»Ich bin ein Christ«

[162] Confirmatio heißt Befestigung im Glauben. »Wer da will selig werden,« versichert ein Bekenntnis der Kirche, »muß vor allen Dingen den rechten christlichen Glauben haben – wer den selbigen nicht ganz rein hält, der wird ohne Zweifel ewig verloren sein.« – Ewig verloren! Unheimlich düstres Wort – ich konnte daran nicht glauben, so wenig ich im Grunde meines Herzens Beifall für Luthers Formel fand: »Wir sollen Gott fürchten und lieben.« Herrn Hainlin liebte ich, fürchtete ihn aber nicht im mindesten – wußte ich doch, daß er's immer gut mit seinen Schülern meint. Und nun sollte ich Gott fürchten? Ihn, der die Liebe ist? Als ob er geringer sein könnte als Herr Hainlin! Und zutrauen sollte ich dem guten Hirten, er lasse ein Schäflein ewig verloren gehen, bloß weil's nicht den Konfirmandenglauben hat?

Strenge Formeln wie jenes athanasische Kirchenbekenntnis paukte Naso mit dem Eifer eines Anwalts, der Gottes Sache führt. Sein Religionsunterricht galt ihm als die Vorbereitung auf das allerhöchste Examen. Die Braven befördert es zur Engelsklasse, die andern fallen durch, in den Schlund der Hölle. Dieser graulige Hinweis machte mir allerdings keine Kopfschmerzen. Mein Herzensgärtlein bewahrte sich einen Winkel, wo zwischen allerlei Eigengewächs das Blümlein Vertrauen blühte. Der liebe Gott – sagte ich mir – ist doch kein Schulmeister, der die Schüler mit albernen Formeln quält, mit Examenangst und mit einer Strafe, die noch viel bösartiger ist[163] als Tatzen mit dem Rohrstock. Dazu ist Gott viel zu gutmütig und weise! Sollte er wirklich am Jüngsten Tage ein Glaubensgericht veranstalten, das die Böcke von den Schafen absondert, so wird's damit nicht schlimm gemeint sein. Es wird mir schon gelingen, durch ein Gnadenpförtlein ins Himmelreich einzuschlüpfen – und schließlich dürfen Böcke wie Schafe auf der Aue bei den Sternblumen herumspringen. Ich stellte mir dies Gefilde als eine Art Glastelfingen vor. Allerdings schwärmte ich nicht bloß engelhaft, sondern oft recht bengelhaft. Zu Widerspenstigkeit reizte der Religionsunterricht. Für manches Lehrerwort hatte der Pennäler ein überhebendes Lächeln. Bisweilen stupfte einer verstohlen dem Nachbar in die Seite: »Glaubst du das?« Einmal, wie von der Hölle die Rede war, grunzte ich halblaut: »Bangemachen gilt nicht!« Die Beweggründe zu solchem Verhalten lagen mehr im Gemüt als im Verstande. Ich war kein Vernünftler. Die biblischen Wunder verwarf ich nicht. Befriedigten sie eine Sehnsucht in mir, so glaubte ich daran, wie an die Glasbergprinzessin und ihren Erlöser. Sonst schüttelte ich den Kopf.

Zum Beispiel die Verfluchung des Feigenbaums wollte mir durchaus nicht einleuchten. Den Feigenbaum soll Christus verflucht haben? Dies schöne, dies unschuldige Gewächs? Und weshalb? Weil keine Feigen an ihm waren zu einer Zeit, wo überhaupt keine Feigen gewachsen sein konnten! Für ein ganz ordentliches Verhalten wird also der arme Baum abgestraft, so schrecklich, daß er verdorren, ja ewig keine Frucht tragen soll. Das paßt nicht für einen Heiland! Wär ich Christus, die Feigen, auf die ich Appetit hätte, würde ich rasch an den Baum zaubern – würde dann sprechen: Sei gesegnet, lieber Baum! Nun sollst du immer schon im Frühling Feigen tragen! Ja, ich würde die ganze Gegend in einen Garten Eden verwandeln. Dann könnten sich die Leute fein gütlich tun. Solche[164] Wunder würde ich tun, und so was traue ich auch dem Heiland zu. Wenn er das Töchterlein von der Totenbahre auferweckt – das ist ein gutes Wunder, daran glaube ich!

