[118] Es war der 10. Oktober des Jahres 1780 ein gar schöner sonniger Herbsttag, so ein Tag, an dem alte Herzen wieder jung werden und junge überfließen möchten von Lebenslust. Die Sonne schien so voll und warm, als wollte sie noch einen recht herzlichen Abschied nehmen von der Erde, ehe sie sich in ihre Winterschleier hülle.
In dem anmutig gelegenen Dorfe Rebenbach war gerade die Weinlese in vollem Gange, ein fröhliches Leben und Treiben auf all den Höhen ringsumher. Am lustigsten ging's aber zu in dem Weinberge des Pfarrers; da wurde nicht gespart an Lohn und Kost der »Leser« (wie man in Schwaben die traubenschneidenden Winzer nennt), darum waren sie auch so guter Dinge bei ihrer Arbeit und ließen noch vor dem Feierabend aus der alten Pistole des Husarenmartins, eines Veteranen, hie und da einen tüchtigen Schuß los, der knallend von all den Bergen und Hügeln umher widerhallte und von da und dorther erwidert wurde.
Die Mägde des Hauses samt einigen Weibern und Mädchen des Dorfes, die sich's zur Ehre rechneten, heute zu helfen, schnitten flink die Trauben in die Kübel, wobei der Martin die Aufsicht führte, ob auch die Stöcke pünktlich abgelesen und die abgefallenen Beeren gesammelt würden. Die vollen Kübel wurden in einen hohen Butten geleert, den ein junger Bursche den Berg hinabtrug. Unten wurden die Trauben in eine Kufe mit durchlöchertem Boden (Renner genannt) geschüttet, in der Jakoble, ein rotbackiger Bauernbube, lustig darauf herumtanzte, so daß ihr Saft in die darunter stehende weite Bütte floß als trübe Brühe, der man's nicht ansah, daß sie nachher den köstlichen süßen Most, den edlen klaren Wein gebe.
Oben in dem Weinberge, wo man das ganze weite Tal übersieht, stand eine große Laube mit langem Tisch; dort war Dörtchen, des Pfarrers Töchterlein, emsig beschäftigt, den[118] Tisch zur Bewirtung der Herbstgäste zu rüsten, die heute aus der Stadt erwartet wurden. Die schönsten Trauben hatte sie zierlich zwischen Rebenlaub in die Körbe geordnet, den weißen Herbstkäse, mit Kümmel bestreut, in Porzellangeschirren aufgestellt, den roten Wein in helle Flaschen gefüllt; ja, die Mutter hatte ihr sogar anvertraut, den Schinken aufzuschneiden und auf den Teller zu legen.
Das Dörtchen war erst dreizehn Jahre alt und kleiner als die meisten Mädchen ihres Alters; aber sie drehte sich dreimal um bis andre nur einmal und sah aus ihren hellen, blauen Augen so freundlich in die Welt hinaus, daß jedermann eine Freude an ihr hatte. Sie war stets fröhlichen Herzens, heute aber, wo sie so viel vergnügte Leute sah, war's ihr einmal ganz besonders wohl auf der Welt. Obgleich sie just keine sonderliche Singstimme hatte, sang sie doch aus lauterer Herzensfreude mit hellem Tone: »Rosen auf den Weg gestreut und des Harms vergessen!« was damals ein nagelneues Lied war. Da erblickte sie ein junges Mädchen ihres Alters, die höchst mühsam die schmalen Weinbergstäffelein heraufstieg, und mit dem Jubelruf »Liesle, Liesle!« hätte sie fast das Glas fallen lassen, das sie eben hell reiben wollte; aber sie besann sich schnell, stellte es rasch auf den Tisch und sprang dann mit fröhlichen Sätzen, leicht wie ein junges Reh, der Ankommenden entgegen. Das Liesle (die sich aber nicht gern so nennen ließ, wie wir bald hören werden) vermochte mit ihrem langen himmelblauen Kleide kaum durch die enge Furche zu kommen, und[119] Dörtchen, der ihr etwas verwachsenes kurzes Barchentkleidchen nicht hinderlich am Steigen war, konnte fast nicht erwarten, bis sie sie endlich mit heiler Haut heraufgebracht hatte.
