Zehntes Kapitel.
Der letzte Geburtstag.

[331] Der Maulwurffänger hatte seinen Sonntagsrock angezogen, den wohl gebürsteten dreieckigen Hut aufgesetzt und stand wartend mitten in der Wohnstube seines kleinen, saubern Häuschens zu B.... In ähnlicher Kleidung, nur weniger accurat und reinlich, saß Schlenker auf der Ofenbank, die zinnerne Tabaksdose häufig unruhig auf- und zuklappend.

Ein Wagen, mit zwei jungen muthigen Füchsen bespannt, fuhr vor. Pink-Heinrich schüttelte den Kopf, stampfte ungeduldig mit seinem Schlehdornstecken auf die Diele und sagte:

»Na, da haben wir's! Krücken-Gottlobs-Friedel, (so genannt, weil sein Vater Gottlob an Krücken ging), hält schon vor der Thür und[332] mein Bruder kommt immer noch nicht! Wo er nur bleibt!«

»Mein Gott, wo wird er bleiben!« versetzte Schlenker. »Wo er immer steckt, zu Hause. Er trödelt gar mit tausend Schrecken!«

»Hast Du ihn nicht gesehen, da kommt er über die Wiese hergestiefelt!« sagte der Maulwurffänger, sein würdiges Gesicht zu ironischem Lachen verziehend. »Nimm Dir Zeit, Bruder Schulmeister, sonst kannst Du noch eine Lerche schießen, daß Dir acht Tage lang die Ohren gellen! – Friedel,« rief er durch das Schiebefenster dem jungen Burschen am Wagen zu. »Krempele die Plane auf, daß man eine Umsicht hat! Das Wetter ist schön heut und die Luft würzig und warm. Obgleich wir drei alte Knackse sind, vertragen wir doch noch ein Bissel Zugluft. Nicht wahr?«

»Natürlich, natürlich, ganz Natur!« sagte Gregor, der eben ins Zimmer trat, als der Maulwurffänger diese Frage an Schlenker richtete.

»Aber wo steckst Du denn, Bruder Schulmeister?« rief ihm Pink-Heinrich zu. »Es geht schon auf zwölf, wir haben noch einen langen Weg zurückzulegen und um vier sollen wir doch[333] schon auf dem Zeiselhofe sein! Da ist's höchste Zeit, daß wir aufbrechen!«

»Aufbrechen, natürlich! Dennoch mußte ich mein Chronikon erst schließen! – Jetzt geht kein Sterbenswort verloren, ganz Natur!«

»Wovon, Bruder Schulmeister?«

»Von der grausamverwickelten, in vielem Betracht erschrecklichen, dabei aber wiederum hochlehrsamen und moralischen Geschichte, welche anhob mit dem sonderbaren Betragen des hochseligen Grafen Magnus von Boberstein, genannt Blauhut. Selbige Geschichte ist nunmehr von meiner Hand sorgfältig zu Papier gebracht bis auf den heutigen Tag, und zwar leserlich, höchst leserlich, natürlich!«

»Hast Du auch nichts vergessen?«

»Nichts Wesentliches. Und weil heut des Mannes Geburtstag ist, der unverschuldet durch sein schönes Tochterlein Rose oder Röse, genannt Haideröschen, Veranlassung gab zu so traurigen Vergehungen und herzbrechenden Ungerechtigkeiten, darum wollte ich ihm und seinen nunmehr gesetzlich anerkannten Nachkommen dies wohlausgearbeitete und schön niedergeschriebene Chronikon zum Präsent machen.«[334]

»Und darum kommst Du so spät?«

»Natürlich! Und hätte mir beinahe den Fuß vertreten.«

»Es ist meiner Six mit tausend Schrecken!« sagte Schlenker, den Schulmeister mit einer Art von Verwunderung betrachtend. »Ich hätt's Euch nicht zugetraut, verzeih' mir's Gott; nun aber, da Ihr's doch zu Stande gebracht habt, nun flößt Ihr mir, so zu sagen, einen ehrfürchtigen Respect ein. Glaubt Ihr's, Schulmeister?«

