I

[91] Gegen Wien heranzufahren ist schön, vielverheißend, auf welcher Bahn man auch kommen mag; die gesegnete Lage dieser alten Stadt muß man stets empfinden, zumal wenn der Himmel gut wienerisch lacht. Mir ward aber doch wohl immer am eigensten, festlichsten zu Mut, wenn ich von Norden kam; wenn die Kuppen des »Wienerwaldes« auftauchten, der lange Rücken des Bisambergs sich entfaltete, Leopoldsberg und Kahlenberg noch als eins erschienen, bis sie sich als die kapellen- und villengekrönten Häupter des Gebirges trennten; wenn die gezähmte, doch noch immer stolze Donau heranwuchs, das fürstlich majestätische Stift von Klosterneuburg auf dem Wasser schwamm – und das dem Auge unermeßliche Wien an seinen grünen Hügelpolstern ruhte, wie in wohliger Trägheit in die Kissen geschmiegt. Sich an den großen Fluß zu drängen, am und im Wasser zu leben hat der Vindobona nicht beliebt; ihr gefiel mehr, sich an den Weinbergen zu sonnen und an den hohen Wäldern zu kühlen. So ist sie geblieben. Sie wächst immer tiefer ins Land hinein. Die alten Sommerfrischen der Wiener werden Stadtbezirke oder[91] sind es schon. Selbst der Kahlenberg, über den in der großen Türkennot die Rettung heranzog, ist ein Stück von Wien. Über das alles aber herrscht der Stephansturm, wie er vordem über die innere Stadt herrschte; einst ein großmächtiger Herzog, nun ein schöner Kaiser.

So sah ich Wien, als ich zum erstenmal aus dem Norden kam, vor nun bald zweiundvierzig Jahren, im Juli 1862. Ich kam mit einer Vorneigung, die sich durch all die Zeiten bewährt hat; »Ergänzung meines nordischen Ich durch den deutschen Süden!« dieser Jünglingsgedanke hatte mich als Studenten nach München geführt, trieb mich nun zur Hauptstadt von Österreich. In meinen Werdephantasien spielte schon lange ein gehätscheltes Traumbild mit: eine Wienerin heimführen und mit ihr dann in Berlin zum Volldeutschen werden. Ich hab's später anders gemacht: die kaiserlich königliche Wienerin, die ich heiratete, war doch aus dem Deutschen Reich; ich hab' aber weniger in Berlin, viel in Wien gelebt. Was ich geträumt hatte, hat mein Sohn verwirklicht: eine echte Wienerin ist seine Frau, sie leben in Berlin. So wunderlich oder wunderbar verkörpern sich oft die spielenden Gedanken; man fühlt sich versucht, auch darin verschleierte organische Entwicklung zu ahnen.

