III

[33] Als ich mich entschlossen hatte, Burgtheaterdirektor zu werden, war einer meiner ersten Träume: der ganze »Faust«! Nicht als eine Art von Ausstattungsstück mit unendlicher Musik, wie man ihn in Dresden gespielt, auch nicht in der seltsamen, mutwilligen Neunteilung des Bühnenaufbaus, in die ihn Otto Devrient hineingezwängt hatte, sondern auf unserer heutigen Bühne[33] und nur mit der sachlich geforderten »Pracht«, nur mit der ausdrücklich vorgeschriebenen Musik. Aber auch nicht wie irgend ein anderes Bühnenwerk eines großen Meisters, für den Alltagsbedarf, sondern als eine Welt für sich, gleichsam ein Festspiel der deutschen Nation. Meine Meinung war, wie ich hernach in einem Rundschreiben an das Gesamtpersonal des Burgtheaters sagte, »dem Repertoire diese größte vaterländische Dichtung, diesen Triumph der deutschen Kunst und des deutschen Geistes, in ihrer ganzen Entwicklung einzuverleiben, damit sie fortan von der Bühne herab, versinnlicht und verdeutlicht, die Schätze ihrer Poesie und ihres Tiefsinns ausstrahle«.

Von Länge oder Kürze also, wonach die praktische Bühne so viel zu fragen hat, war hier nicht die Rede; was für die Idee von Bedeutung, dichterisch von Wert, dramatisch lebendig, theatralisch möglich war, das alles sollte geschehen. So wagte ich denn auch getrost, nicht nur das »Vorspiel auf dem Theater«, sondern auch die vorangehende »Zueignung« in die Darstellung aufzunehmen; eine Kühnheit, die seitdem, sozusagen, durch Goethe selbst gerechtfertigt worden ist, da ein Weimarer Fund erwies, daß der Dichter eine Aufführung in ebendieser Gestalt im Sinne hatte. Bei unserm ersten Spiel (am 2., 3. und 4. Januar 1883) war dieses unvergleichbar klassische Vorspiel ein weihevoller Anfang; Hartmann als Theaterdichter, Baumeister als Direktor, Schöne als »lustige Person« ergänzten sich zum schönsten Akkord. Dann eröffnete den ersten Aufzug der Prolog im Himmel; er begann sogleich mit einem Bild, das die Seele mit Andacht und Entzücken[34] füllte. Ich erinnere mich, wie ich auf einer der reiferen Proben mit Sonnenthal im dunklen Parkett saß; der Vorhang war eben vor uns aufgegangen. Eine dunkle Wolkendekoration verhüllte den Himmel noch; allmählich lichtete sie sich, bei leiser, himmlisch verklärter Musik. Zuerst wurden nur drei Schatten sichtbar, regungslos im weiten Raum stehende Gestalten; sie wurden heller, körperlicher, nun sah man die weißen langen Gewänder, die Rüstung, die Flügel: die drei Erzengel standen da, noch unbeweglich, allein. Sonnenthal wendete sich zu mir und sagte mit gedämpfter Stimme, wie wenn wir auch beim Herrgott wären: »Das ist doch das Schönste!«

Es war nur schwierig, den »Herrn« so zu bringen, daß diese Andacht keinen Schaden erlitt; natürlich nur die Stimme des Herrn, denn leibhaftig durfte ich ihn nicht auf die Bretter stellen, und ich hätte es auch nicht gewollt. Ihn in seiner Unsichtbarkeit doch ahnungsvoll lebendig zu machen, dazu genügte eine mächtige Helle, die plötzlich aus der Höhe rechts hervorbrach und zu der sich nun alle Engel, auch die inzwischen hinzugekommenen, händefaltend oder kniend wenden; aber wie der Gottesstimme einen irgendwie übermenschlichen Klang oder doch eine Art von Erhöhung und Verklärung geben? Ich hab' viel versucht; Konrad Hallenstein, dem ich die Rolle des Herrn gegeben hatte, ward fast auf jeder Probe anders mißbraucht. Ich ließ ihn durch Sprachrohre von Pappe sprechen, stellte ihn auf eine Erhöhung, dann doppelt so hoch, bis zum Schnürboden hinauf, mehr vorn und mehr hinten. Es endete mit einer Art von »goldener Mitte«, ohne Sprachrohr. Hallenstein schilderte darauf »die Wege des Herrn im[35] Burgtheater« in einem humorvollen Gedicht, das ich leider nicht besitze; es war vollständig, wahrheitsgetreu und mit guter Kunst gemacht.

