Siebentes Kapitel.
Die Versöhnung.

[286] Dieser unerwartete, unbeabsichtigte Ausgang des von Martell ersonnenen Duells machte auf einmal allem Streit und Hader ein Ende. Das Erscheinen seiner Freunde, die er fern gelaubt hatte von dem Orte, wo er auf edle Weise seinen grausamen Bruder bestrafen wollte, war ihm jetzt, obwohl unerwartet, doch sehr lieb. Sie konnten, als Zeugen des Ausgangs, im Nothfalle eidlich erhärten, daß Martell vollkommen schuldlos sei am Tode seines Halbbruders, daß diesen nur die innere Seelenangst, die von wilder Leidenschaft und Sinnenlust erhitzte Phantasie in den Tod gejagt habe. – Martells Absicht bei dem von ihm ersonnenen Duell war eine durchaus ehrenwerthe gewesen. Sein Herz[287] sagte ihm, daß Adrian Strafe, sogar harte, empfindliche Strafe für sein gewissenloses Handeln verdient habe, sein unverdorbenes natürliches Gefühl verlangte eine solche, und so erdachte er denn diese eigenthümliche Art der Bestrafung. Er bezweckte damit eine große moralische Wirkung auf den Grafen; er wollte ihm durch die That beweisen, daß es kein Vergnügen sei, ein ganzes Leben hindurch ohne die geringste Aussicht auf Verbesserung seiner Lage, täglich so lange Stunden in verdorbener Luft zu arbeiten und bei der geringsten Nachlässigkeit Gesundheit und Leben auf's Spiel zu setzen! Er wollte ihm praktisch darthun, daß ein solches Leben die vom Schicksal dazu Verurtheilten verschlechtern bösartig, zu ungesetzlichen, aber leicht erklärbaren Schritten geneigt machen und bei günstiger Gelegenheit sie zu Grausamkeiten verleiten müsse! Nur in dieser Absicht zwang er den Bruder, mit ihm eine Arbeitsfrist zu spinnen, fest überzeugt, daß er den verweichlichten Mann dadurch vollständig bekehren und für alle Zukunft ihn in einen milden Herrn gegen seine Arbeiter verwandeln werde. –

Adrian war eines schmerzlosen, schnellen[288] Todes gestorben. Als die Maschinen standen und Martell seine Freunde in größter Bestürzung auf sich zueilen sah, wiederholte er die Worte:


»Gott hat ihn gerichtet!«

und erhob seine Rechte wie zum Schwur. Von allen Sälen stürzten nun die Arbeiter herbei, drängten in den Saal und umstanden bald in dichten Reihen die vier Männer, die sich vergeblich abmühten, die zerbrochenen Glieder des Unglücklichen von dem Eisenschaft abzulösen.

Es konnte den Arbeitern nicht verborgen bleiben, wer auf so schreckliche Weise geendet habe. »Es ist der Herr am Stein!« – »Unser Graf, unser Gebieter!« – »Die Maschine hat ihn zermalmt, den Armen!« so lief es flüsternd von Mund zu Mund. Kein Laut der Schadenfreude, kein Ruf des Triumphes, kein Schrei der Rache ward vernommen, was man von diesen größtentheils ungebildeten Leuten, denen der Todte nie Wohlthaten erwiesen hatte, so sehr fürchten mußte. Das unmittelbare Eingreifen von Gottes allmächtiger Hand wehrte aller niedern Leidenschaftlichkeit. Jeder fühlte sich erschüttert, gedemüthigt! Es war, als ob man die Nähe[289] des Ewigen scheue, als ob man vor dem unerforschlichen Walten desselben an seine Brust schlagen und sein Knie beugen müsse!