Juli 1862; wie anders als heute war das Wien von damals! Die alte »innere Stadt« noch ganz eine Welt für sich; durch das weite, flache, fast öde Glacis von den Vorstädten getrennt wie in den alten Festungszeiten. Man lustwandelte noch auf den Basteien, man spazierte über das Burgtor weg, an dem »Justitia regnorum fundamentum« eingegraben steht (»bei der[92] Justiz geht alles drunter und drüber«, hieß es); man fuhr in oder auf den hohen Stellwagen über das Glacis zu den Vorstädten hinaus wie in eine fremde Stadt. An den Abhängen des Wienflüßchens, da, wo jetzt der Stadtpark blüht, weideten Ziegen wie auf dem Lande; wo sich nun die Ringstraße windet, die Museen, das Parlament, Rathaus, Universität, Burgtheater prangen, herrschte im Sommer – den erlebte ich – der glühende Staub. Etwas Ähnliches hatte ich noch nie gesehn; gab es noch eine zweite »Weltstadt« von dieser Art? Ich weiß es nicht. Wenn ich aus der alten Stadt herauskam, in der sich am Stephan, auf dem Graben und Kohlmarkt das üppige, elegante, süddeutsch heitere Leben drängte, und dann von der Löwelbastei, wo bei der Belagerung von 1683 die Türken so fanatisch stürmten und fielen, zum Kahlenberg hinübersah, von dem der polnische König und die Deutschen kamen, so fühlte ich tiefer, als man's heute fühlen kann, was uns Wien einmal war: das große Bollwerk unsrer Kultur, unsres Lebens, an dem die östliche Gefahr zerbrach. Meine Phantasie füllte sich mit den kriegerischen Gestalten jener Tage, dem belagernden Großwesir Kara Mustapha, dem Verteidiger Grafen Rüdiger von Starhemberg, dem Bürgermeister Liebenberg, den Befreiern Johann Sobieski und Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden; das ganze Gelände ward mir lebendig, wie es damals gewesen, nicht wie es jetzt vor den Augen stand. Ich studierte mit Feuereifer Schilderungen der Türkenbelagerung aus den nächsten Jahren, die mir der Bibliothekar des Fürsten Liechtenstein, der liebenswürdige Doktor Falk, nach Hause mitgab: vom Syndikus und[93] Stadtschreiber Nikolaus Hocke (1685) und vom kaiserlichen Hofkriegsrat und Historiographen J. P. von Välckern (1684). In denselben Sommerwochen, die ich in Wien durchlebte, hatte der furchtbare Kampf getobt; die glühende Sonne, die Gewitterschwüle schienen mir zuweilen den Blutgeruch von damals auf dem Glacis und den Basteien wieder aufzuwecken. Die dramatische Spannung der Zeit lag auf meinen Nerven, die ohnedies von allerlei tragischen Phantasien zuckten. Und ich Gärender, Werdender ahnte nicht, daß ich einundzwanzig Jahre später, als Direktor des Burgtheaters, in neuer Belebung jener Jugendgefühle das Schauspiel »1683« von Hippolyt Schaufert aus seinem Grab im Archiv hervorholen und wieder aufführen würde, zur zweihundertjährigen Feier der Befreiung Wiens. Am 12. September, dem Befreiungstag, spielten wir's zum erstenmal; indessen schon nach drei Tagen zum letztenmal: die Kritik, die man an dem Schauspiel übte, war stärker als der Patriotismus, an dessen Macht ich geglaubt hatte; »1683« sank ins Archiv zurück.

Der Reisegefährte, mit dem ich nach Wien gekommen war, teilte meine kriegerischen Gefühle und Studien nicht; er war einer der friedlichen Menschen, die vor allem das Schöne und das Zarte suchen. Auch sonst ein ungleiches Gespann, da er um viele Jahre älter war, fühlten wir uns doch als richtige gute Kameraden, da uns herzliche Zuneigung und Rostocker Blut und mecklenburgischer Humor verband. Er hieß Friedrich Eggers – wie viele, die damals jung waren, kennen und lieben ihn noch! – war Professor der Kunstgeschichte an den drei Akademien Berlins, lyrischer[94] Dichter in hochdeutscher und plattdeutscher Sprache, und verfolgte auf dieser Lust- und Bildungsreise den Nebenzweck, die Zeitalter des Barockstils und des Rokoko in Dresden, Prag, Brünn, Wien und andern österreichischen Städten zu durchforschen. Ich, der ich meinen eigenen Nebenzweck hatte: mich zu finden und dramatischer Dichter zu werden, nachdem ich in München aus Patriotismus Journalist gespielt und in Berlin ein Buch über Heinrich von Kleist geschrieben – ich machte in jugendlichem Übermut und Wissensdrang alle Forschungen meines Kameraden mit; so tief in Barock und Rokoko bin ich nie gewatet wie in dieser Zeit. Wie in Dresden und Prag, so auch hier vertieften wir uns in alles, was die großen und kleinen Meister jener Stile in die geduldige Luft hineingebaut, gemalt und gemeißelt hatten; wer Wien kennt, der weiß, wir hatten tüchtig zu tun. Wir waren aber auch fleißige Leute und wir hatten Zeit. Aus unserem Gasthof siedelten wir so bald wie möglich in ein gemeinsames Zimmer über, das wir in der Leopoldstadt, in der Lilienbrunngasse fanden; schlicht, billig, drei Treppen hoch, bei einem alten Franzosen, der nebst seiner alten Frau still gemütlich radebrechte. Von dort belagerten wir Wien und stürmten es jeden Morgen, um es besser als die Türken zu erobern.