Die großen Schwierigkeiten begannen freilich erst im zweiten Teil; und wenn hier bei vielen meiner Schauspieler innere Zweifel und kopfschüttelnder Unglaube zu überwinden waren – was zu meiner stillen Freude im Lauf der gestaltgebenden Proben mehr und mehr geschah – so sträubte sich das alte Burgtheater in ganz anderer Weise: es behauptete zu klein und zu eng zu sein. Im zweiten, im dritten, im fünften Akt ist für so vieles Raum zu schaffen, so viel zu versenken oder heraufzuzaubern, so viel aufzubauen, daß es war, als stöhne der alte Kasten hörbar: es geht nicht, es geht nicht! Ich mußte mit ihm zuletzt um jeden Zentimeter kämpfen; und das Unglück wollte, daß der damalige »Maschinen- und Beleuchtungsinspektor«, Barrot, sonst ein braver Mann, an einer ernsten Erkrankung litt, die mit seinem Tode enden sollte. Er tat seinen Dienst, aber doch nicht mit der alten Kraft. Auf einer Dekorationsprobe, die ich mit ihm und seinen Leuten hatte, saß der gealterte, krankheitsmüde Mann mitten auf der Bühne auf einem Stuhl, schüttelte den Kopf, verzagend: »Herr Direktor, wir kommen nicht durch! Weiter geht's nicht mehr!«

Es mußte aber gehn, das war für mich so gewiß, wie daß Goethe den »Faust« geschrieben hatte. Ein sonderbarer, trauriger Zufall half mir: Barrots Krankheit nahm plötzlich überhand, er legte sich, ich mußte mit Bretschneider, dem unter ihm stehenden Theatermeister, weiterarbeiten. Bretschneider, ein noch[36] junger kräftiger Mann, sprang mit mir unverzagt in die Brandung hinein. Wir siegten langsam, zollweise. Wir erkämpften aber endlich vollen Sieg.

Bei dieser höchsten Kraftprobe des Burgtheaters – sie war es in jedem Sinn – standen mir auch die Maler, die Dekorierer mit aller Hingebung zur Seite; voran Joseph Fux, der »Vorstand des Ausstattungswesens«, dann seine Gehilfen, Lehner, Hochegger, die, wie ich in jenem Rundschreiben dankbar anerkannte, »im Burgtheater bisher ungekannte Wunder schufen, und deren Ausdauer so unerschöpflich war wie ihre Phantasie«. Ich hatte aber allen zu danken und hab's auch getan; den Sängern und Komparsen, dem Kapellmeister Sulzer und seinem Orchester, dem gesamten technischen Personal; so viel Gemeinsinn und Arbeitsfreudigkeit war wohl in keinem anderen Theater zu finden. Achtundachtzig Rollen waren an den drei Abenden des »Faust« zu spielen; sie wurden alle mit Liebe gespielt, und nach meiner Erinnerung keine schlecht. Wunderbare Fortsetzungen brachte der zweite Teil, in denen die Darsteller des ersten über sich hinauswuchsen: Lewinsky-Mephisto als phantastisch ungeheuerliche, voll Geist und Kraft durchgeführte Phorkyade, dann als Führer der Lemuren, im Kampf mit den Engeln, bis zum Höllensprung; Sonnenthal-Faust in der gespenstischen Liebe zur Helena, zuletzt als Hundertjähriger, Erblindeter, Sterbender; Thi mig-Schüler als »absurder Most«, der frech gewordene Bakkalaureus. Große Leistungen; doch ich hätte viel zu sagen, wenn ich alles erwähnen wollte, was dem Burgtheater Ehre machte.[37]