»Gott sei ihm gnädig und vergeb' uns unsere Sünden!«

»Ehrt seinen Namen, flucht ihm nicht! Er ist gestorben wie ein Märtyrer!«

»Es sei ihm von ganzem Herzen vergeben!«

»War er doch unser Brodherr, der uns Kleider und Nahrung gab, wenn schon nicht immer gute und reichliche! Aber ohne ihn, was wäre aus uns geworden!«

»Darum Friede mit ihm! Der Herr lasse sein heiliges Antlitz über ihn leuchten!«

»Ja, Friede mit ihm! Amen! Amen!«

So riefen sich alle Arbeiter zu, nahmen ihre Mützen ab, falteten die Hände und beteten für die Seele des Verunglückten mit gläubigem Herzen ein Vaterunser. –

Inzwischen wurde es laut auf dem Hofe. Einige waren fortgestürzt, um das Geschehene der Dienerschaft des Grafen zu melden und seine Leute herbeizurufen. Andere eilten mit ungläubiger Miene in die Maschinenkammer, aus der[290] man jetzt ein wüstes Durcheinander lauter Stimmen vernahm.

Mitten in diese Verwirrung die mit dem tiefen Frieden der wunderbar klaren und milden Nacht seltsam contrastirte, trat athemlos der Maulwurffänger. Er hatte bereits von einem Unglück gehört, wen es aber betroffen habe nicht erfahren können.

»Wer ist zermalmt worden von der Maschine?« rief er jetzt in den drängenden Haufen hinein, seine durchdringende Stimme erhebend, und arbeitete sich vorwärts bis an die trüb erhellte Thür zur Maschinenkammer, die mit Menschen dicht angefüllt war.

»Der Mörder! Der Mörder!« antworteten eine Menge Stimmen. »Dem Bösewicht ist Recht geschehen! – Der Teufel hat ihn geholt, wie er's verdiente!«

»Welcher Mörder!« sagte der Maulwurffänger, der von den Vorgängen dieses Tages noch nichts wußte. »Es sitzen deren zwei im Gefängniß, wenn sich nicht einer durch irgend ein Mauseloch auf und davon gemacht hat.«

»Wie er noch die Zähne fletscht! Wie er grinst!«[291]

»Das macht, des Satans Bruderkuß hat ihm nicht gut geschmeckt!«

»Ja und darum verdreht er auch die häßlichen Augen so greulich!«

Unter diesen Bemerkungen der Gaffenden erreichte der Maulwurffänger das Innere der Maschinenkammer. Diese war eng und bot nur so viel Raum dar, als nöthig war, um Denjenigen, welche die Maschine zu bedienen hatten, Zutritt zu verstatten. Die ungeheuern Hebel streiften beinahe die Wände und machten es unmöglich, daß Menschen sie nach allen Seiten hin umgehen konnten. Am nächsten berührten die Hebel jene schwache Ziegelwand, welche den Kerker des Mörders von der Maschinenkammer schied. Diese Wand und ihr gegenüber zwischen Wand und Hebeln ein abgestumpfter Eichenpfosten, der mit zur Maschine gehörte, waren jetzt das Augenmerk der Ab- und Zugehenden. Die Wand zeigte sich nämlich durchbrochen und in der entstandenen Öffnung, die gerade so weit war, daß ein mittelstarker Mann sie vollkommen ausfüllte, hing der blutige Rumpf eines Menschen. Der Kopf war hart an den Achseln abgerissen und von der Kraft des tödtenden Hebels[292] nach dem erwähnten Eichenstumpf geschnellt worden. Dort stand er, als habe eine geschickte Hand ihn mit Absicht dahin gestellt, das Gesicht der Thür zugekehrt, mit offenen Augen, den häßlichen Mund mit den Wolfszähnen im Todeskampfe scheußlich verzogen. Blutrüssels Wunsch, der Teufel solle ihm den Kopf abreißen, wenn er sich nicht befreie, war somit buchstäblich in Erfüllung gegangen.

Pink-Heinrich, den es bei diesem widerlichen Anblick und bei den rohen Bemerkungen, welche sich die Arbeiter über den Tod des Elenden zu machen erlaubten, kalt überlief, wendete sich mit Abscheu ab und ging in's Innere der von Menschen überfüllten Fabrik. Schon an der Treppe begegnete ihm Aurel und Vollbrecht. Sie führten Martell, der sich jetzt kaum noch auf den Füßen erhalten konnte. Hinter ihnen ging Gilbert und sodann trugen vier Arbeiter den zerschmetterten Leichnam Adrians, den Niemand mehr erkennen konnte.

