Einleitung

Das deutsche Bürgertum hat einmal, vor drei Jahrhunderten, eine große Kunst aus sich heraus erzeugt, die in den Gebilden eines Dürer und Holbein bis in unsere Zeit lebendig hineinleuchtet, – und ein noch gewaltigere Poesie, als es nach langer Unterdrückung vor hundert Jahren die Willkürherrschaft von König und Adel zerbrach, aus religiös-pietistischer Dumpfheit sich loslöste und aller Welt die Freiheit des Geistes predigte. Das Bürgertum von heute lebt nur noch der satten Verdauung; es fürchtet selbst die Erinnerung an die wilde Zeit seiner Befreiung, an die stürmischen Tage von 1789, und, feig wie in der Politik, wagt es auch nicht mehr in Philosophie und Religion ein kühnes Wort; Hervorragende unter seinen Gelehrten setzen ihren höchsten Ehrgeiz darein, nichts zu sein, als eine »geistige Leibgarde der Hohenzollern«. Keinen neuen Gedanken hat das deutsche Bürgertum mehr erzeugt, und darum ist auch seine Literatur nur[3] noch eine des Luxus und Überflusses, ohne Geisteskraft, ohne Leidenschaft und Größe des Gefühls, und eine Atelierkunst, die nur Spielereien und Nippessachen für ein verweichlichtes Geschlecht schafft. Das Bürgertum ist denkfaul geworden und glaubt in seiner Masse geringschätzig alle Kunst verachten zu können; das Kartenspiel war ihm wichtiger als das Buch. Ein neues Volk drängt gegen dies Bürgertum heran; der Proletarier besitzt kein Erbe aus Väterhand, und mühsam durch eigene Kraft muß er sich erringen, was ihn vor allem fähig macht seine Stellung zu erobern: Kenntnisse, Bildung. Mit junger Frische und zäher Ausdauer sucht er sein Wissen und sein Können zu vervollständigen. Und er bringt mit sich ein neues geistiges Ideal, eine neue Weltanschauung, den festen Glauben an eine höhere und bessere Entwickelung der Menschheit und die Begeisterung, diese Entwickelung fördern zu helfen. Die von dem Bürgertum weggeworfene Fahne der Freiheit des Gedankens und des Wortes hebt er wieder empor und führt den Kampf gegen das Dunkelmännertum aller Art fort, gegen die Verdumpftheit und Erstarrung des geistigen Lebens. Und damit erhält auch der Proletarier die Kraft, eine Kunst der Größe, des Ernstes, der Wahrheit zu verstehen und eine neue eigenartige Kunst aus sich heraus zu erzeugen.

In der sozialen Lyrik Bruno Willes kündigt sich ihr Nahen an, denn im Inhaltlichen wie im Formalen steckt etwas Neues, Jungfrisches, noch Ringendes, Tastendes, eine Kraft, die weniger eine harmonische Einheit erstrebt und höchste künstlerische Ruhe, als[4] etwas Aufrüttelndes, Erregendes, welche das Band der alten Formen zersprengt, auch wenn sie eine neue Form erst nur mehr ahnt, als besitzt.

Die Kunst des schönen Scheins und des reinen Formalismus, des selbstgefälligen Ateliertums, welche den Geist und den Inhalt eines Werkes geringschätzt und Anfang und Ende des dichterischen Schaffens in dem Wie des Ausdrucks erblickt, hat seit den Tagen Goethes und Heines in unserer Lyrik die Vorherrschaft ausgeübt. Sie entfremdete sich dem Leben, tauchte unter in phantastischen Spielereien, zehrte von den Gedanken und Empfindungen der Vergangenheit und versank in leere Nichtigkeit. Ihr gegenüber muß eine neue Kunst heranwachsen, die in einer poetischen Schöpfung einen geschlossenen Organismus erblickt und ein Erzeugnis der Kunst des Geistes, eine vollkommene Ineinsverschmelzung von Gedanke, Inhalt, Stoff, Gefühl und Form. Denn im Kunstwerk kommt der Form kein Selbstzweck zu, sondern sie soll nur die höchste und naturnächste Verkörperung des Innenlebens sein; das Innenleben aber macht die Bedeutung einer dichterischen Schöpfung aus, und je feiner organisiert dieses Innenleben ist, je großartiger es die Welt wiederspiegelt, desto feiner und großartiger wird auch seine Ausdrucksform sich gestalten.

Auch Bruno Wille gehört zu den neuen Lyrikern, welche die Erkenntnisse des modernen Geistes in sich aufgenommen und durch sie die Welt mit besonderen Augen anschauen lernten. Er ist kein Tendenzpoet in des Wortes schlechter Bedeutung, der seinen Gedanken einen wohl rhythmischen, aber dem Wesen nach nur[5] prosaischen Ausdruck verleiht. Die Umwandlung seiner Ideen in Empfindung und Anschauung gelingt ihm fast überall, trotzdem die Neigung zum Abstrakten bei ihm stark ausgebildet erscheint. Das Mitleid mit dem Elend der Armen und Unterdrückten und der zuversichtliche Glaube an die immer höhere Entwickelung der Menschheit und die Befreiung aus den Fesseln der Armut durch den Sozialismus sind zwei Centren seines Empfindungslebens; als dritte Kraft kommt dazu ein schwärmerischer Natursinn, eine ungewöhnlich zarte Empfänglichkeit für das Walten und Weben in Feld und Flur, die oft die unmittelbarsten Töne geistesjunger Naivetät findet. In den Gedichten der ersten Periode, die sich durch ihre Form schon leicht zu erkennen geben, findet dieses Innenleben einen mehr stimmungsvollen lyrischen Ausdruck; auch später, in den Schöpfungen der zweiten Periode, weicht nicht das Träumerische, Gemütstiefe, Zärtliche, aber das Weltbild ist weit großartiger und mannigfaltiger geworden, und damit hat auch das Gefühl eine Steigerung ins Erhabene, Prophetische erfahren, und das Lied wird zu Hymne und Ode, die an biblische Gesänge erinnern. Die Phantasie arbeitet schwer, wuchtig und vielleicht langsam, aber auch deutlich und sicher; die ganze reiche Bildersprache in ihrer Eigenart, die weniger das Stimmungshafte, als ein einzelnes Malerisch-Plastisches sucht hat auf den ersten Anblick hin etwas Dunkles, zuweilen etwas Erklügeltes, aber das Treffende im Vergleich fühlt sich dann doch bald heraus, und das Neue im Vergleich erweist sich als wirklich Geschehenes.[6]

Mancher von den Lesern wird nicht die politischen Anschauungen und Ueberzeugungen des Dichters teilen und vielleicht auch seinen Hoffnungen skeptisch gegenüberstehen. Aber ich glaube, Keiner wird sich dem Eindruck entziehen, daß durch diese Lyrik eine edle, reine und ideale Natur zu ihm spricht, die ihren Sinn nur auf das Höchste und Beste gerichtet hat, und ein eigenartiger Poet, der aus sich selbst heraus verstanden sein will und nicht mit einem ästhetischen Schubladen-Maßstab gemessen werden kann.

Julius Hart

Quelle:
Bruno Wille: Einsiedler und Genosse. Berlin 1894, S. 3-7.
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