Die sonderbarste Aufgabe des dritten Abends war der dritte Aufzug: ein Geisterspuk sollte lebendig, zu herzbewegender Wirklichkeit werden, man sollte fast eine Stunde lang an etwas glauben, das schon schwer zu verstehen ist. Hier mußten äußere Mittel helfen, die durch das Auge zur Seele gehn. Faust will zur Helena (ich zitiere hier eine Weile mich selbst, aus der Einleitung zum gedruckten »Faust«); Helena dämmert, aber ein »Schatten«, in der Unterwelt. Soll er sie besitzen können – wenn auch noch so kurz – so muß sie aus dem Schattenschlaf zu einem lebengleichen Traum erwachen; einem Traum, der sie etwa in einen bedeutenden Augenblick ihres Erdenlebens zurückversetzt, mit dem sich dann Faust, der hinabgestiegene Wirkliche, phantastisch verbindet. Wird dies dem Zuschauer verständlich, dann verwirrt ihn nichts mehr; an schauerliche Märchen jeder Art ist er ja gewöhnt, man hat sie dem Wachenden von klein auf erzählt, als Träumender hat er sie selbst erlebt. Warum soll er nicht fassen, daß der Schatten eines Verstorbenen zu kurzem Traumleben erwacht und mit einem von uns sich zusammenfindet? Man muß ihn nur eben anschauen lassen, daß es so gemeint ist; seine Sinne müssen seinem Denken helfen. Der dritte Aufzug beginnt, der Vorhang hebt sich; tiefe Finsternis, die sich langsam erhellt, zur Halbnacht des »unerfreulichen, grautagenden, ungreifbarer Gebilde vollen, überfüllten, ewig leeren Hades«. Helena und ihr Gefolge ruhen, von einem grauen Schleier bedeckt, wie jetzt leblose Schatten; langsam erwachen sie aber, wie von irgend einem Traumgefühl geweckt. Zuerst regt sich Helena; sie hebt den Schleier, mit schleichender[38] Bewegung, löst sich aus ihm heraus. Nach ihr auch die andern. Endlich steht Helena aufrecht am Altar, schaut um sich, alles erkennend, sichtbar im Geist sich erinnernd. Sie erlebt sich wieder; sie »kommt vom Strande, wo wir erst gelandet sind«, sie ist die aus Troja heimgekehrte Gattin des Menelaus, »von ihm zu seiner Stadt vorausgesandt«. Die bange Sorge erwacht: was wird ihr vom schwergekränkten Gatten geschehen? – Mephistopheles, als Phorkyade, erscheint; die Märchenhandlung beginnt. Im Nebelflor verwandelt sich endlich der griechische Königspalast in die romantische Burg des Faust. Liebe und Schönheit finden sich zusammen.

Charlotte Wolter als Helena (nachdem sie am zweiten Abend als »böser Geist« schaurig erschüttert hatte) erfüllte alles, was die Dichtung wollte; wie wenn sie dazu geschaffen sei, das Unwahrscheinliche, das Märchenhafte mit Leben zu beseelen. Sie war auch – wenn auch nicht mehr jung – so griechisch schön, daß man sich nicht wundern konnte, als Faust, der Burgherr, mit dem gefesselten Turmwächter Lynceus kam, der, durch den Reiz der hereinziehenden Helena geblendet, ihr Kommen durch Hornruf zu melden vergessen hat. Lynceus kniet vor ihr, bekennt, wie es ihm ergangen ist, erlangt von ihr Vergebung. Diesen schnellverliebten Wächter sollte Hermann Schöne spielen; ich brauchte ihn hier, weil ich im fünften Aufzug auf der Schloßwarte seinen schönen Gesang brauchte: das hätte niemand so gekonnt wie er. Ihm war's aber peinlich, ganz nach seiner feinfühligen Art, daß er, der Komiker und Charakterspieler, so romantisch knien, so schönheitberauschte[39] Verse sprechen sollte; nachdem er's zum erstenmal auf der Probe getan, bat er mich, beschwor mich fast, ihm die Rolle abzunehmen. Ich durfte aber nicht auch wie der Türmer meine Pflicht vergessen: ich war Goethe schuldig, die wundervolle Nachtstimmung im fünften Akt, die der Gesang des Lynceus so lieblich einleitet, durch Schönes weiche, kunstvolle, herzbewegende Stimme zu verklären. Es half nichts, er mußte knien! Er machte auch das in guter Form, wie alles, was er machte; und als nächtlicher Sänger dann wirkte er so eigen deutsch romantisch, in all seiner Schlichtheit, daß mir immer weich und gut wird, wenn ich daran denke.