Friedrich Eggers – nun auch schon so lange tot; o wie unsere Friedhöfe wachsen! – Friedrich Eggers war ein Original, der mit vielem Humor sich selber spielte und doch wirklich echt war; ein schwer zu beschreibender Mensch. In meiner Erzählung »Fridolins heimliche Ehe« hab' ich ihn dichterisch darzustellen gesucht; doch ihn erschöpfen konnte und wollte ich nicht,[95] vielleicht ist's unmöglich. In seiner guten, feinen Seele war allerlei Weibliches, das jüngere Männer – zumeist seine Schüler – väterlich zu bemuttern liebte; an mich hatte er sich bald besonders herzlich angeschlossen, und den Unterschied der Jahre glich mein Drauflosgehen aus, dem er sich mit Humor und Liebe fügte. Damals, wie gesagt, suchte ich mich noch; später, als ich mich so mehr und mehr gefunden hatte, kam mir die Lust, auch ihn zu »schreiben«, und ich kündigte es ihm eines Tages an: »Friede (so nannt' ich ihn), ich mach' ein Lustspiel aus dir!« Zuerst, wenn ich mich recht erinnere, stutzte er darüber; dann lebte er sich aber hinein – buchstäblich. Da ich die Drohung jahrelang nicht ausführte, sie aber über seinem Haupte schwebte, gewann er sie lieb; und so oft wir uns wiedersahen – wenn ich durch Berlin kam, so war ich sein Gast – teilte er mir mit seinem anmutigen Augenlächeln und tiefen Lippenernst mit: »Adi, ich hab' wieder einen neuen Zug von mir für dein Lustspiel!« Den spielte er mir dann vor. So arbeitete er mit. Das mag kokett und befremdlich klingen; es war aber guter, freier Humor, der mit etwas barocker Grazie über sich selber schwebte.

Dieser Humor glich denn auch alles aus, was unsere Organismen im Grunde trennte; er war »in unserem Bunde der dritte« und blieb es bis zu Fridolins Tod. Er verklärte uns auf dieser Reise seine Wanzenfurcht, die ihn verfolgte wie die Eumeniden den Orest, und seine Insektenjagden bei Nacht, die mich manches Mal aus dem Schlaf erweckten. Er machte uns jedes kleine »Idyll«, das andere wohl kaum bemerken, zum Fest, und verband uns mit jedem neuen Menschen sofort; darin[96] war Fridolin Meister und unvergleichlich. Durch ihn lernte ich jetzt unter anderen den Professor und Kunstforscher Rudolf von Eitelberger, den Architekten Heinrich von Ferstel kennen; jeder Wiener weiß, was diese Männer ihrer Stadt bedeuten. Sie nahmen uns mit all der ritterlichen Gastfreundschaft auf, die an der Donau zu Hause ist, ebneten uns alle Wege; Ferstel, der bedeutend jüngere, mit hinreißender Liebenswürdigkeit. Er zeigte uns, was zu seiner noch werdenden Votivkirche gehörte, bis ins letzte, wir lernten den ganzen Baumeister kennen; er führte uns in sein Sommerhaus in Grinzing, zu seiner reizenden Frau und zwei allerliebsten Buben, und über den Kahlenberg und Leopoldsberg nach Klosterneuburg, wo wir seine Gäste waren, in Kunst und edlen Weinen schwelgten, auch von dem berühmten Faß im Kloster hinunterrutschten. Dann in seinem Wagen an der Donau zurück, die in ihrer stillen, einsamen, heroischen Größe an ihren Hügeln, ihren bebuschten Ufern und sandigen Inseln dahinströmte, und aus der uns die Geister der Nibelungen herzbewegend aufstiegen. Der herrliche Tag schloß lieblich in Grinzing, wo er begonnen hatte: in Ferstels Laube, mit seinen Eltern, Schwestern und Schwager, ward geschwatzt, gekegelt, gezecht, Backhendl gespeist, bis uns die Gastfreunde nach Döbling zum späten, wohl letzten Omnibus brachten, der uns heimwärts führte.

Wir nahmen aber auch an den ernsten Reformbestrebungen dieser Neuerer und Begründer teil; so studierten wir, was Eitelberger und Ferstel gemeinsam für die bevorstehende große Stadterweiterung gedacht[97] und gepredigt hatten, ihre durch Zeichnungen und Grundrisse erläuterte Schrift: »Das bürgerliche Wohnhaus und das Wiener Zinshaus« (1860 erschienen). Ihnen beiden ist dann das Glück geworden, so manches von ihren Wünschen und Plänen auf dem lebendig werdenden Glacis zu verwirklichen; dem Kunstforscher Eitelberger, indem er das Österreichische Museum für Kunst und Industrie und die Kunstgewerbeschule gründen, die Akademie der bildenden Künste umgestalten durfte; dem Künstler Ferstel, indem er nach der schönen Votivkirche das Museum, dann den Prachtbau der Universität erschuf. Damals, 1862, lebten sie noch für eine geträumte Zukunft, die nun prunkende Gegenwart ist, für das neue Wien.