»Nun aber sag mir, Liesle,« fing sie an, »was fällt dir ein, in deinem hellblauen Levantinkleid hierher in den Herbst zu kommen? Unsern Bauern hättest du in einem Merinokleide ebenso wohl gefallen. Aber gelt, da kommst du dir wie so ein Fräulein vor in den Romanen, die du so gern liest?« Elischen, die gerade so alt wie Dörtchen, aber viel größer und ein hübsches schlankes Mädchen war, nahm den Empfang etwas übel; denn sie kam sich besonders schön vor in dem himmelblauen Kleide und hatte nur schwer von der Mutter Erlaubnis erhalten, es anzuziehen. Da aber Dörtchen doch recht hatte, so fing sie von was anderm an: »Aber, liebes Dörtchen, könntest du mich denn nicht Elise nennen, da du weißt, daß ich's viel lieber habe? Lieschen klingt doch so gar gewöhnlich; ich werde dich ja gern Dorette oder Doris heißen, wenn du willst.«
»Bedanke mich dafür,« meinte Dörtchen; »wenn's der Mutter nicht zu lang wäre, ließ' ich mich am liebsten Dorothea heißen, wie ich getauft bin, seit ich vom Vater weiß, was für eine schöne Bedeutung der Name hat. Dir tue ich aber gern den Gefallen, dich Elise zu heißen, wenn ich's nicht hundertmal wieder vergesse. Nun aber komm und iß Trauben! Die andern Sachen wollen wir stehen lassen, bis die Eltern mit den Gästen kommen.«
Elise (wir wollen ihr auch den Gefallen tun, sie so zu nennen) war den andern Gästen vorangegangen, die der Pfarrer auf einem weiteren Wege herführte, um ihr liebes Dörtchen früher zu sehen; denn die zwei Mädchen hatten sich, trotz ihrer großen Verschiedenheit, herzlich lieb. Elise war die Tochter der wohlhabenden Witwe eines niederen Hofbeamten, die in der nahen Hauptstadt wohnte, einer Jugendfreundin der Pfarrerin, daher kannten sich die Mädchen von frühester Kindheit her. Sie war ein lebhaftes, reichbegabtes Mädchen, aber launig und flüchtig in allem, was sie tat, und von der zu nachsichtigen Mutter verwöhnt. Ihr Hauptfehler war der, immer etwas[120] Besonderes sein zu wollen; daher trieb sie meist, was sie nicht sollte; las Romane statt der Schulbücher, wollte Rosen und Vergißmeinnicht sticken, ehe sie recht Strümpfe stricken konnte; wünschte sich, jung zu sterben, statt daß sie mit Gottes Hilfe gesucht hätte, recht leben zu lernen, und machte der Mutter und dem Lehrer mehr Verdruß als Freude, obgleich sie immer und überall für äußerst gescheit und talentvoll galt. Da war das Dörtchen ganz anders: was sie gerade tun sollte, das tat sie recht und ganz, sei es nun Hühnerfüttern oder Lesen, Arbeiten oder Spielen; sie war mit ganzer Seele dabei, darum geschah auch alles recht, was sie ergriff, und sie war stets fröhlich und wohlgemut.
Da die Bewirtung für die Gäste bereit war und Elise noch müde von ihrer außerordentlichen Anstrengung, setzten sich die Mädchen einstweilen mit einem Traubenkörbchen auf die Schwelle der Laube und schauten vergnüglich hinunter in das reiche, gesegnete Tal; an die Höhen, die ringsum belebt waren von frohgeschäftigen Leuten; dahinter der buntgefärbte Wald und darüber der schöne blaue Himmel. Es war so schön hier, daß ihnen recht das Herz aufging.