»Glaub's. Ganz Natur!«

»Und ich glaube,« sagte der Maulwurffänger, »es wird jetzt ebenfalls sehr natürlich sein, wenn wir einsteigen und die beiden Füchse austraben lassen, was Zug und Zeug hält. Ist's also genehm, so bitt' ich, einen Anfang zu machen! Unter der Plane können wir noch schwazzen, daß alle Sterne blau davon anlaufen.«

Von dem jugendlichen Fuhrmann unterstützt, bestiegen die drei Alten den leichten Wagen, der nun rasch auf der wohl erhaltenen Straße den Königshainer Bergen entgegen rollte, die im duftigsten Blau ihre malerischen Gipfel über das Blachfeld erhoben.

»Es wird heut just ein Jahr sein,« sprach[335] der Maulwurffänger, »daß ich die wichtige Schrift fand, der unsere Freunde eine so wunderbare Umgestaltung ihrer Verhältnisse zu verdanken haben. Gott weiß, wie lange ich noch zwischen Himmel und Erde herumspazieren darf! Deshalb will ich am heutigen Tage doch wieder einmal das Bergrevier besuchen und mich recht lebhaft aller Glücks- und Leidenstage erinnern. Ich bin lange nicht mehr zum Todtenstein gekommen!«

Er rief nun dem Kutscher zu, vom graden Wege abzubeugen und nach dem genannten Gebirgsstock einzulenken. Da die Pferde jung und kräftig waren und fast ununterbrochen lustig galoppirten, so erreichten die Greise in verhältnißmäßig kurzer Zeit den Fuß des Todtensteines. Hier ließ der Maulwurffänger halten, fragte seine Begleiter, ob sie mit ihm die Berglehne ersteigen wollten, und schritt, da er bejahende Antwort erhielt, rüstig den holprigen Fußsteig hinan.

Auf einem Kreuzwege rastete er, da Gregor und Schlenker ihm nicht so schnell folgen konnten.

»Wo nehmt Ihr nur die Kräfte her, Ihr Tausendsasa!« sagte Schlenker puhstend, indem er sein blau- und rothgewürfeltes, mit Tabakflecken romantisch gezeichnetes Taschentuch mühsam[336] aus der breiten Klappentasche des viertelhundertjährigen Rockes hervorzog, den Dreikantigen abnahm und sich den perlenden Schweiß von der Stirn wischte. »Es ist mit tausend Schrecken, was Ihr noch laufen könnt!«

»Ganz Natur!« sagte Gregor mit größter Ernsthaftigkeit, die Hände auf den Knopf seines Stockes legend und die Gegend mit freudigem Auge überblickend. »Wir leben doch in einem herrlichen Landstriche, Gott segne ihn ewiglich!«

»Ist es mir doch, als wäre die Geschichte erst gestern passirt,« bemerkte der Maulwurffänger, nachdenklich den Ort betrachtend, wo er rastete. »Ja, Freunde, ich möchte einen körperlichen Eid ablegen, daß wir uns genau auf der Stelle befinden, vor welcher vor nunmehr dreiundvierzig Jahren Graf Magnus das liebliche Haideröschen entführte! Dort liegt die Meierei, ihre weißen Schornsteine aus den Saftgrün der Buchen glänzend emporstreckend, und jenseits der bewaldeten Hügelkette führt die Straße nach dem Zeiselhofe! Wer hätte damals gedacht, daß dieser freche Raub eines leibeigenen Mädchens so viel Unglück über die hohe Familie des Räubers[337] verhängen und ein ganzes Geschlecht beinahe dem zeitlichen und ewigen Untergange nahe bringen würde! – O die Wege des Herrn sind wunderbar, aber immer, immer gerecht!«

»Immer gerecht!« wiederholte Schlenker, der durch lebhaftes Kopfnicken dem Maulwurffänger seinen Beifall zu erkennen gab. Gregor stieß ein trockenes, »natürlich« aus und haspelte neben dem stark ausschreitenden Bruder die Berglehne vollends hinan.

