Erster Auftritt.

[136] Longinus im höchsten Alter, weißhaarig, schwach, sitzt unter dem Kastanienbaum; dann Apelles.


LONGINUS sieht gen Himmel. Ich seh' ihn; dann wieder nicht. Ruft. Apelles! – – Nun zieht es wieder im Bogen durch das Blau dahin. Ruft. Hörst du nicht, Apelles?

APELLES tritt aus der Hütte; äußerlich nicht mehr gealtert, kraftvoll, in einfacher Kleidung. Ich höre; da bin ich

LONGINUS. Ist das ein Geier, was da oben kreist?[136]

APELLES späht hinauf. Nichts kreist da; ich sehe nichts.

LONGINUS. Gar nichts?

APELLES. Nein – Es muß ein schwarzer Fleck in deinem Aug' sein, Longinus.

LONGINUS nickt; ergeben. Ja, muß wohl so sein. In meinem Aug'. Eine Hirtenschalmei erklingt hinter der Scene, rückwärts. Das Licht schwindet mehr und mehr und das Dunkel wächst! – Aber ich höre gut. Das ist eine Schalmei, nicht wahr?

APELLES setzt sich. Ja; unser Hirtenbub, der das Schaf und die Ziegen weidet, unsre kleine Herde.

LONGINUS. Wenig Futter, Apelles, auf dem Steingehänge.

APELLES lächelnd. Und doch wird noch Milch daraus! Ernsthaft. Die Mutter Erde gönnt es ihren Kindern, ohne heiliges Wenn und Aber. Nymphas singt hinter der Scene, rechts. Hörst du auch den Nymphas? Er singt über der Schlucht.

LONGINUS horcht. Hm! – Wohl! Das Lied sollt' ich kennen.[137]

APELLES. Ein altes Lied vom Adonis, das die Jünglinge und die Jungfrauen singen.

LONGINUS. Weiß wohl, Apelles; weiß wohl. Die Mutter des Nymphas sang's, die Nachtigall, die Tryphena; als wir noch am Euphrates, in Vologesias lebten –

APELLES. Nicht doch, Longinus.

LONGINUS. Warum »nicht doch«; weiß ich doch, was ich sage. Ihre flötende Stimme sang's, als sie und mein Jamlichus noch wie die Zwillingsstämme einer Zeder unter uns wandelten –

APELLES. Du irrst. Sie sang's nie.

LONGINUS. Nie. – Hm! – Ich dachte.

APELLES. Dein Gedächtnis ist gut; aber zuweilen versagt's.

LONGINUS. Bin alt, alt! Ueber neunzig.[138]

APELLES. Ich auch.

LONGINUS nickt. Du auch. Aelter als ich. Zeus mag wissen, wie du es anstellst, so im Saft zu bleiben; wandelst noch wie ein Hirsch bei Tage, wie ein Löwe bei Nacht. Als wärst du nur gealtert bis zu einem Tag, der dir als letzter bestimmt war; dann gab dir ein persischer Magier einen Zaubersaft und nun lebst du unveränderlich wie die Götter weiter! Lacht.

APELLES. Vielleicht.

LONGINUS drückt die Augen zu. Ich hab' genug. – Wie kommen wir zwei dazu, daß wir noch über der Erde sind? All die andern, die modern längst, oder sind eine Handvoll Asche. Ja, ja, sind nun alle gleich! Die Brennessel Timolaos, und die Kletterranke, der Aurelius, und Septimius, der Goldregen – niemand sieht sie mehr für verschieden an; Asche ist Asche, Erde Erde. – So werden auch wir vergehen, du und ich, und nicht wiederkommen!

APELLES. Weißt du das? Ich nicht. – Seit ich wie die Adler lebe, die Welt von oben betrachte, besuchen mich in stillen Nächten wunderliche Gedanken. Nicht wiederkommen? Warum? Die Weisen in Indien sagen: wir werden sein – und sind schon gewesen! Langsam, sagen[139] sie, reift der Menschengeist, nicht in Einem Leben. Um gottähnlich zu werden, muß er durch viele und mannigfaltige Gestalten gehen ...


Quelle:
Adolf Wilbrandt: Der Meister von Palmyra. Stuttgart 61896, S. 136-140.
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