Statt der biblischen Geschichte, die meinem Herzen willkommene Anregung gab, machte sich in Nasos Religionsunterricht der Katechismus breit. Der kam mir vor wie ein verdorrter Feigenbaum. Luthers Werk bleibt mir groß und schön. Aber in der vorliegenden Form ist sein Katechismus für Kinder kaum geeignet. Manche Idee veraltet; und zuweilen befremdet die altertümliche Ausdrucksweise. Durch den Katechismus- Drill fühlten wir Schüler uns zur Gedankenlosigkeit angehalten, und das verdroß uns. Wenn die Klasse den Katechismus im Chorus plärrte – was Naso liebte – und die bei Luther übliche Formel kam: »Das ist gewißlich wahr,« sagten etliche Schlingel: »Das ist gewiß net wahr!« Schelmerei gab es auch beim Pauken der Kirchenlieder, deren wir die schwere Menge »auswendig« zu lernen hatten, während die Inwendigkeit zu wünschen übrig ließ. »Himmelan, ja himmelan soll der Wandel gehen,« begann ein Choral, und wenn diese Worte papageienhaft geplappert wurden, erfolgte verstohlenes Kichern – wir hatten nämlich einen Mitschüler namens Wandel; den stellten wir uns vor, wie er himmelan ging. Ein gleicher Fall war mir in Magdeburg vorgekommen. Da gab es einen Knaben namens Freudenthal – und wie eine Zwangsvorstellung trat mir der krummbeinige Freudenthal vor Augen, wenn's im Liede hieß: »Von uns weiche Jammertal! Zu uns komme Freudental.«

Der Konfirmandenunterricht trug nicht zur Vertiefung meines Glaubens bei. Wie hätte das auch sein können? Da war zunächst der »Helfer«, ein junger Hilfsgeistlicher, der männliche und weibliche Jugend in der Stiftskirche auf den Bänken der Sakristei versammelte. Während er seinen Nürnberger Trichter[165] ansetzte, um hier oder dort Kirchenweisheit einzuflößen, waren die übrigen Konfirmanden fast durchweg in andrer Richtung beschäftigt. Sie tuschelten, gaben einander Zeichen, spielten den Hanswurst, prügelten sich sogar, wo's verstohlen anging. Der Helfer hatte eine verschmitzte Art, seine Herde zu überwachen. Das eine Auge auf den Zögling gerichtet, der seine Frage zu beantworten hatte, luchste er mit dem andern seitwärts, wo sich ein paar geduckte Schlingel verdächtig machten. Ein drittes Auge schien er im Nacken zu haben; damit bemerkte er manches, das hinter ihm geschah – wandte sich dann blitzschnell und hatte den Sünder ertappt. Anscheinend mit Gleichmut trat er nun vor ihn hin – nur daß in seiner Miene Schadenfreude lauerte: »I tu's net gern,« – begann er salbungsvoll – »doch wer sein Kind lieb hat, der – züchtige es!« Zum richtigen Schlagwort wurde solch ein salbungsvolles Wort, und es erfolgte der Schlag mit einer Hurtigkeit, die den Delinquenten, wenn er auch den Arm zur Abwehr hob, stets überrumpelte. Manchmal pürschte sich der Helfer unauffällig an sein Opfer heran und mit dem Zitat: »Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs« war, schwapp! die Exekution erfolgt.