»Der Maulwurffänger!« rief Aurel aus, als er den alten Mann, erschüttert von dem Schauspiel, das sich ihm darbot, am Fuß der Treppe auf seinen Schlehdornstock gestützt, mit[293] erschrockenem Auge und bekümmerter Miene, das runzelvolle Gesicht von ehrwürdigem Silberhaar umflossen, auf den Trauerzug hinstarren sah.

»Er ist's!« erwiederte Pink-Heinrich kummervoll. »Aber er kommt diesmal zu spät, um zu helfen! – Die That ist geschehen, wehe dem, der sie vollbrachte!«

Der alte Mann entblößte sein Haupt und wischte sich eine Thräne aus den Augen.

»Ihr seid im Irrthum, braver Alter,« versetzte Aurel. »Dieses Unglück, wenn wunderbare Schicksalsfügungen solchen Namen verdienen, dieses Unglück lastet auf keines Sterblichen Gewissen! Wir drei waren Zeugen des Hergangs, wir können mit den heiligsten Eiden beschwören, daß Martell am Tode des Herrn am Stein, unseres unglücklichen Bruders, eben so schuldlos ist, als Ihr selbst, wackerer Mann! – Es war Gottes Hand, die ihn schlug, und wo diese in die Geschicke der Menschen eingreift, da müssen wir uns beugen und ausrufen: Sein Wille geschehe für und für! – Die Phantasieen des Verunglückten jagten ihn in den Tod! Gott sei ihm gnädig!«

Der Maulwurffänger schloß sich dem Trauerzuge[294] an, der sich langsam über den Hof, den gewundenen Kiesweg hinab nach der Wohnung Adrians bewegte. Alle Arbeiter folgten paarweise. Das seltsame Kreuz, welches der Rauch über dem Hofe der Fabrik bildete, war noch immer zu sehen. Erst, als der Zug vor dem Hause anhielt, zerflatterte es nach und nach in der Luft.

Das heftige Laufen so vieler Menschen und das damit verbundene unvermeidliche Rufen und Schreien, hatte die Frauen aufgeschreckt, und ihnen das Geschehene verrathen. Sie erwarteten am Portale des Hauses den nahenden Zug. Bianca, die zwischen Herta und Elwire in der Mitte stand, machte auf Aurel einen unauslöschlichen Eindruck. Während nämlich Großmutter und Enkelin schwarz gekleidet waren, trug Bianca ein durchsichtiges weißes Gazekleid, das ihre vollendeten Formen mehr enthüllte als verbarg. Ihre schwarzen Haare waren über der blassen Stirn gescheitelt, im Nacken durch eine Perlenschnur zusammengefaßt und ergossen sich in fesselloser Pracht, eine glänzende Lockenwelle, bis weit über ihre Hüften. Diese phantastische Kleidung war reizend und abschreckend zugleich.[295] Bianca hatte, wie schon so oft, auch in dieser Nacht den Grafen wieder in jene gräßliche Gedankenhölle stürzen wollen, die sie willkürlich um ihn erbauen konnte und an der sich ihr grollendes Auge erlabte. Überrascht von dem unerwarteten Tode ihres Feindes hatte sie in der ersten Bestürzung ihre Kleider zu wechseln vergessen. So empfing nun die zur Rache gerüstete schöne Furie die blutige Leiche dessen, den sie durch ihre Reize in Verzweiflung und Wahnsinn stürzen wollte, an der Schwelle seines Hauses! –

Der Tod ist ein mächtiger Vermittler. Das fühlte in diesem unvergeßlichen Augenblicke selbst die unerbittliche Rächerin. Thränen wahrhaft weiblichen Mitgefühls füllten ihre bis dahin kalten Augen, die wohl zuweilen geweint hatten, aber nur vor Wuth und vor Begierde sich zu rächen. Der Anblick des grausam Zerrissenen erschütterte sie, das starre Herz brach ihr im Busen und weinend beugte sie sich über den Todten, um ihm vergebend die Hand zu drücken.