Trotz Schlenkers Abmahnen, der seiner lahmen Arme wegen alles Klettern vermeiden mußte, und den Maulwurffänger auch nicht mehr die nöthige Gewandtheit zutraute, schwang sich Pink-Heinrich doch die Stufen in dem zerklüfteten Felsen hinauf und erschien nach wenigen Minuten auf der Platform desselben. Der Schulmeister der dem Bruder zu folgen Anstalt machte und auch den besten Willen dazu hatte, mußte das schwierige Unternehmen aufgeben. Seinen steifen Gliedmaßen fehlte es an aller Geschicklichkeit so halsbrecherische Pfade ohne Fall und Sturz wandeln zu können.

Der Maulwurffänger begnügte sich mit kurzer Umsicht. Dann bückte er sich, riß aus einem[338] Felsenspalt frischgrünes Hauswurz und kam fast springend wieder herab zu seinen Gefährten.

»Jetzt kann's wieder fortgehen, alte, ehrliche Seelen,« sagte er heiter. »Ich habe mich wahrhaft erquickt an der prächtigen Aussicht und in den Lüsten der Erinnerung, die da oben das alte Gestein umsäuseln. Ich werde lustig sein, wie ein Junggeselle, dem ein liebes Mädel zum ersten Mal verheißungsvoll in's Auge schaut. Auf, auf nach dem Zeiselhofe!«

Noch vor der festgesetzten Zeit erreichten die Greise diesen alten, stattlichen Edelsitz, der heut' überaus belebt war. Aurel und Gilbert, Beide festlich gekleidet, empfingen die Freunde und geleiteten sie in das Herrenhaus. Hier kamen dem Maulwurffänger lauter bekannte Gesichter entgegen. Es war nämlich die ganze Familie Boberstein zum Geburtstage des alten Wenden auf dem Zeiselhofe zusammen gekommen. Selbst Vollbrecht, dessen geräuschlosem Wirken man viel zu verdanken hatte, fehlte nicht. Martell und Lore mit ihren beiden Töchtern, jetzt alle zwar einfach, aber gut und reinlich gekleidet, Maja und Simson mit ihrer vom Hungertode verschonten Tochter, der kräftige Paul, der ausgelassene Gilbert,[339] die jetzt wieder still gewordene schöne Bianca, und endlich die glückberauschte Elwire mit Herta: Alle, Alle umschlang nunmehr ein gemeinsames Band der Liebe und des Friedens! Denn Frieden, der Frieden schwergeprüfter Herzen, durch Unglück geläuterter Seelen war über jeden Einzelnen dieses wunderbar geführten Geschlechtes gekommen. Selbst Martell, obwohl seine Gesundheit litt und seine Kraft gebrochen war, schien doch mit dem Schicksal ausgesöhnt zu sein, das ihn so furchtbare Wege geführt, so nahe an verderbenschwangere Abgründe gestoßen hatte. Wie früher, war er auch jetzt noch still und von wenig Worten, aber sein Auge blickte klar und heiter und der milde Sonnenglanz der Liebe, der Vergebung blitzte wieder in der dunkeln Pupille auf.

Den allverehrten Mittelpunkt des festlichen Tages bildete Jan Sloboda. Nach so vielen glücklich durchgekämpften Lebensstürmen wollte der alte Wende eingedenk bleiben seiner Abstammung und seiner früheren Leiden. Deshalb legte er heut', was er seit langer Zeit nicht gethan hatte, den glänzenden Lederriemen, das Zeichen ehemaliger Knechtschaft, wieder um Haar und Stirn[340] und wandelte in seiner schlichten Kleidung, das starke silberne Haar von braunem Hornkamm im Nacken festgehalten, wie ein greiser Heros durch die ihm zu Ehren geschmückten Zimmer.

Man verbrachte den Tag heiter, ohne ausgelassen zu sein, was bei den traurigen Erinnerungen, die jedem Einzelnen der Versammelten sich aufdrängen mußten, moralisch unmöglich war. Spät Abends, als von dem Bedienten die Lichter angezündet wurden, bemerkte der Maulwurffänger, daß man der ereignißvollen Vergangenheit wegen auch derer gedenken möge, welche mittelbar zur Enthüllung der vielen Geheimnisse beigetragen hätten, die anfangs ihren Bestrebungen kein vortheilhaftes Ende verhießen.