Da ich in Magdeburg keine »Kinderlehre« genossen hatte, die in Württemberg die Vorstufe des Konfirmandenunterrichts bildet, so wurde ich vom Herrn Dekan, dem geistlichen Oberhaupt Tübingens, beordert, noch besondere Stunden von ihm zu erhalten. Nebst drei anderen Pennälern, die ebenfalls rückständig waren, saß ich in seinem Studierzimmer um den runden Tisch, wo die Lampe in gemütlicher Dämpfung leuchtete. Seine dicke Bibel hatte jeder aufgeschlagen, und abwechselnd wurde daraus vorgelesen. Kapitel aus Paulus-Briefen. Sie blieben mir ein salbungsvolles, sonderbar dunkles Gerede, das nicht zu Herzen ging. Dem Dekan kann ich nichts weiter nachsagen, als[166] daß er zu den vielen Geistlichen gehörte, die ihres Berufes mit lederner Amtlichkeit walten. Schuld hat die Ausartung der Religion in einen von oben angeordneten Formeldienst. Anstatt vor allem darauf auszugehen, das Sehnen und Suchen der Menschen, die höhere Seele zu wecken und zu entwickeln, stellt sich der Kirchenbetrieb als ein Gemächte von Fachleuten dar, die es nicht fertigbringen, tausendjährig aufgehäufte Gottesgelahrtheit beiseite zu lassen, damit Kirche und Leben nicht mehr durch einen Wall voneinander getrennt sind.


*


Gekommen war der große Tag, an dem ich konfirmiert werden sollte. Damit der Neuling in die Gemeinschaft der Heiligen einträte, wie es unter wohlanständigen Christen Brauch, lag in der Kammer alles Nötige bereit: schneeweiße Wäsche, der feierlich-schwarze Anzug, schwarzes Hütchen, schwarze Handschuhe. Nach hastig eingenommenem Frühstück stand ich eingekleidet vor den Eltern, die den langen, storchbeinigen Jungen in männerhaftem Gehrock nicht ohne Rührung musterten. Die steife Wäsche, der zwängende Anzug und meine neue Würde brachten mir eine unnatürliche, gereckte Haltung bei. Die Eltern waren ebenfalls in feierlicher Kleidung, und wie vom Turm die Glocken läuteten, begaben wir uns zur Kirche.

Die Konfirmanden, denen ich am Portal begegnete, steckten in ihrer schwarzen Uniform unbeholfen. Die behandschuhten Finger hielten sie gespreizt, sahen auch sonst wunderlich aus. Besonders ein paar zu kurz geratene Weingärtnersknaben in langschoßigem Bürgerrock, der dem älteren Bruder gehören mochte oder schon das Wachstum der kommenden Jahre berücksichtigte. Auf den Bänken, rechts und links vom Altar, die den Konfirmanden zugewiesen waren, suchte jeder seinen Platz, was nicht ohne Murmeln und Drängeln abging. Der Helfer prüfte, ob[167] alles in der Reihe – und das war von Wichtigkeit, weil es sonst nicht geklappt hätte mit dem Beantworten der Katechismusfragen. Sorgsam war jedem seine Rolle einstudiert; eine Störung der Reihenfolge hätte die ganze heilige Handlung in Unordnung bringen können.

Wie wir nun lückenlos saßen, hüben die Knaben, drüben die schwarzgekleideten, mit Kränzlein geschmückten Mädchen, wurden unter dem Vorspiel der Orgel die schwarzen, zitronengelb beschnittenen Gesangbücher aufgeschlagen, ein Hüsteln ging durch unsere Reihen, und nun ging der Choral los:


Ich trete vor Dein Angesicht,

Du Schöpfer meiner Jugend!

Verwirf mein kindlich Flehen nicht

Um Weisheit und um Tugend.


Eifrig sang die Jugend, die sich als Mittelpunkt der Feier fühlte, hell waren die Kehlen, auch schon Brummstimmen gab es. Vor dem Altar stand in schwarzem Talar und weißen Bäffchen der Herr Dekan – ja, er war es wirklich, derselbe, den wir bei seiner Stubenlampe nicht sonderlich respektiert, sondern oft mit albernem Unfug gehänselt und geplagt hatten. Jetzt machte er einen hochwürdigen Eindruck. Tief und rein und getragen wie Glockengeläut klang sein Flehen um Segen, der solle niedertauen auf die frommgeneigten Häupter der Gemeinde: »Die Gnade des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes – Amen!« Aus der Bibel las er vom Bergprediger, der zu seinen Jüngern sprach: »Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Himmelreich.« Mit diesen zur Seligkeit bestimmten Kindlein seien wir Konfirmanden gemeint; drum seien wir hier erschienen, gleichsam an der Pforte zum Reiche Gottes.[168]

