Auf der Höhe

[512] Dreiviertel der Höhe haben wir erstiegen und wandeln nun an der Halde hin. Da weitet sich die wundervolle Aussicht, mir traut von Kindheit her. Im Tale die graue Stadt mit der Stiftskirche. Dicht dabei die alte Feste auf dem Berge, der sich bis zur Wurmlinger Kapelle dehnt. Links der Oesterberg. Nach Lustnau zu begrenzt ihn Buchenwald, dessen Wipfel rotgolden schimmern, wie auch die Bergwälder hinterm Neckartal. Dies erste Lodern des Herbstes stimmt wehmütig zum sanften Blau der Alb.

Dort hinten Berg an Berg gereiht. Leuchtende Bilder eines Sagenliedes. Da sind auch die Burgen, von denen ich als Kind schwärmte. Wie Efeu um Ruinen wob damals meine Sehnsucht um die alte Zeit, wo's noch urwüchsige Kraft gab. Drüben auf den Schlössern Neuffen, Teck und Urach, auf dem Hohenstaufen und dem Hohenzollern sah meine Träumerei goldlockige Recken, den Speer gezückt, Riesen und Drachen.

Diese Romantik geht nun zu Ende. Die Ritter, die einst Drachentöter waren – so ruft eine Volksmenge, haben selber etwas Drachenhaftes – Raubtiere sind's, wie ihre Wappentiere: Greif, Adler, Wolf und Leu.

Auf dem Acker, den der Bauer mit dem Ochsen pflügt, wandelt ein Schwarm Stare. Sie picken sich Nahrung aus der frisch umgestürzten Scholle. Aus mattblauen Lüften schrillt eines Habichts Schrei – und scheu schwirren die Stare auf. Ihr Geschwader macht eine Schwenkung zur Pappelgruppe, die[513] in der Nähe ragt. Das Gezweige bietet Deckung – darin lassen sich die Stare nieder.

»Da nauf!« spricht der Knabe und geht voran. Zwischen terrassenförmigen Gartenbeeten führen Steinstufen empor. Und ich erkenne das Gelände, wo ich, die Schule schwänzend, mit Fräulein Rosel zum Schnützelputzhäusel gegangen bin – wo später Hainlins Abschied gefeiert wurde.

»Seit wann sind die Rebstöcke fort?« frage ich bedauernd, und die Antwort lautet: »Ui jele! Arg lang! Mei Vatter ischt noch im Gymnasium gwä, da hat mr scho den Wengert abgschafft. Die Weigärtnerei tut sich bei uns net lohne. Aber drobe am Häusle hat's noch die alte Kammerz – die tragt guet!«

Rechts und links auf den Beeten bei Kohl und Rüben blühen Astern, gelb und blau. Mohnstauden stehen dürr – ihre Köpfe sind abgeerntet. An Bohnenranken hängen reife Schoten. Beerengesträuch, Birnen- und Zwetschgenbäume.

Ei, da bist du ja, liebes Schnützelputzhäusel! Kommst mir vor wie eine alte Waldfrau, von der es heißt, sie sei heimlich eine Fee. Hinter dir beginnt das Märchenland – Wiesen, wo lila Herbstzeitlosen blühen, Apfelbäume, ein Gartenhain – ins Grenzenlose scheint er sich zu dehnen. So ähnlich mag der Garten Eden gewesen sein! schwärmte ich als Kind. Und wenn man auf der Hochebene weitergeht, findet man wohl das geheimnisvolle Dorf. Da gibt's ganze Felder duftender Hyazinthen, weiß und blau – ragende Edelkastanien und Weinlauben, an denen die Trauben strotzen, wie's nur im Sonnenlande sein kann. Mein Kindheitstraum von Glastelfingen, der in Dornröschenschlaf gesunken war, schlägt wieder die Augen auf.

Wir stehn beim Schnützelputzhäusel. Es sieht fast aus wie einst. Hat freilich auch etwas Befremdendes. Verwittert[514] lugt die Kalkwand aus vergilbter Weinberankung. Schwarzbraun und rissig das Gebälk. Das Fenster mit grünem Laden verschlossen. Die Windharfe auf der Dachspitze ist noch vorhanden – sie schweigt.