»Hör, Dörtchen,« begann Elise, »möchtest du nicht, daß es noch Feen gäbe? Daß dort hinter dem vorstehenden Fels jetzt plötzlich so eine Frau in glänzenden Gewändern hervorträte und uns drei Wünsche erfüllen wollte?«
»Ja,« sagte Dörtchen, »als ich die Geschichten zuerst las, ist mir's auch immer durch den Kopf gegangen, und ich dachte, das wäre prächtig; aber nachher ist mir eingefallen, daß der liebe Gott doch mehr kann als alle Feen und daß er uns noch viel lieber hat, darum wird der uns schon geben, was wir brauchen.«
»Wüßtest du denn jetzt gar keine Wünsche, Dörtchen?«
»Ich? Wart einmal, ich will mich besinnen; ja, auf den Winter möcht' ich ein Spinnrädchen, ich spinne gar nicht gern an der Spindel; doch nein, das gilt nicht, das krieg' ich vielleicht zum Christtag. Aber ich möchte, daß der Vater recht gesund wäre und daß der Nachbarin ihr Fritz nicht unter die Soldaten[121] müßt', sie weint so um ihn; und schön singen können möcht' ich auch, daß der Schulmeister nimmer sagte, seine Hühner gehen drauf von meinem Gesang, und so einen Beutel, der nie leer wird, ließ' ich mir gern auch gefallen, aber ich weiß dann doch nicht, ob ich's auch recht austeilen könnte. – Aber was weißt denn du alles, Elise?«
»Ich,« sagte diese mit glänzenden Augen, »ich möchte schön sein, ach, so wunderschön! Und möchte den Teppich, auf dem man durch alle Länder fliegen kann, wohin man nur will, und möchte ein Zauberstäbchen, mit dem man alles auf einen Schlag fertigmachen kann, daß ich mich nicht mit so langweiliger Arbeit plagen dürfte, und möchte prächtig singen und malen können, und auch ein Füllhorn, aus dem ich schütteln könnte, was ich nur wollte, die schönsten Kleider ...«
»Ei, und was noch mehr!« rief das muntere Dörtchen, »du hast's ja wie am Schnürchen! Aber hör,« fuhr sie nachdenklich fort, »ich meine, darum habe uns Gott doch nicht in die Welt geschickt, daß wir alles mit einem Zauberstäbchen fertigmachen sollen; und wenn man recht getan hat, was man soll, so ist man am Ende doch noch vergnügter, als wenn man gleich hat, was man nur will.«
»Ach, geh! Ich würde ja auch aus meinem Füllhorn den armen Leuten Geld und Kleider herunterschütteln ...«
»Und ich würde die faulen Mädchen heimjagen, die im Herbst dasitzen und schwatzen, statt zu lesen. Schnell hinunter in den Weinberg, wenigstens du, Dörtle!« so rief Dörtchens Mutter, die Frau Pfarrerin, die inzwischen unbemerkt hinter die Mädchen getreten war. Dörtchen sprang rasch auf, grüßte die ankommenden Gäste freundlich, wenn auch rot vor Beschämung, nahm einen Traubenkübel und ihr Häpchen, eilte flink damit in den Weinberg und fing an zu schneiden, als ob sie heut noch allein fertigmachen wolle. Elise war empfindlich, daß man sie so als Kind an die Arbeit schickte, während sie schon in Gedanken als Feenkönigin herumgeschwebt war; sie wollte Dörtchen helfen, aber das Levantinkleid zerriß an den Traubenstöcken; mit dem Häpchen schnitt sie sich in die Finger, weil sie[122] die Trauben verkehrt hielt, und stieß mit dem Fuß den Traubenkübel um, so daß die Winzer ein lautes Gelächter erhoben über das »Stadthettele«, wie sie sie nannten, worüber sie tief gekränkt sich in die Laube zu den Erwachsenen setzte. Dort aber gab man zum Verwundern wenig acht auf sie; niemand sagte davon, wie gut sie singe und wie hübsch sie deklamiere, und niemand bewunderte ihr Levantinkleid. »Ach,« dachte sie im stillen, »wenn doch die Fee käme und mich plötzlich in ein großes, wunderschönes Fräulein verwandelte!«
Es war Abend geworden und die Lese beendigt, da geht aber erst noch die rechte Herbstlust an. Drunten auf einer Kleewiese hatten sich die Leser gelagert und ließen sich's herrlich schmecken bei Käse, Wurst und Wein. Oben hatte man zur Würze des Festmahls noch im Freien Kartoffeln gesotten, die reißend Abgang fanden. Nun ging das Schießen rasch und unaufhörlich fort. Die jungen Herren erschreckten die Damen mit angezündeten Fröschen und ließen Schwärmer und prächtige Raketen steigen, denen die Leute unten stets ein jubelndes »Ah!« nachriefen.
