III.

[26] Am Tage, da meine Mutter nachmittags begraben wurde, blieb mein Vater, der einer Erkältung wegen am Leichenbegängnisse nicht teilnahm, bei mir zu Hause. Er schritt während des ganzen Nachmittages im Hofzimmer, wo ich spielte auf und ab und weinte. Es war das erstemal, daß ich einen Menschen weinen sah; die Ursache begriff ich freilich nicht. Erst als die Dämmerung hereingebrochen war, ließ er sich auf ein Kanapee im Zimmer nieder. Von dort her[26] hörte ich ihn schluchzen, ohne diese Laute zu begreifen, die mich ängstigten. Da nahm ich wieder zu meinen Füßen Zuflucht und redete mit ihnen leise. Mein Vater mochte es aber doch gehört haben und plötzlich hielt sein Schluchzen ein und es wurde totenstill im Zimmer. Da fürchtete ich mich zum erstenmal in meinem Leben und fing zu schreien an. Mein Vater zündete Licht an und trug mich in mein Gitterbett und legte mich schlafen. Da ich aber Hunger hatte, so ging er in die Küche, in der er lange herumsuchte, bis er mir endlich ein wenig Milch und Semmel brachte. Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Später abends kam dann die Schwester meiner Mutter und sang mir ein Schlaflied. –

Meine Erinnerung setzt erst wieder ein, nachdem mein Vater die Wohnung in der Radetzkystraße verlassen hatte und mit mir und meiner Tante in die Josefsstadt übersiedelt war. Da hub nun freilich eine Zeit an, die ich niemals vergessen werde.

Unter Tags war ich auch hier meistens allein. Des Abends aber legte sich mein Vater früh zu Bett und zwar war mein Gitterbett an das seine angeschoben. Da pflegte er nun bei dem Lichte eines kleinen Petroleumlämpchens zu lesen und mir einzelne Gedichte Schillers laut vorzusagen. Da ich ein empfängliches Gedächtnis hatte, redete ich ihm bald einzelne[27] Verse nach und es dauerte nicht lange, so konnte ich Hektors Abschied und den Handschuh auswendig. Nun brachte mir mein Vater eine Art Vortrag bei, indem er mich anleitete, die Worte Hektors mit anderer Betonung und Stimme zu sprechen als die der Andromache. Er war dabei sehr liebevoll und ohne Strenge. Auch belohnte er jedes Gedicht, das ich neu auswendig konnte, mit einem Geschenk in Form farbiger Bleistifte und vieler Bilderbogen.

Wenn wir nicht gerade Gedichte auswendig lernten, so hatte mein Vater eine andere Beschäftigung mit mir. Er gab mir Wörter auf, zu denen ich ihm die Reimwörter sagen mußte. Dieses Spiel liebte ich bald besonders.

So deuteten sich damals in mir zwei Anlagen an, die zur Malerei und jene zum poetischen Ausdruck. Die erste ist mir inzwischen ganz abhanden gekommen, die zweite ist mir treu geblieben und wurde viel schuld an meinem unruhigen Leben, weil ich sie von vorneherein nicht richtig abzugrenzen vermochte. Vielleicht verdanke ich ihr aber auch alles Glück, das mir zuteil geworden, und ich will nicht undankbar sein gegen sie, weil sie nicht hielt, was Einbildung und Ehrgeiz mir versprachen.

Zwei Jahre nach dem Tode meiner Mutter verheiratete sich mein Vater wieder und gab mir eine Stiefmutter. Diese legte eine übertriebene Zärtlichkeit für mich an den Tag, solange[28] sie mit meinem Vater bloß verlobt war, und ich verliebte mich regelrecht in sie, die eine noch jugendliche blonde Person war. Meine Zärtlichkeit für sie war so groß, daß ich ihr nicht von der Falte wich und jeden Zipfel, den ich von ihr erwischte, in der ungestümsten Weise küßte. Dies wurde dem herzlosen Weibchen bald lästig und wenn wir allein miteinander waren, stieß sie mich des öfteren rauh weg. In Gegenwart meines Vaters ließ sie meine Liebkosungen geschehen; darüber fing ich an nachzudenken, ohne der Sache damals auf den Grund kommen zu können. Ich wurde aber sehr verschlossen gegen sie.

Übrigens fing ich auch an, gegen meinen Vater alle Zutunlichkeit zu verlieren. Denn bei ihm war das Umgekehrte der Fall. Er liebkoste mich nur im Geheimen und zankte mit mir in Gegenwart des Weibchens. Auch hatte er aufgehört, sich mit mir zu beschäftigen wie in der Zeit unseres Alleinseins.

Im Hause meines Vaters lebte auch die Mutter meiner Stiefmutter, die es gut mit mir meinte. Wenigstens war sie damals die einzige, die sich mit mir abgab, wenn die Eltern, wie dies oft geschah, des Abends außer Hause waren. Da durfte ich ihr zusehen, wenn sie nach dem Nachtmahle ihre Patiencen auszählte. Sie brachte mich auch zu Bett und lehrte mich mein erstes Gebet: Müde bin[29] ich, geh zur Ruh. Auch das »Vaterunser« und das »Gegrüßet seist du Maria« habe ich von ihr gelernt. Auch in leiblicher Beziehung verdanke ich ihr manches, indem sie mich ordentlich nährte und mir zu essen gab, was mir schmeckte. Denn mein Vater hatte mich in dieser Richtung, aus übertriebener Besorgnis, ich könnte mir leicht den Magen verderben, verzärtelt.

Inzwischen wuchs der Widerwillen, den meine Stiefmutter gegen mich hegte, immer mehr. War ich ihr früher durch meine Zärtlichkeit zur Last gefallen, so erboste sie sich jetzt über mein stilles und verschlossenes Wesen. Die wahre Qual begann aber erst, als ich schulpflichtig wurde und meine Stiefmutter es unternahm, mich im ersten Volksschuljahre selbst zu unterrichten. Ich will mich darüber nicht verbreiten, weil ich mir vorgenommen habe, in diesen Aufzeichnungen niemanden anzuklagen außer mich. Denn ich habe so vieles gegen mich verschuldet, daß die Verschuldungen anderer an mir dagegen gering zu bemessen sind. Auch verdanke ich es hauptsächlich meiner Stiefmutter, daß ich mich ganz auf mich zurückziehen lernte. Und ich habe noch immer gefunden, daß dies der beste Hort in meinem Leben war.

In vielen der nächsten Jahre, die ich nun beschreiben will, brauchte ich allerdings, wenigstens außer dem Hause, zu jenem Horte nicht Zuflucht zu nehmen. Denn gleich im[30] ersten Jahre, da ich die öffentliche Schule besuchte, lernte ich Karl Satter kennen. Er war mir während meiner ganzen Jugend Vater, Mutter und Bruder – bis das Leben auch zwischen uns seine ehernen Keile trieb.

Quelle:
Wildgans, Anton: Mein Leben. In: Ich beichte und bekenne. Leipzig 1933, S. 13–39, S. 26-31.
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