»Ich vermisse die gute blinde Mutter, Marie, Leberechts getreue Ehefrau, nebst Vater und Sohn,« sagte der wackere Mann. »Sie haben uns Allen wesentliche Dienste geleistet und, wenn wir ehrlich sein wollen, für das Haus Boberstein Gesundheit und Leben mehr denn einmal in die Schanze geschlagen. Ich schlage daher dem vielgereisten Herrn Kapitän und seiner hohen Verwandtschaft in aller Demuth vor: machen wir den Armen, die sich am heutigen Tage nicht mit[341] uns hier in Glanz und Wohlleben freuen können, sammt und sonders einen Besuch in ihrer bescheidenen Wohnung. Sie werden sich geehrt und glücklich fühlen durch solche Aufmerksamkeit. Und ich, meine Herrschaften, ich bin der Meinung, daß die Gesindestube just der rechte Ort ist, wo wir heut allesammt hingehören. Denn aus ihrem dunkeln Bereiche sind alle diejenigen hervorgegangen, die in spätern Jahren die Stützen und Träger des uralten Geschlechtes der Grafen Boberstein sein und bleiben sollen. Es lebe also die Gesindestube!«

Des Maulwurffängers Antrag fand lebhafte Unterstützung; ehe man jedoch zur Ausführung schritt in der Weise, wie Pink-Heinrich es vorschlug, schickte der Kapitän seinen Merkur Gildert erst als Gesandten an die Bewohner der Gesindestube ab, um diese auf den ihrer wartenden Besuch vorzubereiten und die Dienstboten während der Dauer desselben zu entfernen.

Mit lautem Hurrah kehrte der junge Matrose zurück, verkündete der zahlreichen Gesellschaft, daß Leberecht und Marie bis zu Thränen gerührt dem verheissenen Besuche ihrer großmüthigen[342] Beschützer erwartungsvoll entgegensähen und sich innigst darauf freuten.

Unverweilt brach nun die Versammlung unter Vortritt mehrerer Bedienten auf, die jedoch an der Zuschlagthüre der Gesindestube die Weisung erhielten, sich wieder zu entfernen. Elwire, von Jugend, Glück und Schönheit strahlend, geleitete den alten Wenden, der lächelnd seine feenhafte Führerin betrachtete. Herta mit Aurel, Bianca und Vollbrecht, und hinter diesen die Übrigen schlossen sich paarweise an und nahmen, wie sie einander folgten, Platz auf Schemeln und Bänken an der langen fichtenen Tafel, an deren beiden Enden lohende Kienspäne brannten, wie dies seit Jahrhunderten gebräuchlich war. Am obersten Ende quervor auf etwas erhöhtem Stuhl, dem einzigen, den es in diesen Räumen gab, mußte der greise Wende, der Held des Tages, niedersitzen, von Herta und Elwire umgeben. Diesem gegenüber am untersten Ende auf der Ofenbank saß die blinde Marie zwischen Leberecht und Eduard. Aurel ließ von Paul und Gilbert einige Karaffen edlen Weines holen, um die Gesundheit Slobodas in diesen Umgebungen mit den Versammelten zu trinken. Lebhaft und[343] herzlich fielen alle in das wohlgemeinte Hoch ein.

Als es wieder ruhig geworden war, erhob sich Aurel nochmals um der Gesellschaft seine Verlobung mit Elwire anzukündigen. Dabei ergriff Gilbert rasch die Gelegenheit, um seine schöne, zukünftige Kapitänin leben zu lassen und auf ihr Wohl mehr als ein Glas zu leeren.