Die Mädchen saßen wieder beisammen, seitwärts auf einem Rain, wo sie dem Feuerwerk sicher zuschauen konnten. Dörtchen hatte sich müde geschafft und sah jetzt still zu, wie die aufzischenden, rotglühenden Feuerstrahlen einen Augenblick die kleinen, blassen Sterne zu verdunkeln schienen, die nachher doch wieder so still und klar dreinschauten wie immer. Das Gespräch von dem Nachmittag fiel ihr wieder ein und Elisens Wünsche. Da bat sie Gott im stillen, er möge ihr helfen, daß sie den Menschen lieb werden könne auch ohne große Schönheit, daß sie ihr Tagewerk recht vollbringe auch ohne Zauberstab, daß sie Armen Gutes tun dürfe auch ohne ein wunderbares Füllhorn; und es wurde ihr so still und wohl ums Herz, als ob alles recht und gut werden müsse.
»Siehst du,« rief Elise, als eben eine prächtige Rakete zischend auffuhr und in funkelnden Sternlein niederfiel, »siehst du, so möcht' ich ein Leben, glänzend, wunderbar und herrlich, und wenn's auch kurz dauerte!«[123]
»Die Rakete ist aus,« sagte Dörtchen, »jetzt fällt nur noch ein verbranntes Holz zur Erde; da möcht' ich lieber ein stilles Sternlein sein, das seine Bahn zieht, wie sie Gott verordnet hat, auch wenn niemand darauf achtet, als so ein Ding, das brausend hinauffährt und dann auslischt, ohne daß man mehr daran denkt.«
»Dörtchen,« fing nach einer Weile die aufgeregte Elise wieder an, »hast du auch schon gehört, daß ein Wunsch erfüllt wird, den man im Augenblick denkt, wo ein Stern fällt?«
»Ach, kommst du schon wieder ans Wünschen?«
»Hör, Dörtchen, wenn ich doch in die Zukunft sehen könnte! Ich möchte nur wissen, wo wir beide in zehn Jahren sein werden.«
»Wo der liebe Gott will,« sagte Dörtchen ruhig.
»Dörtchen,« fuhr Elise fort, »heute ist der 10. Oktober; wir wollen einander versprechen, nach zehn Jahren wieder hier zusammenzukommen, wenn wir noch leben, mögen wir auch sein, wo wir wollen.«
»Oh, von Herzen gern! Das ist wohl leicht zu halten; in zehn Jahren werden wir noch nicht weit von hier sein.«
»Sei das, wie es will, versprich mir's!« rief Elise, und Dörtchen schlug lächelnd ein.
Inzwischen hatte man Fackeln angezündet und schickte sich zum Gehen an. Dörtchen half die Reste der Mahlzeit und das Gerät zusammenpacken und nahm einen Korb an den Arm. Nun brannten die Fackeln, und Winzer und Gäste schritten bei ihrem Glanze singend dem Dorfe zu, während dazwischen die letzten Schüsse fielen. Leise singend schlossen sich die Mädchen dem Zuge an, während sie aufschauten zum stillen Nachthimmel. Elise dachte an die schimmernde Rakete, Dörtchen an den lieblichen Stern – da fuhr eine helle Sternschnuppe über den Himmel und erlosch.
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