Und zum Trepple kommen wir, das auf der Rückseite zum Oberstüble führt. Der Knabe hat den Schlüssel mitgebracht und schließt auf. Gleich nach unserm Eintreten öffnet er Fenster und Laden. Das weißgetünchte Gemach hat in seiner Einfachheit etwas Rührendes.

Am Fenstertische nehm' ich Platz und schau' in die blauende Weite. Auf einer der Pappeln, die in der Nähe ragen, hat der Starenschwarm Platz genommen und jauchzt nun ins goldige Lodern des Altweibersommers.

Jung Uli öffnet einen Schrank und legt ein großes Schreibebuch vor mich hin. Wie ich's betrachte, kommt mir die Erinnerung, daß es von Hainlin, als er Abschied nahm, dem Schnützelputzhäusel gestiftet wurde. Ich schlage auf – da sind Hainlins harmonisch runde Schriftzüge.

Klein-Uli meint, ungestört könne ich mich ins Buch vertiefen, er wolle derweilen draußen nach den letzten Birnen schauen.

Während ich lese, schwillt der Luftzug ums Häusel an – ein sanftes Heulen geht durch Türspalt und offenes Fenster. Und nun tönt die Windharfe.

Wie eigen! In den Pappeln drüben ist dieser Hauch bloß ein Geräusch, in der Windharfe wird er zu holder Harmonie. So findet der ewige Lebensgeist, alle Weiten durchflutend, verschiedene Resonanz, je nachdem er durch dieses oder jenes Gemüt weht – und je nach Stunde und Stimmung.

Als ich das Gedicht zu Ende gelesen habe und aufschaue, bin ich überwältigt von einer süßen Wehmut: Da hat mich nun[515] das Schicksal an eine Station meiner Lebensreise geführt, die ich bereits vor einem Menschenalter berührt habe. Der Knabe von damals steht jetzt an der Schwelle zum Greisenalter. Abschied nimmt er von dem, was hinten liegt und unter ihm.

Die Schlucht, an der wir vorbeigekommen sind, bedeutet meines Lebens dumpfe Tiefe. Nun ich oben angelangt bin, im Sonnig-Freien, vergönnt mir der kühl-klare Herbst, zu durchschauen, wie alles Leben, mein und meiner Gefährten Schicksal, nichts ist als ein Suchen nach den verheißenen Wundern des Glasbergs. Hinaufkommen möchte man. Mit Arbeit sich emporarbeiten. Oder mit List, mit Kühnheit, Gewalt – sei's auf ehrenvolle, sei's auf unwürdige Art.

Und was erreicht man? Mühsal und Enttäuschung. Begierde, die sich wie eine Kerze verzehrt. Gewiß auch mancherlei Lust – aber gleich der bunten Seifenblase ist sie rasch zerstoben. Gaukelwerk der Hoffnung, Spuk der Sorge. Schließlich wohl ein Abgleiten in die Wolfsschlucht.

Aber gibt es nichts Besseres? Muß denn die Fahrt zum Glasberg Trauerspiel sein? Hainlin hat die Erlösung erspürt: Besinne dich, Seele! Hast du nicht eine Schwungkraft, die mit Flügeln der Morgenröte zum Berggipfel trägt? Keine Schranke gibt es, zu hemmen heilige Sehnsucht. Freilich nicht äußerlich beschert sie – nur im Innern, in deiner heiligen Tiefe. Am Tautropfen deiner Unschuldsblume funkelt das eine, allen Blumenperlen gemeinsame Licht.

Erkenne, Glasbergsucher, daß deine Träumerei vom Märchendorfe nichts andres meint, nichts andres ist als Heimweh nach jenem Garten Eden, der heimlich blüht in deinem Gemüte. Das selige Glastelfingen ist deine reinste Liebe, dein Anteil, Menschenkind, am ewigen Leben!

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 512-516.
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