»Der vorlaute Bursche hat Recht,« sagte Aurel, da einige noch Zweifel in den schon früher ausgesprochenen Entschluß des Grafen zu setzen schienen. »Es ist mein fester Wille, nach dem Pfingstfeste aus Eurer Mitte zu scheiden, meine Lieben! Ich werde mein Schiff ›die Hoffnung‹ wieder besteigen, aber diesmal nicht allein. Ein Engel, ein Engel des Glückes, der Liebe, des Friedens wird mich begleiten. Elwire wird mein Weib und Schutzgeist sein! – Vernehmt nun an diesem Freudentage, der nach so langem Jammer den Anfang einer schönern Zukunft verkündet, vernehmt jetzt von mir, daß ich den dritten Theil meines Vermögens allen Armen und Hilfsbedürftigen schenke, die auf Bobersteinschem Grund und Boden geboren worden sind und daselbst leben! Ich habe mehr als ich bedarf,[344] ich bin kräftig und unternehmend, und da ich einer guten Sache diene, wird Gott meine Bemühungen segnen. Vor meiner Abreise werde ich die nöthigen Papiere über diese Schenkung und wie ich sie zum Besten der Darbenden angewendet wissen will, in Vollbrechts Hände niederlegen. Auf das Wohl und ein besseres Loos der arbeitsamen Armen!«

Freudig stimmte Jeder auch in diesen Toast ein, der ebenso die Menschenliebe wie die Großmuth des Kapitäns kund gab. Elwire lächelte dem Geliebten glücklich zu und führte auf sein Wohl das volle Glas nippend zum schönen Munde.

»Nunmehro mag es aber gut sein,« fiel der Maulwurffänger in seiner trockenen Weise ein. »Das viele Trinken, treibt's Einer auch noch so vorsichtig, macht einem zuletzt doch schwer im Kopfe, und davon, muß ich sagen, bin ich kein aparter Liebhaber. Statt also das Gesundheittrinken fortzusetzen, was eine ganz hübsche Sitte ist, wenn's nicht zu lange dauert, hätte ich mit Verlaub einen Vorschlag zu machen, der mir passend scheint.«

»Und dieser besteht?« fragte Aurel.[345]

»Worin er bestehen wird, hängt nicht ganz allein von mir ab. Ich will blos in Anregung bringen, daß wir heut den Geburtstag unsers wackern Freundes, des braven, ehrwürdigen Jan Sloboda, des letzten Wenden, der leibeigen gewesen ist, feiern. Zugleich begehen wir, so zu sagen, auch den Begräbnißtag aller Sclaverei, wenn jeder Herr die hohen Gesinnungen des Grafen Aurel zu den seinigen macht, was Gott geben wolle! Ein solcher Freudentag muß, dünkt mich, gefeiert werden, in mannichfacher Weise, namentlich aber auf wendische Art, da Sloboda dem wendischen Stamme von Geburt angehört.«

»Mir recht, so erfahre ich 'was Neues,« flüsterte Gilbert Bianca zu, hinter deren Schemel er sich meistens aufhielt. »Die Wenden sollen merkwürdige Einfälle haben.«

»Bilden wir uns ein,« fuhr der Maulwurffänger fort, »wir hätten uns hier eingefunden zur Spinnte –«

»Ja, ja, zur letzten Spinnte!« fiel Sloboda ein, sein greises Haupt in Erinnerung an die traurige Vergangenheit bedeutungsvoll neigend. »In der letzten Spinnte beschlossen sie den Besuch am Todtenstein! – Es ist seltsam – seltsam!«[346]

Er stützte die müde Stirn, umfangen von dem Riemen ehemaliger Knechtschaft, in die hohle Hand und lächelte still für sich. Freudige Verklärung breitete sich über seine abgespannten Züge.

»Denken wir,« sprach der Maulwurffänger weiter, »die Spinnräder schnurrten, die Weifen klapperten! Es würde an die Thür geklopft und ein Dudelsackpfeifer träte mit vielen Bücklingen ein und verspräche ein lustiges Stücklein zu pfeifen! Davon wachten die schläfrigen Geister auf, würden heiter, lustig, ausgelassen – begönnen Volkslieder zu singen und Tänze aufzuführen und schlössen zuletzt, wie's Sitte ist beim Volk der Wenden, mit –« (hier ließ der Maulwurffänger den Kopf hängen und schwieg).