»Ich verzeihe Dir, Unglücklicher!« sagte sie. »Ich verzeihe Dir im Namen meiner Schwester.[296] Du hast gefrevelt, aber Du hast auch gebüßt. Friede Deiner Asche! –«

Die Leiche ward ins Haus getragen und hier in jenem prachtvollen Speisesaale, wo Adrian die bittenden Arbeiter so schnöde abgewiesen und Lore ihr Kind in brennendem Mutterschmerz von ihm zurückgefordert hatte, auf reiche Teppiche niedergelegt. Hier kniete Bianca nochmals neben dem Todten an die Erde, ein Strom heißer Thränen entfloß ihren Augen und Reue über ihr unbarmherziges, unglaublich hartes und sündiges Verfahren versetzte sie in tiefe Traurigkeit. Da trat Vollbrecht an sie heran, hob sie liebevoll auf und sagte:

»Lassen Sie ihn ruhen! Wir können die Geschicke nicht ändern. Sie aber, meine Freundin, werden vor Gott gerechtfertigt erscheinen, denn Sie waren in seiner Hand ein Werkzeug der Strafe! Ein Leben voll Milde, Sanftmuth und Liebe wird auch Sie vergessen lassen, was Ihnen geschah und was Sie verübten! Kommen Sie!«

Der gutmüthige Geschäftsführer zog die nur schwach Widerstrebende mit sich fort. Herta und Elwire folgten. Die Männer aber gingen zusammen[297] in Adrians Wohnzimmer, um sich über die Schritte zu einigen, die zu thun man jetzt für nöthig halten würde. –

In dieser Unterredung erfuhr der Maulwurffänger erst die Ermordung des unglücklichen Klütken-Hannes, dessen Leichnam auf der Tenne der Scheuer lag. Eine unerklärbare Unruhe hatte den Maulwurffänger vom Hause fortgetrieben. Er war trotz seines hohen Alters rastlos fortgewandert, hatte erst nach Mitternacht das Dorf am See erreicht und bei Martell den Rest der Nacht zubringen wollen. Von Lore benachrichtigt, daß ihr Mann in dieser Nacht eine Zusammenkunft mit seinem Halbbruder habe, um Abrechnung mit ihm zu halten, trieb es ihn ruhelos fort nach der Felseninsel. Leider fand er keinen Fährmann; er mußte sich also mit eigener Hand über die Gewässer rudern, was ein Wagstück für ihn war, da er keine Übung in der Schifferkunst besaß. Er brauchte daher auch verhältnißmäßig lange Zeit, ehe er die Insel erreichen konnte, denn mehr als einmal trieb er seinen Kahn rückwärts anstatt vorwärts. Daher kam er erst nach der schrecklichen Katastrophe an, die durch sein früheres Auftreten[298] vielleicht verhindert worden wäre. Indeß leuchtete seinem hellen Verstande sehr wohl ein, daß vielleicht gerade dieser Ausgang die besten und segenbringendsten Folgen haben könne.

In der nun folgenden, bis an den Morgen dauernden Berathung ward beschlossen, den beiden an einem Tage umgekommenen Brüdern ein feierliches Begräbniß zu veranstalten und sämmtliche Mitglieder der Familie dazu zusammen zu rufen. Adalbert von den erschütternden Ereignissen zu benachrichtigen, übernahm Aurel in einem ausführlichen Briefe, der eben so wahr, offen und gerade, als liebenswürdig und versöhnlich geschrieben war, und wohl geeignet sein konnte, auch das haßerfüllteste Herz zu erschüttern und wider Willen zur Versöhnung zu zwingen. Da er Adalbert als einen vornehmen und abgeschlossenen Aristokraten kannte, hütete er sich wohl, in einen allzuvertraulichen Ton zu fallen, obwohl sein Herz diesen gern angeschlagen hätte. Seinen Zweck zu erreichen und zugleich den feindlich gesinnten Bruder von der Schuldlosigkeit dessen zu überzeugen, auf den ein Bösgesinnter wohl einige Schuld wälzen konnte, zog er es vor, mehr die Klugheit als das Gefühl sprechen[299] zu lassen. Dieser Brief, der Aurels Charakter in so schönem Lichte zeigte, lautete folgendermaßen:


»Mein vielgeliebter Bruder,

Es ist löblich, wenn Brüder einträchtig bei einander wohnen! Mit diesem treuherzigen Bibelwort, von dem ich freilich nicht behaupten will, daß ich es ganz wörtlich nach Luthers Übersetzung citirt habe – denn es ist eine ziemlich lange Reihe von Jahren seit der Zeit verflossen, wo ich mich bibelfest nennen durfte – mit obigem Wort also rufe ich Dir heut einen wohlgemeinten, von Herzen kommenden Gruß zu. Wir haben vor wenigen Tagen einen Prozeß gegen arme und rechtliche Leute verloren, die ein unerforschlicher Wille der Vorsehung von Geburt an zu unsern nächsten Verwandten auserwählte, ohne daß wir eine Ahnung davon hatten. Gewiß, ein ganz anderer Geist hätte unser Aller Leben und Wirken beseelt, wäre vor nur zehn Jahren diese für uns so wichtige Entdeckung gemacht worden! Weil dies nicht geschah, nicht geschehen konnte und sollte, deshalb trennten wir uns in einer finstern Stunde und standen[300] uns feindlich gegenüber. – Ich bekenne lieber Bruder, daß ich durch meine Hartnäckigkeit und die Gereiztheit meines ganzen Wesens nicht wenig Schuld gewesen bin an dieser Trennung. Indeß, Gott Lob, ich kann mir auch selbst Unrecht geben, wenn ich es verdient habe, und so hoffe ich, der Freudentag, wo unrechtmäßig getrennte Brüder sich wieder in Liebe vereinigen, einander aufrichtig vergeben und sich für immer versöhnen, wird nicht mehr fern sein! –«

»Alles fordert uns dazu auf, der verlorene Prozeß, der für uns gewonnen ist, wenn wir, wie ich gethan habe, diejenigen als unserm Geschlecht zugehörig anerkennen, welche vermöge ihrer Abstammung ein unbestrittenes Recht dazu haben! Das Schicksal, das den Samen der Zwietracht unter uns ausgestreut hat, und endlich die Vorsehung selbst, die in diesem Augenblick uns schwer ihre strafende Hand fühlen läßt!«

»Ich sehe Dich grollend die Stirn runzeln, aber höre mir geduldig zu und Du wirst mir Recht geben!«

»Unser armer Bruder Adrian, den ein seltsamer[301] Geist des Irrthums verblendete und auf Abwege führte, die ich eben so wenig wie Du vereinbaren kann mit dem angeborenen Sinne für Gerechtigkeit, der unserm alten stolzen und berühmten Geschlecht bis in die Zeiten des grauen Alterthums eigen gewesen ist, dieser arme Bruder hat plötzlich aus dem Leben scheiden müssen! – Ich sage müssen, weil sein Tod wirklich einer unbegreiflichen Fügung Gottes, einem wahrhaften Schicksal gleichkommt.«

»Du weißt, daß er seit langer Zeit kränkelte. Eine gewisse Schwäche, die sich in nervöser Reizbarkeit und nicht selten in unheimlichen, erschreckenden Einbildungen bekundete, verließ ihn seit jener Zeit nie mehr. Ärger, Verdruß, wohl auch wahrhafter Kummer steigerten diese krankhafte Gemüthserregung, und eine unbegreifliche Leidenschaft, die ihn mit dämonischer Gewalt überfiel und zum willenlosen Kinde eines armen, aber schönen Mädchens machte, das seine Neigung nicht erwiederte, rieb ihn geistig und körperlich beinahe auf.«

»In dieser Gemüthsstimmung überraschte[302] ihn, wie mich, die Nachricht von dem Verlust des Prozesses. Du kennst Adrians Festhalten an irdischem Besitz, dem er häufig mehr Werth beilegte, als ein besonnener Mann es sollte. Er hielt sich daher im ersten Augenblick völlig ruinirt und nur meinen wiederholten Versicherungen gelang es, ihn dieser fixen Idee zu entfremden. Zum Unglück mußten sich an die Mittheilung von dem verlorenen Prozeß auch noch andere Eröffnungen knüpfen, die sein Gemüth tief erschütterten. Es galt nichts Geringeres, als einen unserer wiedergefundenen Halbbrüder gefänglich einzuziehen, da man ihn auf verbrecherischen Wegen ertappt hatte. Ich schweige über das Nähere und verschiebe ausführlichere Mittheilungen bis auf persönliches Zusammenkommen.«

