Das Wahrzeichen

[294] Alles kehrt wieder – was einmal war, das ist und wird sein – in der Ewigkeit hat es Wurzel. – So kam's, daß ich an waldiger Halde auf einmal jener altdeutsche Sänger war, und daß von mir sein Gesang galt:


»Ich saß auf einem Steine

Und deckte Bein mit Beine,

Darauf der Ellenbogen stand,

Kinn und Wange schmiegt' ich in die Hand ...


O weh! wie Wellenschaum

Schwanden Jahr auf Jahr.

Ist mein Leben Traum?

Oder ist es wahr?


Was da vorgekommen,

Scheint Gedankenspiel.

Vom Schlaf war ich benommen,

Und manches mir entfiel ...


Eins ist wie sonst: das Wasser wallt,

Am Gestein die Welle rauscht,

Und der Talbach, was er lallt,

Hab ich weiland schon belauscht.«
[295]

Es war der Goldersbach, der zu mir emporraunte. An waldiger Berghalde saß ich – drunten lag das Kloster mit dem zart gewobenen Glockenturm, den stattlich schönen Gebäuden und der Ringmauer, sanft gebettet zwischen Waldhöhen. – Wie lang ist's her, seit ich dies zuletzt gesehn! Als Knabe war ich hier – in der Brunnenkapelle des Kreuzganges hab' ich dem Standbilde Eberhards einen Finger abgeschlagen. Oder ist das bloßer Traum? Brennende Sehnsucht spür' ich, festzustellen, ob die Geschichte etwas wirklich Erlebtes, und was alsdann aus dem abgeschlagenen Finger geworden ist. Wenn ich mir nun all das bloß zusammenphantasiert hätte? Auf, ins Kloster! Machen wir die Probe!

Und nun geh' ich – wie einst – zwischen den Gärtchen, Wohnhäuschen, Stallungen des Weilers Bebenhausen. Schmuck hat sich alles entwickelt in den Jahrzehnten des Fortschritts: Telephondrähte überspinnen die Dächer, elektrisches Licht ist sogar im Kuhstall. Das Klosterportal, den wuchtigen Steinbau, erkenne ich wieder, an der hohen Mauer rankt Efeu, wilder Wein. Und der finstere Aufstieg da, ist das nicht der sogenannte Fuchsbau? Noch tiefer als damals sind die Steinstufen von den Fußtritten ausgehöhlt. Nun kommt der Söllergarten – der plaudernde Brunnen – die Kastellanwohnung mit Rosen, Kressen, blauem Rittersporn.

Und wie gerufen erscheint ein Beamter mit Dienstmütze, wohl der Kastellan. Eine jener soldatisch korrekten Gestalten, mit denen sich Herrschaften umgeben. Grüßend fragt er: »Möcht dr Herr's Kloschter besichtige? Tut mir leid – heute geht's net – grad tun die Majeschtäte da wohne.« – »Bloß in den Kreuzgang möcht ich einen Blick tun.« – »Ha, dees dürfen Se scho.«

Wir treten in das kühle Gewölbe. Mich rührt die vornehme Anmut dieser schlanken Steinpfeiler. Lebendig seh'n sie aus,[296] wie Rankwerk wachsender Pflanzen – jede Ranke hat eigene Gestaltung und besondere Formen des Verwobenseins. Da sind auch die Schwälblein! Noch immer kleben sie ihre Nester zwischen die Steinranken. Lautlosen Fittichs huschen sie den Kreuzgang dahin – und durch die Pfeilerlücken in den Klostergarten, wo Rosen blühn und der Brunnen plätschert. Wir kommen zur Brunnenkapelle und sieh, da steht das Steinbild, das ich suche: der Graf im Bart. Wie weiland – in Helm und Panzer. Die Hand vorgestreckt, als ob er sagen wolle: »Ja freile! Hier war's. Dees Fingerle da hat mir e Lausbub abbroche.«