»Nun, womit denn?« fragte Gilbert.

»Hole mich Der und Jener, ich weiß nicht, ob ich's rund heraussagen darf, denn 's fällt mir eben ein, daß außer Jan Sloboda kein geborner Wende unter uns ist, und dann, seht, dann habe ich mich selber zum Narren gehabt!«

»Kann jetzt nichts helfen, mein Freund!« sagte Aurel. »Ihr habt angefangen, seht nun zu, wie Ihr zu Ende kommt!«[347]

»Meinethalb denn! – Ich dächte also, wir schlössen nach wendischer Sitte mit Erzählung einer der Geschichten, wie sie im Munde des wendischen Volkes leben und an langen Winterabenden während der Spinnte erzählt werden.«

»Der Vorschlag ist gut, wenn nur der Erzähler sich findet,« meinte Herta.

»Eigentlich,« sagte der Maulwurffänger, »dachte ich dabei an die blinde Marie, denn ich weiß, daß sie ehemals in den wendischen Liedern und Geschichten fast eben so bewandert war, wie Sloboda's Tochter.«

»Wie mein Haideröschen, das arme Kind! Gott beglücke sie in seinem Paradiese!«

»Wirst Du mich in Schande bringen, Marie?« fragte Pink-Heinrich die Blinde, ihre Hand erfassend. »Suche in Deinem Gedächtniß, und ich möchte wetten, daß im verborgensten Fache des Betkästchens eine Perle ersten Wassers herumkollert, die sich auf Deiner Zunge in den allerfeinsten geistigen Honigseim verwandelt.«

Marie lächelte, drückte dem Jugendfreund die Hand und sagte:

»Laß mir eine Weile Zeit, Maulwurffänger! Alles hab' ich noch nicht vergessen, aber es[348] ist wüst durch einander geschüttelt worden durch die vielen harten Stöße, die mein armer Kopf in diesem drangvollen Leben aushalten mußte.«

»Besinne Dich, Mutter, und die Engel im Himmel sollen Dein Lobpreisen!«

»Die Engel werden ihr Lobpreisen,« wiederholte in seiner Geisteszerstreuung der Wende, seine hellblauen Augen zum Himmel aufschlagend. »Sie war schon auf Erden ein Engel.«

Es trat eine kurze Pause ein. Das monotone Schrillen der Heimchen in den Wänden unterbrach allein die allgemeine Stille. Da erhob Marie anmuthig lächelnd ihr auf die Brust geneigtes Haupt, ließ die erblindeten glanzlosen Augen über die Gesellschaft gleiten, als könne sie jeden Einzelnen erblicken, und sagte:

»Deutlich erinnere ich mich blos einer einzigen Geschichte, die ich zu erzählen bereit bin, so gut ich's vermag. In manchem Betracht kann sie uns Allen zur Beruhigung dienen und uns über das Schicksal derer trösten, die unfreiwillig, in ihrer Sünden Blüthe, aus dem Leben schieden.«

»Ohne Einleitung erzähle! Jedes Wort soll uns ein Evangelium sein.«

»Natürlich!« sagte Gregor zu Schlenkern[349] der in dieser Bemerkung des Maulwurffängers eine Art Gotteslästerung erblicken wollte und sich zu einer Predigt in Bereitschaft setzte. Bevor er jedoch zu Worte kommen konnte, hatte sich Marie des Gespräches bereits wieder bemächtigt und trug den aufmerksam Lauschenden folgende mährchenhafte altwendische Erzählung vor.


Lipskulijans Bett.

»Es war aber ein armer Mann, der sich fast nicht mehr ernähren konnte und doch hatte man ihm noch große Abgaben auf sein Haus gelegt. Und er mußte auf's Stöcke-Roden gehen. Und als er eines Tages auch sehr traurig in die Haide ging, begegnete ihm ein Männchen, das ihn fragte: Weshalb bist Du so traurig? Der arme Mann antwortete ihm: Du kannst mir auch nicht helfen. – Wer weiß? sagte das Männchen, sage mir es, so will ich Dir helfen.«

Der arme Mann erzählte ihm, daß er in großer Noth sei und daß es ihm unmöglich wäre, die Steuern zu geben. – Darauf sagte das Männchen: Wenn Du mir das versprichst, wovon Du in Deinem Hause nichts weißt, so will ich Dir helfen. – Der arme Mann gedachte bei[350] sich: Das kannst Du, Du weißt ja Alles, was Du in Deinem Hause hast. – Hierauf brachte das Männchen ein Stück Papier hervor, und auf dieses hat sich der arme Mann mit seinem Blut unterschreiben müssen.