Die Märchenliebe zwischen Faust und Helena, durch das Vers- und Reimspiel so genial traumhaft-schnell entfaltet, schafft sich dann auch rasch ein Märchenkind; Euphorion tritt aus der Laube hervor, die Geburt dieses Traums. Für das ätherische Geschöpf, die schnell verflackernde süße Lebensflamme war Stella Hohenfels ebenso geschaffen wie Charlotte Wolter für die Helena; poetischer hat man sie nie gesehn. Kind und Jüngling zugleich, im duftigen Märchengewand, mit der goldnen Leier, den flammenden Stern auf dem Lockenhaupt, rührend selig schön, und als könnt' sie doch nicht auf der Erde dauern, schlang und schwang sie sich im Reigen dahin, stieg dann den Fels hinan, im Jugendrausch des Heldenmuts dem Untergang zu. Helena-Wolter, die Mutter, jammernd hinterdrein, Euphorion oben, todbereit den Arm erhebend, wie geträumte Poesie – ein unvergeßliches Bild. Er »wirft sich in die Lüfte«; er stürzt hinab. Aus der Tiefe steigt noch einmal seine Stimme herauf:
[40]

Laß mich im düstern Reich,

Mutter, mich nicht allein!


Er bleibt nicht allein, er zieht die Mutter sich nach. So ein gespenstisch Glück ist kurz; rasch wie Euphorion wuchs es, um schnell wie ein Traum zu vergehn. Haben wir am Anfang die Schatten zu diesem Traum aufleben sehn, so müssen wir nun auch sein Ende erblicken; mit dem Auge faßt dann der Geist das Wunderbild zusammen, wie in ein em Blick. Helena, oben auf dem Fels um ihr verlorenes Traumkind klagend, wirst sich noch einmal dem Faust in die Arme, dann entsinkt sie ihm: »Persephoneia, nimm den Knaben auf und mich!« Nur sieben Worte, aber aus der Wolter Mund die ergreifendste Musik. Faust sucht sie vergebens noch zu halten, sie entschwindet ihm. In demselben Augenblick sinken unten alle Frauen der Helena zur Erde und in sich zusammen, wie wieder zu Schatten geworden. Plötzliche tiefe Finsternis; der Vorhang fällt.

Dieser Schluß, nach diesem herrlichsten Märchen, wirkte so natürlich, so unmittelbar, daß bei der ersten Aufführung eine Begeisterung des Beifalls losbrach, wie ich sie wohl an keinem andern Theaterabend erlebt habe; und ich hab' doch manchen Sturm des Erfolgs erlebt. Kein »Abbild der Wirklichkeit« ergriff die Menschen so stark wie diese Phantasie, da alle Werkzeuge der Seele mit vereinter Gewalt sie begriffen hatten.

So überwältigend wirkte dann auch der fünfte Akt, den doch Geister und Schatten jeder Art, Lemuren, Teufel und Engel füllen, bis unsre Erde ganz verschwindet und der Himmel sich auftut. Auch hier gewann alles Leben und Blut durch die Kraft der Darstellung;[41] so die graue »Sorge« durch Zerline Gabillon, die nicht rastete, bis sie in ihrem Gespräch mit Faust auf dem Vorhallendach das geisterhafteste, schaurig markdurchschleichende Raunen erreicht hatte. Es sollte aber jedes ihrer Worte, auch das gehauchteste, noch verständlich sein; so verteilten denn wir andern uns mehr als einmal im ganzen Haus, um festzustellen, ob's immer und überall noch reiche. Sie war eine so gute Sprecherin, daß es zuletzt vollkommen gelang. Ebenso ruhten wir, der Direktor und die Regisseure, nicht, bis der Gesang der Lemuren, die dem Faust sein Grab graben, das Musikalisch-Wirkliche, das der Kapellmeister ihm gegeben, ganz verloren hatte; es ward nach und nach, bei immer neuem Bemühen, etwas schauerlich Schattenhaftes, wie aus Grüften heraufgestiegen, wie es sich für diese »aus Bändern, Sehnen und Gebein geflickten Halbnaturen« geziemte.

So erhebend wie ergreifend war dann Faust-Sonnenthals Tod. Er verstand, er fühlte, daß er das schönste Sterben zu spielen hatte, das die Bühne kennt.

Der Beifall am Schluß war so begeistert, stürmisch, endlos, wie nach dem dritten Akt. Mit allen Taschentüchern winkten sie dem Direktor zu, da sie dem Dichter nichts antun konnten.