»Brauche ich Dir noch zu sagen, daß seit jenen Tagen unsern armen Bruder eine Melancholie befiel, die uns ernstlich um ihm besorgt machte? Aber wer, wer sollte ihn nahen, wer ihn bewachen! Sein Mißtrauen war grenzenlos, seine Heftigkeit nicht zu ertragen! Abgemagert bis zum Skelett, erkannte man ihn kaum noch. Seine Phantasieen, die ihm[303] die seltsamsten und schrecklichsten Träume vorspiegelten, streiften hart an den Wahnsinn, und immer kehrte in ihnen neben tausend fratzenhaften Spukgestalten das bezaubernde, ihn beseeligende, aber auch aller Vernunft auf Augenblicke beraubende Bild des Mädchens wieder, dem er hoffnungslos sein Herz geschenkt hatte!«

»Durch den plötzlichen Tod jenes Bruders, der als angeklagter Verbrecher im Kerker saß, von Neuem ungewöhnlich erschüttert, machte er seiner Gewohnheit nach tief in der Nacht einen Besuch in der Fabrik, wo vor Kurzem die Arbeiter ihre Stellen gewechselt hatten. Lampenlicht, Mondschein, Öldunst und Maschinengerassel verwirrten seine Gedanken – er hielt die Spinner für Geister, glaubte in dem blitzenden Glänzen einer eisernen Welle, die senkrecht vom Fußboden zur Decke sich erhebt und das ganze Werk durch alle Stockwerke treibt, das heiß geliebte Mädchen zu erblicken ... eilte darauf zu und ... ward von der Dampfkraft zerschmettert!«

»Traure mit mir um den beklagenswerthen Bruder, dessen Leiden so tragisch enden sollten![304] – Ich hatte ihn seine Wohnung verlassen sehen und war ihm, seine Stimmung fürchtend, nachgegangen, aber erst in dem Augenblicke, als die Welle ihn erfaßte, konnte ich den Saal erreichen, der seine Todeskammer werden sollte!«

»Dieser unvermuthete, nicht allein uns Brüder sondern auch Adrians sämmtliche Unterthanen tief darniederbeugende Tod ruft uns mahnend zu: Vergebt und vergeßt! Seid einander wieder liebende Brüder und lebt als solche in christlicher Eintracht! Laßt allen Groll auf immer dahin fahren und vertragt Euch, wie Brüder es sollen! – Und was, theurer Bruder, was soll uns denn eigentlich entfremden? – Haben wir uns gegenseitig um unser Eigenthum gebracht? – Nein, wir haben es in brüderlich gutem Einverständniß vermehrt! – Sind wir Schuld daran, daß alte Frevel zu sühnen waren, daß tief Gekränkten Gerechtigkeit verschafft werden mußte? – Keineswegs! – Nun und haben wir denn an unserer Ehre etwas verloren, wenn wir denen, die Gottes Wille aus der Nacht unverdienter Armuth zu uns emporhob in den mildernden und bildenden[305] Sonnenschein mäßigen Besitzes, wenn wir diesen brüderlich die Hände reichen und sie neben uns wandeln lassen? – Auch dies muß ich verneinen! – Warum also noch länger getrennt und unversöhnt leben? Warum grollen und grollend vom Tode überrascht werden, wie unser armer Bruder?«

»Adalbert, laß uns großmüthig, laß uns ritterlich handeln! Nimm die Hand, die ich zu aufrichtiger Versöhnung Dir entgegenstrecke, vertrauensvoll an und laß uns treue Brüder sein und bleiben, so lange uns Gott am Leben erhält!«

»Schwere, traurige Gedanken ziehen durch meinen Geist und stören die Ruhe meiner Seele! – Mich dünkt, wir haben den ernsten Wink der Vorsehung zu spät verstanden! Schon damals sollten wir froh und frei uns einigen in Liebe, als wir die ersten Spuren entdeckten von den Fußstapfen, welche verlorene Kinder unseres Vaters in den Staub der Armuth, in den Schlamm der Erniedrigung gedrückt hatten! Es war an uns zu vergeben, zu sühnen, was ein Verstorbener vor uns gesündigt. Glücklich und beneidenswerth sind die[306] zu preisen denen Gelegenheit geboten wird, Vergehungen ihrer Vorfahren durch Thaten des Segens in der Gegenwart auszugleichen! – Wir haben dies nicht so eifrig, nicht so gern gethan, wie wir sollten, ja es bedurfte erst eines so erschütternden, gewaltigen Donnerschlages, ehe wir trauernd, gebeugt und reuig zu dieser Erkenntniß kamen! –«