Als dies geschehen war, sagte das Männchen: Nach sechszehn Jahren bringe mir das, was Du mir versprochen hast, auf dieselbe Stelle. Und es gab ihm eine große Summe Geld. Und nach einiger Zeit gebar seine Frau einen Sohn, und er erinnerte sich, was sich der Teufel bedungen hatte, und war sehr traurig.

Der Knabe wuchs aber, und lernte sehr fleißig, so daß ihn der Vater studiren ließ, und als er funfzehn Jahr alt war, da hatte er schon ausstudirt. Und weil sich die Zeit näherte, wo er an das Männchen ausgeliefert werden sollte, so grämte sich sein Vater je länger je mehr. Er sagte daher: Was seid Ihr so traurig, lieber Vater? – Ach, antwortete ihm dieser, ich habe Dich schon ehe als Du geboren wurdest, dem Teufel versprochen und hab' ihm eine Schrift darüber gegeben, und erzählte ihm die ganze Sache. Er aber sagte: Keine Sorge! Ich werde mir selbst diese Schrift holen. –[351]

Und er nahm seinen Degen und etwas Weihwasser und begab sich auf den Weg. Er kam aber in einen so großen Wald, daß ihn die Nacht darin übereilte und er sich zuletzt verirrte. Als er aber lange umhergegangen war, erblickte er Licht und dann ein Häuschen. Und als er hinein trat, war dort Niemand weiter, als eine alte Frau. Diese bat er um Herberge, aber sie antwortete ihm hierauf, er solle seines Weges gehen, wenn ihm sein Leben lieb wäre, denn da wohne ein großer Räuber. Er sagte aber, daß er sich nicht fürchte, und blieb dort.

Nach einer Weile kam auch der Räuber und frug ihn, wohin er gehe. – Da that ihm der Räuber nichts, sondern gab ihm zu essen und zu trinken und bat ihn des andern Tages am Morgen, er möge doch so gut sein und den Teufel fragen, was Lipskulijan zu erwarten habe? –

Und als er in die Hölle gekommen war, war dort grade kein Anderer, als der oberste Teufel. Der wußte aber von der Schrift nichts und sagte, das ginge ihn nichts an und er solle ihn in Frieden lassen. Da besprengte er ihn mit Weihwasser und der oberste Teufel fing so an zu[352] brüllen, daß die andern in Hausen hereingestürzt kamen. Er befragte sie auch nach der Schrift, aber es hatte sie Keiner. Da besprengte er den obersten Teufel wieder mit Weihwasser und er fing an noch viel mehr zu brüllen, so daß ihrer noch viel mehr hereingestürzt kamen. – Er befragte sie wieder wegen der Schrift, aber es hatte sie Keiner. Da besprengte er den obersten Teufel noch einmal und er fing an so schrecklich zu brüllen, daß ihrer von allen Seiten hereingestürzt kamen, und zuletzt kam auch ein Lahmer angehinkt und der hatte die Schrift. Der wollte sie aber nicht geben.