Aber nein, reichster Fürst! Der Finger sitzt ja an der Hand, und da scheint kein Fehl. Oder –? Nahe tret ich jetzt und betrachte genau den Finger. Nun seh' ich, er hat eine Narbe. Also doch! – Ich lächle wie jemand, der ein Geheimnis hat. Befremdet blickt der Kastellan und tritt ebenfalls herzu. Ich weise auf den Finger: »Der war mal ab! Sehn Sie, er ist gekittet. Aber gut verheilt, die Narbe kaum zu merken.« – Der Kastellan sieht mich stutzig an. Ich fahre fort: »Das wußten Sie wohl nicht? Na ja! Lang ist's her! Vor vierundvierzig Jahren ist das geschehen. Damals hat ein Pennäler mit einer Blechflöte diesem Steinbild den Finger abgeschlagen.« Der Beamte macht große Augen – blickt auf den Finger, mustert mich dann scharf: »Wer hat dees? E Pennäler? Sie wissen, scheint's, Näheres darüber, he?« – »Sogar genau weiß ich, wie die Sache zuging. Als ich mit der Blechflöte dran schlug, brach der Finger ab und polterte auf die Steinfliesen. Ich erschrak – hob ihn auf – war ratlos und – legte ihn in die Ecke. Da wird man ihn schon finden, wenn man fegt! dacht' ich und machte mich aus dem Staube. War natürlich bange, ich könnte abgefaßt und vom Gymnasium gejagt werden – wegen[297] groben Unfugs oder dergleichen. Jetzt ist die Geschichte wohl bloß Kuriosum. Und nicht wahr? Wenn Sie's dem König melden, wird er einfach schmunzeln. Dann können Sie ihn höflich von mir grüßen – er soll' entschuldigen, was ein dummer Junge getan.«

Der Kastellan starrt mich noch immer an: »Mit ner Blechflöt, sagen Sie?« – »Ja, die hatt' ich auf den Spaziergang mitgenommen – und in der Wölbung hier klang es schön, wie ich des Sommers letzte Rose blies. Als ich dann das Standbild beobachtete und mir klarzumachen suchte, wie man eine Hand, einen Finger meißeln könne, ohne daß der mürbe Sandstein bricht, überkam mich die Neugier, einmal zu probieren, ob das Material haltbar sei. Darauf pickte ich mit der Blechflöte an dem Finger, und knicks, da lag er.«

Der Kastellan lächelte: »Wer ebbes begänge hat, find kei Ruh, so sagt mr – zurück zieh's ihn zur Stelle seiner Missetat.« – »Stimmt! Ich bin gekommen, um zu sehen, ob die Geschichte nicht etwa bloße Einbildung von mir ist ... Na, das weiß ich ja nun. Der Verbrecher sucht am Schauplatz seiner Tat das Wahrzeichen. Er kann nicht glauben, was er getan hat – er hofft, alles könne böser Traum gewesen sein. Urkundlich möcht er sich überzeugen.« – »Urkundlich? Wie meinen Sie dees?« – »Ich meine die Urkunde, die das Schicksal schreibt – ins Buch der Wirklichkeit. Das Schicksal ist ein Buchhalter, dem kein Versehen unterläuft. Nichts von dem, was wir angerichtet haben, ist spurlos vergangen, in irgend welchen Ueberbleibseln wirkt es weiter. Und so kommen wir niemals los von unserer Vergangenheit. Jede Lebensgestalt hat ihren abgeschlagenen und angekitteten Finger – alles bleibt in Ewigkeit.« –

Wie zur Bekräftigung tut jetzt die Uhr vom Klosterturm Schlag auf Schlag – Zwölf![298]

Nachdenklich nickt der Kastellan und seufzt. Ich fahre fort: »Aber natürlich auch das Gute bleibt! Vom Winzigsten wird Vermerk genommen im Schicksalsbuche. Soll ich Ihnen davon ein Beispiel sagen? Es war mal ein Fürst – kein so braver wie dieser Eberhard, sondern ein Tyrann. Als der am Jüngsten Tage vor dem Weltrichter stand, klagten ihn lauter Missetaten an. Ist denn aber nichts da, was zu seinen Gunsten spricht? fragte der Weltrichter das Schicksal. Das blätterte in seinem Buche folgende Notiz heraus: Von einer Jagd heimkehrend, hatte der König eine Ziege angetroffen, die kurz angebunden war und, weil sie ihren Umkreis abgeweidet hatte, kläglich nach Futter meckerte. Da schob ihr der König mit dem Fuß etwas zum Fressen hin, eine niedergebrochene Staude. – Ja, alles wird angerechnet! erklärte der Weltrichter, auch das Unscheinbare. Weil selbst in diesem hartherzigen Tyrannen etwas Gutes sich geregt hat, gehört auch er zu den Erlösten – um der einen Guttat willen seien ihm seine Sünden vergeben.«

Während wir schweigsam sinnen, plätschert melodisch der Brunnen im Klostergarten. »Zirr – rieh!« jauchzt ein Schwälblein in zierlichem Flug ums Standbild.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 294-299.
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