstein wäre im Burgtheater unmöglich gewesen, da er sich zu sehr der Kirche widersetzt; ich persönlich gewann dabei, daß diese zweite große Bühne, die das Größte wollte, in der Kaiserstadt entstanden war. Aber indem ich nun ein tragikomisches Doppelleben führte, zwischen den Proben hin und her, bald hier, bald dort, zuweilen von der Burg noch zu Laube, zuweilen von Laube zu der so viel länger probierenden Burg, so konnte ich's mit Händen greifen, wie viel größer die künstlerische Leistung auf der alten Bühne war. Was auch einzelne auf der neuen auszeichnen mochte, die Gesamtsumme der Kräfte war im Burgtheater unvergleichlich bedeutender, auch die kleinste Rolle lag in guter Hand; und auf den Proben, die gewöhnlich mehrere Stunden länger dauerten als die Hammersteinschen, wirkte eine Energie und eine Verinnerlichung der Arbeit, die da drüben fehlte. Dingelstedt und August Förster, als Regisseur, setzten all ihre Kräfte ein; Förster mit der robusten Unermüdlichkeit, die ihn, glaub' ich, nie verließ, und mit all dem geistigen Handwerkszeug, das er bei seinem Meister Laube erworben, unter Dingelstedt bereichert hatte.

Laubes Größe hat sich ohne Frage auch in dem Riesenkampf dieser Jahre bewährt; seine Willenskraft, seine Arbeitslust, seine Geistesschärfe, seine Herrschergabe haben ein Werk geschaffen, das im Wiener Leben ein Licht, eine Flamme war und das nur der Unverstand unterschätzen wird. Aber er war doch älter geworden,[10] seit er die Bühne am Michaelerplatz nicht mehr führte; die ganze Fülle und Stärke der Persönlichkeit, von der mir die Schauspieler und Schauspielerinnen des Burgtheaters so viel zu erzählen wußten, die hatte er offenbar nicht mehr. Ich hab' ihn auf ungezählten Proben in seinem Stadttheater gesehn; ein gewisses Weitereilen war ihm doch schon, wie es schien, zur Natur geworden, und auf sein fruchtbarstes Meistern und Wirken hatte er größtenteils verzichtet: auf das Vorsprechen und Vorspielen, das Erziehen zur Bühnenberedsamkeit. Ihm war das Wort das Höchste, und seine jüngeren Talente im Burgtheater hatte er als Meister des Worts tausendfach gefördert; als er nun aber die Gründung des Wiener Stadttheaters unternahm und im Wetteifer mit der Burg ein großes Repertoire in aller Geschwindigkeit schaffen wollte, erfand er zu seiner Hilfe den »Vortragsmeister« und legte dieses Amt in Alexander Strakoschs Hand. Was er früher oft selber, aber im Feuer des Augenblicks, auf den Proben getan, das sollte nun systematisch geschehen, und durch einen andern. Vorbereitendes Einzelstudium der Rollen mit dem Vortragsmeister sollte die Darsteller, zumal die schwächeren, »fertig« auf die Proben stellen und so die Einstudierung abkürzen. Indessen die Wirkung war, daß die Schauspieler wohl mit guter Aussprache und allerlei Redekunst, aber zu gleichtönig, zu oft mit der Sprechweise ihres Lehrers auf die Probe kamen, und daß wohl mancher Tag gewonnen, aber die Möglichkeit des Sieges über das Burgtheater umso rascher verloren ward.

Nur auf den Leseproben kam Laube noch selber zum[11] Wort; er las gerne mit, wenn es sich irgendwie so fügte; und ich hab' einer Leseprobe beigewohnt, auf der die Darsteller beiderlei Geschlechts ihn einer nach dem andern baten, ihre Rolle zu übernehmen; zuletzt las er das halbe Stück. Der Gewinn lag wohl auch auf der Hand: der Alte las nicht mit Feuer, nicht mit Leidenschaft, aber klar, verstehend, auseinanderlegend, also geistig führend; was so vielen nötig und den Jungen unentbehrlich ist.