Wir beiden Spazierengeher lebten noch im alten; wir vertieften uns in die Kirchen, Paläste und Galerien umso gründlicher, da von Theater und Musik in dieser Hochsommerzeit nicht viel zu erleben war. Das Burgtheater war geschlossen, die Oper im alten Kärntnertortheater tat sich erst im August wieder auf; wir bewunderten wenigstens noch die Dustmann als Pamina, Walter als Tamino, Schmidt als Sarastro, über die rührende Ärmlichkeit des Hauses staunend. Im Treumannschen Theater am Kai, das bald darauf niederbrannte, konnten wir doch in einer Nestroyschen Posse Wiener Humor und Darstellungskunst etwas kennen lernen, und in Fürsts Singspielhalle im Prater sehen, mit wie einfachen Mitteln man ein großes Behagen gefüllter Häuser erzielen kann. Aus Gesangsvorträgen kleiner Trupps in Wirtshäusern war durch Fürsts unternehmenden Weltverstand ein »Musentempel« hervorgewachsen,[98] in dem bei immer gleicher Szene – Zimmer – eine Reihe von Singspielen in aller Geschwindigkeit und unter jubelndem Beifall abgehaspelt ward; dummes Zeug, aber mit Witz und guter Laune frech und frisch heruntergespielt. Uns Nordländer störte nur das Schnellfeuer der Rede, in dem einige dieser Komiker den Triumph der Kunst suchten; im rasendsten Tempo, pausenlos, jagten sie durch eine wahre Wildnis von guten und schlechten Späßen über Stock und Stein dahin; man hatte keine Sekunde Zeit, sich zu freuen, sich zu ärgern oder aufzulachen.

Die wahre Gemütlichkeit Wiens erlebten wir an den Feiertagen in Wies' und Wald, in den musikfrohen Kneipen oder im Wurstlprater, der damals noch idyllischer war, als er heute ist; so viel grünen Rasen mit so vielen Hunderten hingelagerter Men schen, Mann, Weib und Kind, hab' ich seitdem nie mehr gesehn. Es war eine heiße Zeit, zuweilen durch Gewitter, Stürme und Regengüsse plötzlich abgekühlt; schnell kam aber die Schwüle und das Glühen wieder, und an den langen Abenden verschmachteten die Menschen. Da saßen sie dann zuweilen am Donaukanal, Mann und Weib, ungeniert, bis zu den Knien im Wasser, um sich ein wenig Kühlung zu holen; ein Anblick, den ich noch nicht kannte. In den Wirtsgärten am Kanal wimmelte es bis tief in die Nacht; wer mochte denn auch nach Hause gehn, wo man schlaflos verschwelte. Ich erinnere mich, im kleinen Garten des »Kaiserbad« war's am Franz Josephskai: da widerfuhr mir an einem dieser schwülen Abende etwas Wunderliches, das mir zu Kopf und zu Herzen ging. Mein Reisegefährte hatte mich allein gelassen,[99] ich saß in einsamen Träumereien an meinem Tischchen. An einem Nebentisch saßen ihrer fünf oder sechs, Männer und Frauen, offenbar aus der Kaufmannswelt. Ihr Gespräch begann mich zu fesseln, als sie von einer Abwesenden sprachen; ich horchte, während ich weiterzuträumen schien. Es galt einer jungen Dame, wie ich bald bemerkte; die Gesellschaft war mit ihr äußerst unzufrieden, jedes hatte an ihr etwas auszusetzen – und alles, was sie ihr vorwarfen, nahm mich für sie ein, machte sie mir interessant. Der eine tadelte mit tiefem Ernst, daß sie zu wenig Geschäftssinn habe; die andre klagte, wie sie so gar nicht weltklug sei. Dann rümpfte eine dritte das Näschen: Überhaupt, diese Gleichgültigkeit gegen das Urteil der Welt, dieses Dahinträumen, so für sich, so unbekümmert. Bücher lesen! Gedichte lesen! setzte der vierte hinzu. Was ist ihr unsere Gesellschaft, wenn sie sich nur die Hände an die Ohren legen und sich in ein schöngeistiges Buch vertiefen kann!