Dies war mit Naturnotwendigkeit mein schönster, festlichster Erfolg; ihn zu überbieten oder zu erreichen war nicht mehr möglich. Ich habe freilich noch viele Abende erlebt, die ich Festabende nennen konnte; so die beiden, an denen ich den ganzen »Wallenstein« in neuer Besetzung und Ausstattung, mit Sonnenthal, mit Anspannung[42] all unserer Kräfte gab, um auch dem Schillerschen Hauptwerk eine würdige Auferstehung zu bereiten. Calderons reizendes Lustspiel »Dame Kobold« folgte seinem »Richter von Zalamea«; neben Hartmann und der Hohenfels, die das führende Paar mit bestem Humor und liebenswürdiger Anmut spielten, wirkte Karl Meixner mit unwiderstehlicher Komik als der Diener Cosme, in dem er eine seiner wirksamsten Gestalten schuf. Auf einen höchsten Gipfel stieg aber das Burgtheater noch einmal mit der Aufführung des Sophokleischen »König Ödipus«, den ich von Anfang an gewollt, ersehnt, aber erst im Dezember 1886, als ich eines zulänglichen Ödipus sicher war, auf die Bretter brachte.

Wie wenig die Kraft, die Bühnenkraft dieses Wunderwerks bis dahin bekannt, wie wenig man auf einen großen Erfolg vorbereitet war, davon zeugt am besten, was ich mit meinem damaligen Generalintendanten, dem Freiherrn von Bezecny, erlebte, dem diese Erinnerung an ein so seltenes, erhebendes, aber viel leicht doch halbverblaßtes Ereignis Freude machen wird. Ich hatte ihm, wie in jedem Fall, mitgeteilt, daß ich den »Ödipus« nun endlich aufzuführen vorhätte; ich war, wie in allem, was zum künstlerischen Betrieb gehört, auch darin unbeschränkter Herr; so nahm er es denn auch rein als Mitteilung hin. Ich hörte aber bald von andern, daß er sich mit kopfschüttelnden Bedenken darüber ausgesprochen habe; ihm schien grade jetzt ein starker, packender Erfolg nötig, mit einem kräftigen, modernen Stück; »da will er nun mit dem Ödipus kommen! Was nützt uns der Ödipus!« Ich glaube, an seiner[43] Stelle hätten von hundert neunundneunzig ebenso gedacht; wer kannte denn den Sophokles? Die gelehrten Übersetzer hatten ihn nur scheinlebendig, zum Teil mausetot gemacht. Als nun aber die Tragödie am Abend erschien – für die lebendige Bühne von mir übersetzt, die Chorgesänge in Mitspieler aufgelöst; Emerich Robert als Ödipus, in griechischer Wohlgestalt und Beredsamkeit, aber mit der Freiheit, dem Feuer, den Seelentönen unserer Tage; Joseph Lewinsky als Teiresias von erschütternder Gegenwirkung, höchster Redekraft; auch die geringeren Rollen lebensvoll; und nun die Handlung mit ehernen Schritten auf die vernichtende Enthüllung eines dunklen Rätsels unaufhaltsam zuschreitend, bis das Schicksalstor aufspringt – als das alles sich vollendet hatte und der Vorhang fiel, da brach wieder ein Sturm des Beifalls los wie in Goethes »Faust«; er konnte nur um ein weniges geringer sein. Ich verließ geschwind meine Loge, damit nicht wieder begeistert übertreibende »Demonstrationen« wie damals erfolgten; überallhin begleitete mich aber das brausende Getöse. Ich kam auf die Bühne; dort stand Baron Bezecny, allein, mit so erregten, bewegten, erschütterten Zügen, wie ich nicht oft einen Menschen gesehn. »Herr Direktor!« stieß er hervor. »So einen Eindruck hab' ich noch nie im Theater erlebt!«

Wenn das Sophokles hören könnte! dachte ich.

Das Getöse dauerte fort; ich weiß nicht, wie lange. »So lassen Sie doch aufziehn!« sagte Baron Bezecny, und immer wieder. »Zeigen Sie sich doch! Eher geben die keine Ruh'!« Ich blieb aber standhaft, der »Satzung« treu. Im Burgtheater soll der Direktor nicht erscheinen,[44] und die Schauspieler auch nicht; nur für Dichter, Gäste und Jubilare hebt sich der galante Vorhang. Wie jeder Lärm nahm denn auch dieser ein Ende.