Wie wunderbare Gegensätze aber Laube und Dingelstedt waren: der Mann des Wortes und der Mann des Bildes, und wie ungleich sich bei Laube Ohr und Auge entwickelt hatten, davon hab' ich ein merkwürdiges Beispiel erlebt, wahrscheinlich das stärkste seiner Art. Im Januar 1874 wurde im Stadttheater mein Lustspiel »Die Wahrheit lügt« einstudiert; der zweite Aufzug spielt im Gebirge, hoch auf der Alm. Als auf der Probe die Dekoration dieses Aktes erschien (damals gab es noch nichts anderes als Kulissen und Hintergrund), zeigte sich rückwärts, wie es vorgeschrieben war, ein kahler Hügel, hinter dem mächtiges Gebirge fernte; die Kulissen stellten aber sämtlich Teile einer Parkmauer vor, mit Urnen verziert. Laube saß wie immer auf seinem Direktorstuhl; er bemerkte nichts. Ich, der ich den Alten schon gründlich kannte, entschloß mich nach einer Weile kurz, ließ ihn ruhig sitzen und suchte Alexander Strakosch auf, der mit seinem Vortragsmeisteramt auch eine Regisseurstellung vereinigte und sich grade im Haus befand. Ich sagte ihm mit wenigen Worten, wie ungebräuchlich es auf Almen sei, Parkmauern mit Urnen aufzurichten. Ihm kam so wenig der Gedanke,[12] sich an Laube zu wenden, wie mir; wir gingen zusammen zum Theatermeister und trugen ihm die Sache vor. Es währte auch nicht lange, so wurden rechts und links vom Direktor sämtliche Kulissen weggezogen und leere Luftkulissen an ihre Stelle gesetzt. Laube bemerkte nichts; oder wenn er etwa einen Blick hingeworfen hat (das weiß ich nicht mehr), so beschäftigte ihn die Sache nicht. Es ward weiterprobiert, mit den Luftkulissen.

Neun Jahre später, anderthalb Jahre vor seinem Tod, wechselte die Gastfreundschaft: er kam mit seinem letzten Stück, dem Lustspiel »Schauspielerei«, ins Burgtheater, und dessen Direktor war ich. Die weibliche Hauptrolle, eine »Naive«, sollte auf sein Verlangen Helene Hartmann spielen, die er 1867 als Fräulein Schneeberger in die Burg gebracht hatte. Sie hatte mittlerweile aufgehört, die blutjungen Mädel darzustellen: tief erschrocken kam sie zu mir in die Kanzlei: »Herr von Direktor« (so nannte sie mich dann und wann; wir waren gute Freunde), »um Gottes willen, nehmen Sie mir die Rolle ab, tun Sie mir das nicht mehr an!« Früher als die holde Naivität, mit der die Natur sie aufs schönste gesegnet hatte, war ihr die Schlankheit untreu geworden; darum hatte sie aus dem Fach hinausgestrebt, das ihr sonst noch so gut zu Gesichte stand. »Was ist da zu machen, liebe Lene,« sagte ich; »wenn's der Alte durchaus will, Ihr Direktor von ehedem, so müssen Sie's tun. Inwendig jung, das sind Sie genug; und auswendig wären Sie's ebenso, wenn Sie nur beizeiten das Ihrige getan hätten, um sich schlank zu erhalten. Und das sollten Sie jetzt noch tun! Lene! Eine Kur!«[13]

Ich sehe noch das liebe Gesicht, mit dem sie mich anschaute; ein offeneres, weicheres, herzlicheres Gesicht konnte man nicht sehn. »Aber Direktor,« sagte ihre gute Stimme. »Sie kennen mich ja doch. Wozu sollt' ich das anfangen; ich führ's ja nicht durch!«

Die Rolle in Laubes Stück spielte sie aber doch, da 's der Alte wollte; und sie zeigte noch einmal die quellende Frische ihrer liebenswerten Natur, in der sich weibliche Schwäche und weibliche Kraft so entzückend mischte. Neben ihr war Thimig groß in einer verrückten Schauspielerrolle, die er mit Charakteristik füllte. Ich hatte Laube ersucht, die Proben zu leiten, wie wenn er noch Direktor wäre; das übernahm er auch, ohne eine Miene zu verziehen. Er saß jeden Morgen auf dem Direktorstuhl, als wären die Jahre von 1867 bis 1884 nur ein Traum gewesen und er schwänge noch wie vordem das Zepter am Michaelerplatz. Seine siebenundsiebzig Jahre schienen ihn auch noch nicht zu drücken. Er waltete seines Amtes in guter Laune und mit behaglicher Frische.

Sein Lustspiel aber, leider schattenhafter als er, hatte am Abend der Aufführung kein Glück. Das Publikum, zumal die Jugend, zeigte auch wenig Pietät für den alten Feldherrn und Bühnendichter; man konnte es eine unfreundliche Ablehnung nennen. Laube, der in meiner Loge saß, hielt sich mit der Fassung, die einem so tapferen Leben gebührte. Als am Schluß der schwache Beifall – in den sich, wenn ich nicht irre, auch Mißlaute mischten – kümmerlich verging und der Vorhang unten blieb, sagte er nichts als: »Abgeblitzt!« Dann stand er auf, grüßte und verschwand.[14]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Erinnerungen. Stuttgart, Berlin 21905, S. 1-15.
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