Und so ging es weiter. Die werde nie eine richtige Kaufmannsfrau abgeben! das war ungefähr der Rede Sinn. Fürs »Geschäft« verloren! Eine überflüssige, nutzlose Schwärmerin; eine »schöne Seele«, wie, wenn ich mich recht entsinne, die fünfte mit verhöhnendem Mitleid sagte. Herrgott! dachte ich, jugendlich entzückt. Die ist zum Verlieben! Wenn sie ganz so ist, wie sie die da schildern, und wenn sie auch ebenso lieb anzuschauen ist, die wär' schon die Rechte! Und während die am Nebentisch sie so nach und nach aufgaben und von ihr zum ewig Nützlichen zurückkehrten, saß ich, in die schwüle Nacht hineinträumend, in zärtlichen Phantasien[100] da, suchte mir die »Verlorene« vorzustellen, dachte mitleidsvoll ihrem Leben nach, und wäre wie gern zu ihr durchs Fenster geflogen, oder auch durch die Tür zu ihr eingetreten, um ihr mein junges Herz zu Füßen zu legen.

Es blieb aber ein Traum; ich hab' sie nie gesehn. Die »Lästerschule« ging endlich wohlverrichteter Dinge heim, und ich auch. Ob die Verlästerte noch leben mag? Wie sie leben mag?

Als Wandervogel zog ich nach einigen Tagen meines Weges weiter. Mir blieb es aber eine Erfahrung fürs Leben: daß wir so breitgetrennte, so tiefverschiedene Menschen sind, daß das Verdammungsurteil der andern uns wie ein Lockruf oder Segensspruch klingen, unser Herz erobern kann.

Übrigens waren das nicht echte, rechte Wiener, die mir so zur Seele gesprochen hatten, ohne es zu ahnen; der wahre Wiener ist kein Yankee und wird keiner werden. Er hat mehr das »Leben und Lebenlassen«, und den leichten Sinn und auch den Leichtsinn, der dazu gehört; der wohl überhaupt zu einem künstlerisch veranlagten Volk gehört. Uns Reisenden fiel damals oft bis zu hellem Erstaunen auf, mit wie leichten Händen in Wien das Geld weggeworfen ward; oft buchstäblich weggeworfen: es war noch die Zeit des kleinsten Papiergeldes, der Sechserzettel, die man gerne frei in der Tasche trug und als Trinkgeld oder auch sonst nach rechts und links »hinausfeuerte«, ohne sie zu zählen Mit einer Art von bewunderndem Grauen hab' ich das bei unsern Gastfreunden gesehn, die nur so in die Westentasche griffen und ganze Haufen dieser[101] kleinen Zettel in die bereitwilligen Kellner-, Dienstmänner-, Kutscherhände drückten. Ein kavaliermäßiges Verschwenden hatte die Wiener wie eine Mode, wie ein Sport ergriffen; es stimmte zu dem »Alleweil fidöl, fidöl!«, das damals der Lieblingsgassenhauer der Kaiserstadt war, den in der Singspielhalle im Prater der Direktor Fürst und Kraler mit virtuosester Lustigkeit heruntersangen. Die Sechserzettel verschwanden später, und der große Börsenkrach von 1873 rief wie eine Sturmglocke zur Umkehr und zur Nüchternheit; aber die Neigung, das Geld gemütlich zu verachten, blühte doch noch weiter. In den Siebzigerjahren sagte mir Lenbach einmal, der oft von München nach Wien kam: »In München heißen sie mich 'nen Verschwender, und hier gelt' ich für 'nen Schmutzian.«

Ach mein Gott! Nun kann ihn niemand mehr loben oder schelten.