Da sagte der oberste Teufel: Werft ihn auf Lipskulijans Bett! – Da gab sie der lahme Teufel. Und als er die Schrift erhalten hatte, frug er, was für ein Bett Lipskulijan bekommen würde? Und sie zeigten es ihm, und es war von der Art, daß, als er seinem Degen hineinsteckte und ihn wieder herauszog, die Klinge, so weit sie in das Bett hineingestoßen worden war, zerschmolzen war, denn das Bett bestand aus lauter glühendem Eisen.–

Hierauf ging er wieder nach Hause und,[353] kam unter wegs zum Lipskulijan. Der frug ihn ob er wüßte, was ihn erwartete? Und er erzählte ihm Alles. Da erschrak Lipskulijan und erkundigte sich, ob er doch noch nicht könnte begnadigt werden? Und er antwortete ihm: Gott ist jedem Sünder gnädig, wenn er sich bessert. Entziehe Du Dich allem Bösen und bete ohne Aufhören zu Gott, so wird er Dir auch gnädig sein! –

»So wird er Dir auch gnädig sein,« wiederholte Sloboda, ohne sein auf dem untergestemmten Arm ruhendes Haupt zu erheben. – Marie fuhr fort:

»Und er führte Lipskulijan ein Stück von der Straße ab, errichtete dort einen kleinen Hügel und pflanzte darauf eine Gerte und sprach: Auf dem Hügel bete Du, und wenn die Gerte Äpfel tragen wird, so magst Du daraus erkennen, daß Dir Deine Sünden vergeben werden. Hierauf ging er nach Hause.«

Nach langer Zeit, als er schon ein hoher Geistlicher war, fuhr er durch denselben Wald und es erblickte dort sein Diener schöne Äpfel auf einem Baume. Er wollte einen pflücken, aber wie er ihn berühren wollte, da hörte er eine Stimme, welche sprach: Du hast mich[354] nicht gepflanzt, Du wirst mich auch nicht pflücken.

Er erzählte dies in aller Schnelligkeit seinem Herrn. Der ging hin, und als er zu dem Äpfelbaum kam, fand er unter demselben einen knieenden Menschen und besann sich auf Lipskulijan. Und der wollte ihm beichten. Und als er ihm die Sünden vergeben hatte, zerfiel Lipskulijan in lauter Staub, und die Äpfel, welche die Seelen derer waren die er ermordet hatte, verschwanden alle. Und eine weiße Taube flog zum Himmel auf und sang:


Äpflein trug das Gertelein,

Meine Seele muß nun selig sein.


Und er hatte so die Gewißheit, daß Lipskulijan selig gestorben sei.

Als Marie dies eigenthümliche wendische Mährchen beendigt hatte, hörte man ein leises Schluchzen. Es war Bianca, welche, ergriffen von dem tiefen Sinn der ungekünstelten Volksdichtung, ihre Gefühle nicht länger verheimlichen konnte. Schlenker gab seinen Beifall durch lebhafte Gebehrden zu erkennen und reichte in seiner Freude der Blinden sogar eine Prise. Sloboda's[355] Haupt war langsam immer tiefer herabgesunken, so daß es jetzt beinahe die Tischplatte berührte.

Die Kienspäne mit ihren langgekrümmten Rispen brannten dunkel und verbreiteten über Stube und Versammlung mehr Schatten als Licht.

»Der greise Wende ist, glaub' ich, vor Ermüdung eingeschlafen,« sagte Elwire leise, um den Schlummernden nicht zu stören.

»So schnell?« erwiederte Aurel. »Und er hat doch vor Kurzem noch gesprochen?«

»Sonderbar!« sagte Herta. »Der wackere alte Mann schläft so sanft, daß man ihn nicht einmal athmen hört!«

Bei dieser Bemerkung verließ der Maulwurffänger seinen Platz und näherte sich dem Wenden. Behutsam neigte er sein Ohr zu dem Schlummernden. Da aber auch er keinen Athemzug entdecken konnte, erlaubte er sich, seine Hand auf das Silberhaar des Greises zu legen und ihn laut bei Namen zu rufen.

Sloboda antwortete nicht.

Da schob der Maulwurffänger seine Hand unter die Stirn des Wenden und richtete ihn sanft auf.[356]

Sloboda hatte die Augen fest geschlossen, ein Lächeln umspielte seinen Mund, er war todt! Gleich der Seele des Räubers im Mährchen, hatte die Seele dieses greisen Wenden unter Sangesgeflüster ihre irdische Hülle verlassen.

Quelle:
Ernst Willkomm: Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes. Theile 1–5, Leipzig 1845, S. 331-357.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon