Traum von Glastelfingen

[9] Daß ich noch einmal auf den Pfaden meiner Jugend gehandelt und den Schicksalen er Tübinger Schulgefährten nachgegangen bin, hat ein Traum veranlaßt. Er weckte mir Heimweh nach einem Schatze, der mir fast unbewußt geworden war. Ich träumte den Traum an einem Aprilmorgen des Weltkrieges, in meiner Schlafkammer zu Friedrichshagen am Müggelsee. Von einem Geräusch auf dem Hausflur halb wach geworden, hörte ich eine Lerche trillern, und dieser Frühlingsherold erinnerte mich daran, daß ich gestern zu meiner Frau gesagt hatte, es sei Zeit, Hopfenknospen zu sammeln, die ein würziges Kraut für die Suppe sind. Die Lerchenmusik lullte mich in neuen Schlaf, und in den anhebenden Traum wob sich die Vorstellung von Hopfen: Ich war bei einer Hopfenpflanzung, wie ich sie einst auf sonnigen Höhen bei Tübingen erlebt hatte.

Ein Tälchen mit einem Bach, über den ein Steg führt! Der Wegweiser hat die Aufschrift: Glastelfingen. Und ein beglückendes Staunen ergreift mich: Glastelfingen? Ist das nicht jenes heimliche Dörfchen, von dem ich als Knabe geschwärmt? Zwischen Gartengemäuer auf steinerner Steige empor. Rechts und links gestaffelte Beete, Rebstock bei Rebstock; von vorgewölbter Halde[9] grüßen sonnige Weinbergshäusle. Dann säuselt ein Wald von Apfelbäumen. Erquickende Rast im Schatten und selige Schau. Durchs Tal windet sich blinkend der Fluß – der Neckar ist es, nur daß er etwas holdselig Neues hat, wie überhaupt die ganze Schwabenlandschaft in Verklärung lächelt. Aus goldigen Weizenfeldern grüßt ein Dorfkirchlein. Hinter dem Kranze der Waldhügel blaut die Alb mit ihren Schanzen und burggekrönten Kuppen.

Umfassender noch möcht' ich schauen – also hinauf ins Hohe, Freie! Je höher ich komme, desto leichter wird mir, und schließlich ist es, als ob ich schwebe – wie eine Taube, stillen Fittichs. Oder als ob die Landschaft vorüberziehe am ruhig Schauenden. Wie wallendes Gewölk. Selbst der Berg, an dem ich weile, hat etwas Wolkenhaftes. Nicht aus Erdenstoff besteht er, sondern aus Lichtduft – blaugrüner und goldiger Dunst, bildet runde Stufen, die sich himmelan häufen. Und nun sind diese Stufen Musik, ein rätselhaft süßes Gewoge von Klang ...

Das überirdische Schweben hat aufgehört, wieder bin ich Erdenwanderer. Kuhglocken läuten, ein Hirt jodelt. Die Halde, über die ich wandle, ist Vorstufe eines Gebirges, das sich weit und weiter dehnt. Klee mit summenden Bienen – lila blühendes Mohnfeld – Welschkorn, dessen schwertförmige Blätter rascheln. Dann abermals gestaffelte Berggärten, wimmelnde Rebstöcke. Südlichen Charakter nimmt die Landschaft an – geht's hier nach Italien hinab? Weinlauben, strotzend von Ueppigkeit; aus dem Blätterwerk lugen schwarzblaue Trauben. Feigengebüsch lockt mit Honigfrüchten, hochwipflige Edelkastanien wiegen sich in lauer Luft und lassen aus geplatzten Stachelschalen die braunen Kugeln fallen. Rings riesenhafte Berge. Als silberne Fäden gleiten Schaumbäche zwischen Felsen zu Tal. Aus dem Dunst der Ferne glimmert's von Gletschern ...
[10]

»Ich hör' ein Vöglein pfeifen –

Das pfeift die ganze Nacht,

Und alle Sterne lauschen,

Bis nun der Tag erwacht.

Schließ du dein Herz wohl in das mein' –

Schließ eins ins andre Herz hinein –

Daraus soll blühn ein Blümelein,

Das heißt Vergißnichtmein.«


So schallt es aus ferner Landschaft, zweistimmig. Wohl ein Liebespaar. Ja, dort erscheint der Bauernbursch mit seinem Mädel. Trägt grauen Linnenrock zu roter Weste, Kniehosen, Lederkäppchen. Sie hat über gelben Zöpfen eine schwäbische Flittertrone – blitzsauber stehen zum schwarzen Samtmieder die weißen Hemdsärmel. – Diese zwei dünken mich traute Bekannte – es bleibt mir aber unklar, wer sie sind. »Nun, Kinder?« frage ich, »hier oben soll ja Glastelfingen sein? Wie weit ist's noch?« – Sie stutzen, lugen einander an, als wüßten sie nicht zu antworten. Und das Mädel raunt mit verlegenem Lächeln: »Glaschtelfinge? Uijeh!« Der Bursch läßt die dunkelrote Rose, die er im Munde hält, fallen und späht unschlüssig nach hinten. Seufzend macht er mit dem Arm eine Bewegung, als wolle er ausdrücken: »Weit ist's, himmelweit!«

Nun bin ich mit einemmal auf öder Hochebene. Steinige Schafweide, Bergsumpf, finsterer Tannenwald, starrende Felsen. Was ragt ganz hinten? Ein kahler Schroffen, blinkend wie Glas. War's hier, wo der Vorzeit Riesen Berg auf Berg gewälzt haben, den Himmel zu erstürmen? – In die Schauer der Alpenwildnis mischt sich etwas heimlich Wonniges. Ein Jauchzen weht, verschollen fast, von oben her – als sei ein Fest im Dorfe Glastelfingen, das da irgendwo liegen muß. Oder sind's die Seligen, auf Wolken wandelnd?[11]

»Glastelfingen,« spricht eine klangvoll tiefe Stimme ... Ich glaube gar, das ist der Kandidat Hainlin! Ja, wirklich! Ich bin auf seiner Studentenbude – bin der dreizehnjährige Pennäler, dem er Nachhilfe in lateinischer Grammatik erteilt. Im Wörterbuche blätternd, belehrt er mich: »Glastelfingen – Himmelsburg altdeutscher Göttersage, auf halber Höhe des Glasbergs. Bei Dante eine Vorstufe des Paradieses – Monte Cristallo.« ...


*


In diesem Augenblick war's, daß ich erwachte und – mich in meiner Schlafkammer zu Friedrichshagen befand. In hoher Morgenluft trillert die Lerche, mir im Ohr klingen noch Hainlins Worte: »Glastelfingen ... Monte Cristallo.«

Die Gestalt des Kandidaten macht einen früheren Zug des Traumes verständlich: der Bauernbursch und das Mädel haben Aehnlichkeit mit Hainlin und seiner stillen Braut Rosel. Daß mir der Kandidat Hainlin in ländlicher Tracht erschien, hat sich aus der Erinnerung hervorgesponnen, er habe, um Rosel heiraten zu können, Gärtner werden wollen. Dazu paßt die Weise: »Schließ du dein Herz wohl in das mein', schließ eins ins andre Herz hinein – daraus soll blühn ein Blümelein ...«

Zärtliches Vergißnichtmein! Plötzlich in einem Herzenswinkel hab' ich dich entdeckt. Und staune nun darüber, daß die Lichtgestalten meiner Knabenzeit, die mir scheinbar aus dem Sinn gekommen waren, noch frisches Leben haben. Als hätten sie sich geflüchtet in ein verborgenes Wunderland, wo keine Zeit schaden kann. Heimat ewiger Jugend, wo bist du? Meint dich die Träumerei von Glastelfingen? Findet man den Zugang zum heimlichen Märchendorf im Gemüte? Ist es das verklärte Leben der Erinnerung?

Anders als dort im geschützten Bereich geht's außen her, in der Welt, die man Wirklichkeit nennt. Hier verblühen die[12] Blumen, hier bleicht das Laub, hier wütet das Stürmen der Zeit. Das Liebespaar, wie's mir im Traum erschien, gibt es nicht mehr in der Außenwelt. Während der zweiundvierzig Jahre, die ich von Tübingen fort bin, haben Hainlin und Rosel graue Haare bekommen und Runzeln. Wenn sie überhaupt noch atmen. Hainlin wird längst tot sein. Hätte er noch ein paar Jahrzehnte das Leben behalten, eine Spur von ihm wäre mir begegnet. In einer Zeitung, einem Buche. Trug ich mich doch einst mit der Hoffnung, es werde am deutschen Geisteshimmel ein Stern auftauchen, Dichter oder Philosoph, Hainlin geheißen. Weil mir dieser Name in keinem Literaturblatt begegnet ist, weil ich mir aber nicht denken kann, daß aus diesem Feuerkopf ein Durchschnittsmensch geworden ist, so muß ihn der Strudel einer Welt verschlungen haben, die ja nie das Element für Träumer war.

Rosel könnte noch am Leben sein. Vielleicht haust sie in Tübingen oder sonstwo im Ländle, als Witwe Hainlin oder als alte Jungfer ... Jedenfalls wäre sie jetzt Greisin. Seltsamer Gedanke: das frische Mädel mit den blanken Augen – das in mir so lieblich blüht wie der Traum von Glastelfingen – jetzt sitzt sie viel leicht welk und weißhaarig im Stuhle, beim Kriegskaffee – schaut wehmütig auf Hainlins Wandbild, während in der alten Kastenuhr der Perpendikel langsam tickt und tackt:


»Net lang, so geht dir's Lichtle aus,

Ond steht bei Uehrle still im Haus.

Jetzt, Menschekind: waas soll dees Ganz?

Oh, glaub: die Welt ischt Gaukeltanz,

Ischt bunter Traum, e Schattespiel ...

Du Närrle, gelt? Trau net so viel!«


Wenn das nun wahr ist, wenn alles Leben Traum bedeutet, haben wir dann Grund zur Klage? Ich glaube kaum! War die[13] Wirklichkeit schlimm, so ist es ein Trost, daß wir eben bloß geträumt haben. War die Wirklichkeit aber etwas Holdes, so blüht das Holde als Blümlein Vergißnichtmein, in Glastelfingen, wo der Jungbrunnen taut.

Viele Leute freilich, allzu viele, haben kein Verständnis fürs heimliche Dörfchen. Von der Außenwelt sind sie befangen, von dem, was die fünf Sinne erfassen als Stoff und Genuß. Dort seh' ich ein Beispiel: meinen alten Stiefelknecht neben dem Waschtisch. Er ist zwar ein geringes Möbel, hat aber nach verbreiteter Ansicht viel voraus vor Glastelfingen. Denn er ist greifbar, während das heimliche Dörfchen bloß Traum ist. Wenn jetzt ein Hausierer bei mir anklopfte, Lumpen und dergleichen einzuschachern, der gäbe was für meinen Stiefelknecht, aber aus Glastelfingen machte er sich nichts. Auslachen würden mich die Leute, wenn ich ihnen vorschwärmte, Glastelfingen sei mein heimlicher Garten Eden. Würden mich einen überkandidelten Schwärmer schimpfen. Und wenn ich eigensinnig an meinem Traume festhielte, wohl gar auf die Wanderschaft ginge, um Glastelfingens Urbild im Schwabenland aufzuspüren – was gilt die Wette? Ein Landjäger würde mich in Numero Sicher schaffen, und ein Arzt, nachdem er mich beklopft, würde meinen Geisteszustand folgendermaßen beurteilen: »Hier, lieber Mann, ist die Landkarte von Württemberg – nun zeigen Sie mir mal Ihr Glastelfingen! Ihr Land, wo Milch und Honig fleußt. In welchem Oberamtsbezirk liegt es denn, he? Gelt, da werden Sie unsicher! Geben Sie lieber ohne Umschweife zu: solch Dörfle gibt's bei uns überhaupt net! Deescht bloß Schaum in Ihrem gärende Hirn – fixe Idee nennt's der Psychiater. Drum rat ich Ihne, guter Mann, halte Se den Mund, daß er net wieder von Glaschtelfinge babble tut – sonscht lauft die Sach übel aus. Dergleiche Schwärmer steckt mr bei ons eifach ins Narrehäusle – net[14] wahr? Also gut! I han Sie gewarnt. Für diesmal wolle mr Sie laufe lasse – Sie scheine ja im übrigen e harmloser Wicht zu sein.«

Donnerwetter, ja! Fatale Geschichten können einem widerfahren, wenn man übers Wirkliche und Wahre anders denkt als Gevatter Gerber und Färber. – Aber so ist die Welt! Dem Hausierer, der für meinen Stiefelknecht ein paar schmutzige Groschen zahlt, ihm traut man gesunden Menschenverstand zu. Es hauste hingegen mal jemand in Tübingen, den ein Genius beseelte – Hölderlin nennt ihn die Geschichte. Und dieser Schwab gewordene Apoll wurde als Idiot in den Turm am Neckar gesperrt, weil sein Glaube an ein Glastelfingen, ein griechisches, ihn derart enttäuscht hatte, daß die zarten Saiten seines Herzens zersprangen. Diotima und des Menschentums adlige Schönheit bedeutete ihm wahres Sein – übers Winkelgetriebe des Krämergelichters wollte er durchaus hinwegsehen. Noch seine heisere Harfe hallte rührend, indessen um die verwitterte Stadtmauer naßkalter Herbst schnob und auf dem Turm die Wetterfahne kreischte.

Hölderlintraum! Heimweh nach dem ewigen Glastelfingen! Geglommen hast du schon hinter den Stirnen jener Weisheitsjünger, die in athenischen Säulengängen wandelten. Wahrheit ist nicht zu verwechseln mit äußerer Wirklichkeit. Willst du das Wesen schauen, so verliere dich nicht an die Erscheinung! Wie ein Bergmann tief nach Edelmetall schürft, suche du Gehalt der eigenen Persönlichkeit! Es stimmt zwar, daß man die Außenwelt nicht übersehen, daß man Boden unter den Füßen haben soll, um Reben pflanzen zu können. Doch was du geerntet, was du vom Wurzelbereich losgelöst und in höheres Leben umgewandelt hast, erst das hat Wert. Man keltert die Trauben; und ist der Saft im Keller gereift, so hat man des Erdbodens[15] heimliche Feuerseele, hat flüssiges Gold, eine Essenz aller Blumendüfte, den Göttertrank der Begeisterung.

Wohlan, Traubenblut meines Lebens, ätherisch gewordene Wirklichkeit von ehedem! Du bist's, wonach ich mich sehne, bist mein Dörfchen am Monte Cristallo. Als blumigen Wein laß dich schlürfen aus einem Edelbecher! In einer altväterischen Weinstube soll es sein, zu Tübingen, wenn ich ausraste vom Gang über sonnige Berge. – Vielleicht, daß da silberhell ein Stimmchen lacht. Mein Gott, frisch Mädel, bist du noch da, meine Jugend? – »Ha freili! Ond du? Wo bischt so lang gwä? Ond waas soll der Graubart da? Weg mit der Maskerad, domms Büble!«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 9-16.
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