Ich hab' dann auch noch den »Ödipus in Kolonos« gegeben, mit schöner, feierlicher Wirkung; so hinreißen, so spannen und entladen konnte er seiner Natur nach nicht. Ehe das Schlußstück »Antigone« zu folgen bereit war, hatte ich das Burgtheater verlassen; die Vollendung dieses herrlichen Zyklus erlebte ich nicht. Antigone schläft auch noch heute ihren Dornröschenschlaf.

Einer meiner glühendsten Wünsche war all die Zeit gewesen, außer den großen Dichtungen neue, blutjunge Kräfte ersten Ranges meiner Bühne zuzuführen, sie zu finden, zu pflegen, zu bilden; diesem Zweck hätt' ich gern jede noch freie Stunde geopfert. Leider hab' ich nur einmal dieses Glück gehabt! Bei einer Vorstellung der Theaterschule des Wiener Konservatoriums hatte ich Agathe Barsescu als Mitwirkende gesehn; sie kam dann, um im Burgtheater vor mir und den Regisseuren Probe zu spielen. Ihre schöne Violastimme, ihr ausdrucksvolles Bühnengesicht, ein gewisses Feuer, das noch nicht wußte, wo hinaus, waren mir vielversprechend aufgefallen; sie war aber bereits an das Deutsche Theater engagiert, das eben damals (1883) in Berlin entstand. Im Herbst desselben Jahres, auf einer Amtsreise nach neuen Talenten, kam ich auch nach Berlin; ich lernte Agnes Sorma kennen, die mir bei ihrem zweiten Besuch durch ihren Vortrag von Gretchens »Ach neige, du Schmerzenreiche« einen tiefen Eindruck machte, aber gleichfalls schon an das Deutsche Theater gefesselt war; ich sah dann die Barsescu wieder.[45] Sie hatte bereits, eh sie noch gespielt, große Enttäuschungen oder Kränkungen erlebt; in dem leitenden Konsortium (bis auf L'Arronge lauter Schauspieler) glaubte sie einen entschiedenen Gegner zu wissen und wußte sie keinen, der für sie war. Sie wollte wieder fort. Sie sehnte sich nach Wien zurück und ans Burgtheater.

Da stand ich nun vor einem Fall, wie ich ihn geträumt! Was ich gern mit der Sorma versucht hätte: ihre verheißungsvolle Knospe als Gärtner zur Zentifolie zu entfalten – sie aber, durch das überall bekannte Martyrium der Hohenfels geschreckt, wollte nicht vom Deutschen Theater lassen, wo ihr ein Leben voll Rollen winkte – das konnte ich etwa mit der Barsescu erreichen, wenn das Glück mir günstig und der Goldgehalt ihrer Begabung zulänglich war. Ich sagte ihr endlich: »Ich will das Meine wagen; wagen Sie das Ihre. Versprechen kann ich nichts! Wenn Sie sich hier losmachen können und die Mittel haben, eine Weile in Wien zu leben, so kommen Sie; ich will mit Ihnen ein paar große Gastrollen studieren, so lange, bis ich Sie darin im Burgtheater hinausstellen kann – oder bis ich sehe: es geht nicht. Sie sind noch ›blutige Anfängerin‹. In Ihrem Deutsch ist noch viel Rumänisch. Es reizt mich aber, das Wagnis reizt mich. Mißlingt es, vor oder auf der Bühne, so haben Sie nichts, gar nichts! – Wollen Sie's versuchen?«

Sie sagte auf der Stelle ja. Sie hatte einen blinden, verwegenen Mut. Nach wenigen Wochen erschien sie in Wien; vom Deutschen Theater war sie mit leichter Mühe losgekommen. Mein Studium mit ihr[46] begann, in einer der schönsten und reichsten Rollen, die ein Mädchen spielen kann, die aber auch einen ganzen Menschen fordert: Hero in Grillparzers »Des Meeres und der Liebe Wellen«. Eine Riesenarbeit, wochenlang! Die Barsescu faßte schnell, ihr junges Organ schmeidigte sich leicht, die mädchenhaften wie die tragischen Töne gewannen täglich an Natur und Blut; aber so viele Geheimnisse der Technik mußten ihrer bisher unberatenen Jugend erst lebendig werden, und die undeutschen Klänge und Silben in ihrer Sprache kämpften einen zähen Kampf. Ich studierte (wohl oder übel; die Auswahl an Rollen war gering) auch Mosenthals »Deborah« mit ihr. Lehrer und Schülerin ermüdeten nicht. Gegen Ende November konnte sie endlich als Gast, als Hero, auf die Bretter treten. Es ward ein Triumph für sie und mich, über Erwarten groß. Die Beseelung, nach der ich vor allem gerungen hatte, die Erfüllung von Wort und Ton und Gebärde mit dem innersten Herzensleben, so daß sich die Seele wie hinter einem Schleier bewegte, wirkte überraschend, hinreißend, da man wußte: sie kommt von der Theaterschule. Dazu der dunkle, geheimnisvolle Wohllaut ihrer jungen Stimme, die Anmut ihrer großen, aber gut beherrschten Gestalt, in der wohl etwas von altrömischen Schönheitsgefühlen lebte.

