Auf der Wohnungssuche

[22] Vom Schlummer, in den ich zurückverfallen war, weckte mich der Vater, und aus dem Bette fuhr ich. Lief zum Fenster und sah wimmelnde Menschen, Körbe mit Obst und Gemüse, umdrängt von kaufenden Bürgerinnen. »Flott!« mahnte der Vater. »Runter zum Frühstück! Es geht auf die Suche nach einer Wohnung.«

Unten schlürfte ich hastig den Milchkaffee und biß tapfer in den großen gelben Wecken, den mir nebst süßer Rahmbutter die neue Heimat bot.

Der angenehme Eindruck Tübingens steigerte sich noch, als ich mit den Eltern auf den Marktplatz trat. Gewühl und Stimmengewirr, ländliche Frauen und Mädchen mit langen Zöpfen. Sie schnatterten wie Enten. Viele trugen ihren Korb auf dem Kopfe. Diese süddeutsche Art war uns neu, ich machte auf das kranzförmige Kopfkissen aufmerksam, auf dem der Korb ruht: »Seht doch das Bauernmädchen! sie trägt ihn so sicher, braucht gar nicht anzufassen.« Meine Mutter blieb bei schönen weißen Rettichen stehen, lobte auch Bohnen, Kohlrabi und Zwiebeln. »Was kosten die Johannisbeeren?« Ihr Norddeutsch wurde von der Bäuerin nicht verstanden, aber ich konnte aushelfen, weil ich während der Eisenbahnfahrt auf die schwäbische Mundart gemerkt hatte: »Waas koschte die Träuble?« Nickend lachte die Bäuerin: »So isch reacht! So tuet mr bei ons schwätze.«[23]

Mein Vater war in Betrachtung des Rathauses vertieft. Ein mittelalterlicher Bau mit großem Dach. Die Kanzel an dem ersten Stockwerk kannte ich bereits aus den Bildern zu Hauffs »Lichtenstein« und fragte: »Von da hält der Bürgermeister wohl seine Volksreden? Aber was ist denn oben auf dem Dache? Sieht aus wie ein Storchnest.« – »Ist auch eins,« sagte der Vater, »heute früh war der Storch drin, hat mit dem Schnabel geklappert.« – »Wie ulkig! Ein Storch auf dem Rathaus! Vielleicht sitzt er noch drin und hat sich bloß geduckt! Aber sag', Vater, was bedeutet der steinerne Mann auf dem Brunnen da?« – »Das ist der Wassergott mit dem Dreizack.« Ich tat noch schnell einen Blick in die Runde, und die Altertümlichkeit der hochgiebligen Häuser versetzte mich in die Ritterzeit. »Mir gefällt Tübingen!« erklärte ich.

Meine Mutter schien anders zu empfinden, als wir nun durch Gassen pilgerten, die eng waren und winklig. Wie Rippen sahen die braunen Balken der Kalkwände aus. Die oberen Stockwerke der Bürgerhäuser über die unteren vorgeschoben. Der spitzige Giebel hat eine Luke, zuweilen auch einen vorspringenden Balken, um Stroh und Heu zum Dachraum emporzuwinden. Die schweigsame Mutter fragte plötzlich: »Wohin führst du mich?« Im Notizbuch blätternd, erwiderte der Vater: »Zur Bachgasse! Ich habe die angebotenen Wohnungen notiert, und da heißt es: Weingärtner Kübler, Bachgasse, zwei Zimmer, drei Kammern, Küche und Stall – auffallend billig.« Meine Mutter zog ein saures Gesicht. Bereits in Magdeburg war sie alten Stadtteilen abgeneigt, und nun waren hier lauter »olle Kabachen«, wie sie sich ausdrückte. Man sah keinen wohlgekleideten Menschen, nur Ackerbürger mit unsauberen Stiefeln, verhutzelte Weiblein, Handwerker mit Schurzfell. Herumlungernde Kinder gafften uns an, und freilich waren wir eine[24] auffallende Erscheinung. Meine Mutter in modischer Tracht, ihr Kleid war billig, sah aber wie graue Seide aus, und der Strohhut mit dem Schleier erregte hier Aufsehen. Mein Vater hager, schwarz gekleidet, blaue Brille, Binde vor dem Auge. Ich ein hochgeschossener Junge mit himmelblauer Schülermütze.

Einen Ackerbürger, der vom Karren Klee ablud, fragte mein Vater: »Wie kommt man zur Bachgasse?« In der rauh schnatternden Mundart des Tübinger Weingärtners erfolgte die Antwort unter beschreibenden Gebärden: »Graad naus! beim Schneider Lämmle oms Eck num! Na tut mr sich ebbes links drehe – ond widder ebbes rechts. E Seitegäßle – dees ischt aber net die Bachgaß – noi! Erscht kommt die Froschgaß ...«

Meine Mutter, den Mann anstarrend, bekam ihren roten Kopf und ging übellaunig. Bestürzt folgte ihr mein Vater, während der Mann hinter uns her rief: »Erscht die Froschgaß!« Die aufgeregte Mutter war zwischen einen Karren und einen Misthaufen geraten und kam über eine Pfütze nicht hinweg. Der Vater wollte ihr beistehen, wurde aber ungnädig empfangen: »Was mutest du mir zu! Hier soll ich wohnen?« – »Aber das ist ja noch gar nicht die Bachgasse ... Erst kommt die Froschgasse.« – »Ach was! Frosch oder Bach! Mistgassen sind das! In die wilde Walachei bin ich geraten. Hier soll ich finden, was du unsern Glasberg nennst? Ach lieber Gott!« Sie schluchzte auf, während mein Vater traurig den Kopf schüttelte.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 22-25.
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