Ich kam mir schon fast verklärt vor und begriff, man habe mich deswegen in diese feierliche Tracht gesteckt. Die Handschuhe waren mir unbequem; da ich sah, daß andere Knaben sie abgestreift hatten, tat ich es gleichfalls. Rührung wandelte mich an, wie ich sah, daß Mütter ein weißes Tüchlein an die Augen führten, während die Väter ihr buntes Schnupftuch ausbreiteten, um sich geräuschvoll zu schneuzen. Meine damalige Eigentümlichkeit, bei lehrhaften Reden mich der Träumerei oder Beobachtung hinzugeben, ließ mich zu keinem Aufmerken auf die Predigt gelangen. Meinen Gefährten ging es kaum besser, und zwar deswegen, weil sie mit Unruhe die Prüfung erwarteten.

Mir machte diese keinerlei Sorge. Nicht als ob ich des Katechismus sicher gewesen wäre, sondern einfach, weil durch glücklichen Zufall auf mich die allerkürzeste Formel gefallen war. »Wer bist denn du?« lautete die Frage des Geistlichen, und ich hatte bloß zu antworten: »Ich bin ein Christ!« Diese vier Worte brachte ich mit fester Stimme heraus und setzte mich nach der Heldentat, im Bewußtsein, gerade mein Bekenntnis fasse das verzweigte, schwer begreifliche Glaubenssystem kurz und bündig zusammen, eine Welt in Gestalt einer Haselnuß.

Glatt von allen Konfirmanden, ohne Zwischenfall wurde die Prüfung bestanden; jedes Lämmlein ließ sein Stimmlein so erschallen, wie man's haben wollte, nirgends machte sich der schlimme Geist des Zweifels bemerkbar. Und so hatte die Gemeinde allen Grund, schließlich den Jubelsang zu intonieren: »Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen.«

Ein gewisses »Danken mit den Händen«, wie es zum Abschluß der Konfirmation üblich war, brachte mich in eine Verlegenheit, die einen bitteren Tropfen in den Kelch meiner Andacht rinnen ließ. Als wir Konfirmanden nämlich aus der Kirche strömten, sah ich mich, dicht vor der offenen Pforte, dem[169] Kirchendiener gegenüber, der jedem Knaben oder Mädchen eine große Schale aus Messing hinhielt. Es warf dann der Konfirmand ein Geldstück hinein, daß es klapperte. Blanke Taler lagen da und forderten Nacheiferung. Ich aber hatte von dieser Sitte keine Ahnung gehabt und mich nicht vorgesehen. Ich stutzte ängstlich – Geld hatte ich keins, nicht einen Groschen. Mißtrauisch hatte mich der Kirchendiener ins Auge gefaßt, als ob er sagen wollte: »Halt, Drückeberger! Durchschlüpfen möchtest wohl, ohne zu zahlen, was mir nach frommem Brauche zukommt! Hab' ich nicht mein Teil beigetragen zu deiner Weihe, Lausbub?« Das waren offenbar die Gedanken des Kirchendieners, und wie von einem Basiliskenblick fühlte ich mich gelähmt. Starrte ihn an – wollte gern zur Kirche hin aus, wagte es aber nicht, weil ich seinen schnöden Verdacht bestärkt hätte. Ratlos sah ich mich nach meinen Eltern um. Aber die staken im Publikum, das drüben dem Hauptausgang zuströmte. Bei einem plötzlichen Andrängen der Konfirmanden, als der prasselnde Geldregen den Kirchendiener von mir ablenkte, nahm ich die Gelegenheit wahr und schob zur Kirche hinaus. Ich schämte mich, als könne jeder mir ansehen, daß ich trotz meiner Versicherung, ich sei ein Christ, keinen Taler übrig gehabt hatte für das christliche Opferbecken.

So bist du, Menschenherz! Soeben glaubst du die Beziehung zum Ewigen erfaßt zu haben, und schon reißt dich aus deinem neuen Himmel der scheele Blick des Kirchendieners oder vielmehr die eitle Sorge, es könne, was Hinz und Kunz von dir denkt, deiner Reputation unter den Erdenwürmern Abbruch tun. Kommt denn das Menschenkind je vom Busen der ärmlichen Erde los?

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 162-170.
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