Es ward ein zu großer Erfolg; wenigstens gefährlich groß: denn wie konnte ich dieser Jugend, die noch so viel zu lernen hatte, viele auch nur ähnliche Siegesmöglichkeiten schaffen? Die Erwartungen waren hoch gespannt, und Rollen wie Hero wachsen nicht wild. Schon die zweite Gastrolle, Deborah, mit ihrer Talmipoesie,[47] ihrer oft unbeseelten Rhetorik konnte nicht die gleiche Begeisterung erwecken. Indessen der Sieg war errungen, die Begabung hatte sich offenbart; und die erste Rolle, welche die Barsescu als engagiertes Mitglied spielte, Shakespeares Julia – wieder gemeinsam studiert – kam an Reiz und Erfolg fast der Hero gleich. Darauf erkrankte sie aber schwer, war fünf Monate lang invalid; auch sie einer der großen Fälle meines »Theaterpechs«, das mich, solange ich Direktor war, mit merkwürdiger Erbarmungslosigkeit verfolgte. Kräfte wie Baumeister und Hartmann haben mir je ein ganzes Jahr gefehlt; Schöne, Thimig, die Barsescu und andere brauchten viertel und halbe Jahre zur Genesung. Kamen dann noch eine oder zwei plötzliche, wenn auch kürzere Erkrankungen erster Mitglieder hinzu, so stand die Maschine still. Wie reich war mein Leben an Notgesprächen mit dem Theaterdiener oder »Ansager«, dem klugen und erfahrenen Lorey, dem »Minister der unerfreulichen Angelegenheiten«; wie oft kam er in meine Loge oder meine Wohnung mit einem Gesicht, das zu sagen schien: was spielen wir denn heut abend noch? Von hundert Stücken standen zuweilen nicht fünf.

Nach ihrer ersten Genesung – sie erkrankte noch mehrmals auf lange Zeit – traten in Agathe Barsescus Entwicklung einige Verlangsamungen oder Hemmungen ein, die offenbar mit ihren Leiden zusammenhingen; sie ging aber doch mit schönen Erfolgen ihrem Ziele zu, die jugendliche Tragödin des Burgtheaters zu werden. Als ich aber den Direktorstab niederlegte, verlor sie in der Burg den Sonnenschein; während August[48] Försters kurzer Herrschaft fand sie ihn noch wieder, dann kamen neue Konkurrenzkämpfe, denen sie entfloh. Man gab ihr die verlangte Entlassung; gewiß nicht zum Vorteil des Burgtheaters, dem so oft eine Tragödin fehlt.

So entging mir die Freude, für diese geliebte Bühne so recht eigentlich gepflanzt zu haben; ich mußte zufrieden sein, ihr schon Blühende oder Halberblühte zuzuführen, wie Katharina Schratt, Max Devrient, Georg Reimers, die zu Zierden oder auch zu Säulen des Burgtheaters geworden sind. Sonst kann ich nur sagen, daß ich Stella Hohenfels und Hugo Thimig, die noch nicht recht in der Sonne standen, mit liebevoller (und immer belohnter) Pflege zur vollen, hohen Blüte gebracht, in diesem Sinn dem Burgtheater gewonnen habe. Wie sehr Hugo Thimig dieses mein Verhältnis zu ihm empfand, das bewies mir ein rührendes Geschenk, das er seinem scheidenden Direktor machte: ein Kasten in Buchform mit Photographien nach allen Rollen, die er während meiner Zeit neu gespielt; auf den Rücken war, wie bei Büchern, gedruckt: »Thimig. Ausgewählte Werke, 1881–1887, bearbeitet und herausgegeben von Ad. Wilbrandt.«