Als der August gekommen war, kam auch eine Wien-Müdigkeit über mich, die mich am sechsten in die Berge trieb, dem Traunsee zu. So viele Wochen hatte ich Städte und Menschen studiert, im Gewirr der Gassen, zwischen backsteinernen sommerheißen Wänden der Kultur und der Kunst gelebt; jetzt riß es mich zur Natur hinaus, und in irgend eine schöne Einsamkeit, um meine Tragödien aufs Papier zu werfen. Die Unruhe dieser gefüllten Tage, der ewige Wechsel des Wetters, mit Gewitterstürmen, hatten mir auch die Nerven überreizt, zuletzt den Seelenfrieden genommen; der Fanatiker in mir erwachte wieder, der zuweilen aus seiner Kerkerzelle, in der ihn Humor und Philosophie gefangen hielten, wie ein melancholischer Berserker hervorbrach. Es war[102] der Fanatismus des Vaterlandsgefühls, das ich wohl in keinem Menschen so stark oder so ungestüm gefunden habe wie in mir. Das unwürdig zerrissene und machtlose Dasein meines Volkes drückte mir oft das Herz zusammen, daß ich kaum mehr leben konnte, und der Übermut der glücklicheren, längstgeeinten, weltbeherrschenden Völker, die manchmal an Ehrlosigkeit grenzende Schwäche des »Deutschen Bundes« traten mir auf der Brust herum. Nun hatte ich auf dieser Reise so viel vom deutschen, sodann vom tschechischen Böhmen, dann von Wien gesehn; und dieses große, glänzende, so schön in seinen Bergen liegende, »alleweil fidöle« Wien, das ehemalige Bollwerk gegen die Türkennot, das Paradies der Musik, die Stadt der Haydn und Mozart, Beethoven und Schubert, erschien mir jetzt in schwarzen Stunden wie ein unheimlicher Alp, der auf Deutschland lag Wien und Österreich; das große, tapfere, kriegsgewohnte, vielsprachige, trostlos uneinige Österreich, das Österreich der Jesuiten, das Konkordats-Österreich – das über uns zu herrschen suchte, das von unsrer Zerrissenheit lebte, wie der Adler des Zeus, der die immer wieder nachwachsende Leber des Prometheus fraß. Wie sollten wir Gefesselten, an den Fels unsrer geschichtlichen Nemesis Geschmiedeten diesem Adler entrinnen? diesen Alpdruck von uns schütteln? Und hätten wir statt Preußen Österreich freiwillig zum gekrönten Oberherrn nehmen wollen, konnte dieses jesuitenschwarze, sich selber zerfleischende, von so vielen deutschfeindlichen Völkern bewohnte Österreich des deutschen Volkes Führer sein?

Es war nun aber da, es lebte, ich fühlte sein Leben um mich her; so viele in mir liebten es, einer mußt'[103] es hassen. In diesen letzten Wiener Tagen kam eine Stunde, wo der eine es nicht nur haßte, auch verzweifelte; um ihn her ward zu schwarze Nacht. Glaube und Hoffnung, sonst in meiner jungen Brust so mächtig, versanken ganz; Deutschland kommt nicht mehr hoch! Sie selber helfen sich nicht; wer soll ihnen helfen? »Nur ein neuer Friedrich der Große kann's!« hatte der alte Professor Steinthal von Schulpforta gesagt, wenn ich, der junge Student, der Sohn seines Freundes, mit ihm durch die Wälder gen Naumburg wanderte und wir aus dem deutschen Elend einen Ausweg suchten. »Nur ein neuer Friedrich der Große kann's!« Wo war der? Woher sollt' er kommen?

Mir fraß der Adler unseres Schicksals am Herzen. Nach der Vorstellung der »Zauberflöte« saßen wir im »Erzherzog Karl« in der Kärntnerstraße, Fridolin und ich; Mozart, Humor, Lebenssinn und alles verging mir, ich warf nur noch wilde Worte hin. Fridolin, der nicht wußte, was in mir war, hatte Gegenworte; es kam zu scharfem Hin und Her, das im Grunde sinnlos war, denn es traf die Sache nicht. Zuletzt haßt' ich mich selbst, widerte mir selbst. Wir gingen nach Hause, stumm geworden, ich mochte nicht mehr sprechen. Als ich dann oben an meinem Fenster stand und aus unserm dritten Stock auf die regenfeuchte, vom Laternenlicht angeschimmerte, granitgevslasterte, tote Straße sah – »hinunterstürzen!« dachte ich. »Aus dem Fenster springen! Dann ist's aus!«

Todessehnsucht. Dahin kam's mit mir in dem »alleweil fidölen« Wien.

Ich bin nicht gesprungen. Es leben in mir zu viele[104] gern; mehr als in den meisten Menschen, die ich kenne. Und es war doch wohl noch einer darunter, der auf jemand hoffte. Er kam schon, dieser Jemand! Noch in demselben Jahr, 1862, setzte er sich den Kranz aufs Haupt: den Dornenkranz des preußischen Ministerpräsidenten; vier Jahre später war es der Siegeskranz. Otto der Befreier, Otto der Begründer!

Und jetzt drückt kein Alp mehr, es drücken sich nur verbündete Hände.

Ja, wir Ahnungslosen!

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Erinnerungen. Stuttgart, Berlin 21905, S. 91-105.
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