Ich verließ das Theater, weil meine Zeit gekommen war: die Nerven waren »dieses Treibens müde«, und der Dichter, auch der (lebenslängliche) Student verlangten übermächtig nach Freiheit. Heimweh nach der Bühnenherrlichkeit hab' ich nie empfunden; meine Anhänglichkeit an das Burgtheater kann aber wohl nur mit mir vergehn. Wenn in diesen Erinnerungen viele Namen fehlen, so wird das niemand wundernehmen: die Zahl der Gestalten ist zu groß, die auf dieser Bühne[49] in so vielen Jahren an mir vorübergeschritten sind. Von Amalie Haizinger an durch eine lange, edle Künstlerreihe bis zu denen, die auch im kleinen Großes leisteten, wie viele hätte ich noch nennen oder schildern können! Mögen diese, so viele ihrer noch leben, nicht denken, daß ich sie vergessen habe. Ich hab' nur nicht die Chronik meiner Burgtheaterzeiten schreiben, sondern von dem, was mir grade durch die Seele ging, hinplaudernd erzählen wollen. Wirklich vergessen, oder halb vergessen, hab' ich nur die Beschwerden, die Übelstände, die Anfechtungen und Verlästerungen, die jene Jahre begleiteten. Sie sind in ihrer groben Erdenschwere allmählich niedergesunken, liegen still am Boden, während ich in der reinen Luft meiner schönen, goldigen Erinnerungen schwebe.

Wer die Übel des Lebens ewig wiederkäut, dem mag es freilich wenig wert sein. Das Talent, so unvernünftig zu leben, hab' ich zum Glück nie gehabt.

Allerdings, mir wird nicht recht wohl zu Mut, wenn ich an dem neuen Prachtbau der Burg am Michaelerplatz vorübergehe und die Stätte suche, wo das spurlos verschwundene, kleine, unscheinbare Burgtheater stand. Es war eine Welt! und wir haben darin ungezählte schöne Stunden, inhaltsvoll wie Tage, gelebt. Nein, es hat selber gelebt; wie ich damals, als zum letztenmal drin gespielt ward, im Oktober 1888, in meinem trauernden Abschiedsgedicht schrieb:


Du selber lebtest! – Was ist tot? Du nicht;

Dir gab die Zeit dein eigenes Gesicht,

Aus deinen Mauern wehte Lebenshauch,

Wir sahn es wohl und wir verspürten's auch.[50]

Verklungner Stimmen edler Widerhall,

Altheiligen Strebens frommer Weihrauchschwall

Blies ringsumher, die dich bewohnten, an:

Ein jeder wirkt, so gut er wirken kann,

Ein jeder hört und fühlt des Geistes Gruß,

Und spannt sich an, und will nun, weil er muß.

Klein, schmal und enges Haus! Was tut's? Es strebt

So feuriger die Brust – wie wir's erlebt –

In dieser Enge groß und frei zu schalten,

Das Bild, des Wortes Bruder, zu gestalten,

Bis unsrer Seele geistig flücht'ger Traum

Einwurzelt, körperhaft, im harten Raum.

Da schienst du dich zu dehnen, kleine Schale

So weiten Inhalts; wie im Weltensaale

Erklang der Engel Gruß, der Seelen Not,

Des Lebens Schlachtruf und der Fried' im Tod...

Nun sinkst du hin! Das letzte Spiel ist aus!

Wie deine Toten trägt man dich hinaus.


Doch mit diesem Klageton möchte ich nicht schließen. Laßt mich's lieber mit den Versen tun, die ich an den Patriarchen des Burgtheaters, Adolf Sonnenthal, 1901 zu seinem fünfzigjährigen Schauspielerjubiläum als telegraphische Depesche schickte, nachdem ich gelesen hatte, daß er zuerst als Phöbus im »Türmer von Notre-Dame« aufgetreten sei:


Als Phöbus, sagt man, singst du an. Ich glaub' es gern.

Phöbos Apollon wurd'st du dann der alten Burg,

Und bliebst es immer! Warst der Fernhintreffende,

Warst Musenführer, warst dann auch in schwerer Zeit

Übelabwender, warst Orakelspender auch,[51]

Zuletzt patroos, väterlich, mit Recht genannt.

O bleib's noch lange! Sonnenthal und Sonnengott!

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Erinnerungen. Stuttgart, Berlin 21905, S. 33-52.
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