»In fünf Tagen soll die feierliche Beerdigung des Abgeschiedenen stattfinden. Ich weiß, Du wirst nicht dabei fehlen, denn ich kenne Dein Herz, das gern geneigt ist zum Vergeben, wenn es auf ehrliches Entgegenkommen rechnen kann.«

»Mit schmerzlicher Sehnsucht erwarte ich Dich und Beatrice, meine schöne, liebenswürdige Schwägerin, der ich mich angelegentlichst zu empfehlen bitte! Lebe wohl bis dahin Über den Sarg des geliebten Bruders reicht Dir die Hand zur Versöhnung

Dein treuer Bruder

Aurel


Die kleine Abweichung von der Wahrheit, welche sich der Kapitän in diesem Briefe erlaubte,[307] glaubte er vor sich selbst rechtfertigen zu können, da es ihm zumeist daran lag, Adalbert wirklich zu aufrichtiger Versöhnung zu bewegen. Deshalb nahm er sich selbst auch gar nicht aus von denen, die ein irrthümliches Handeln sich vorzuwerfen hatten. Adalbert war Diplomat und nur auf diplomatischem Wege ließ er sich zu einem Abweichen von der einmal eingeschlagenen Bahn bestimmen.

Aurel hatte sich übrigens nicht verrechnet. Sein Bruder kam früher in Boberstein an, als der Kapitän vermuthete. Beatrice begleitete ihn. Der Empfang war zwar nicht herzlich, aber doch erwärmt. Blick, Händedruck und Bewegung Adalberts sagten Aurel, daß er seinen Zweck erreicht habe. Der vornehme, stolze Herr bat sogar, der Kapitän möge ihm seine Halbgeschwister vorstellen und stattete zu diesem Behufe einen, freilich sehr kurzen Besuch in Martells und Simsons Hütte ab. Über den Eindruck, welchen der einsilbige Spinner auf den Aristokraten gemacht haben mochte, sprach sich Adalbert nicht aus.

Mit großem Pomp fand am fünften Tage nach der Zerschmetterung Adrians die Beerdigung[308] beider Brüder statt. Aurel glaubte die Verfolgung und Bestrafung selbst eines überführten Verbrechers nicht bis über das Grab hinaus erstrecken zu dürfen.

Die beiden geschmückten Särge, auf denen das Wappen der Boberstein prangte, wurden feierlich in die alte, noch wohl erhaltene Grafengruft eingesenkt. Außer den Leidtragenden, zu denen Aurel, Adalbert, Martell, Herta, Elwire, Maja, Simson, Paul und Sloboda gehörten, begleiteten die sämmtlichen Arbeiter ihren verunglückten Gebieter zur Gruft und weinten ihm eine Thräne des Mitleids, zollten ihm ein Wort der Theilnahme und der Verzeihung.

Über der Gruft reichten die bis dahin so feindlich gesinnten Brüder, Schwestern und Verwandten einander die Hände zur Versöhnung. Auch der Maulwurffänger, der gleich den Übrigen dem Leichenconduct beiwohnte, erhielt von Adalbert und Beatrice den versöhnenden Handschlag.

Nach der Beerdigung reisten Adalbert und seine Gattin sogleich wieder ab. Er versprach Aurel, recht bald zu schreiben und ihm seine Gedanken[309] über Theilung der zugefallenen Erbschaft mitzutheilen.

Man trennte sich mit der Überzeugung, daß die Vergehungen des alten Geschlechts zugleich mit den sterblichen Überresten Adrians und Johannes Klütken's gesühnt und für immer in die Gruft gesenkt worden seien. –

In derselben Nacht trugen zwei Spinner, von Aurel und Gilbert begleitet, die Leiche des Mörders nach der Torfhütte und vergruben sie in den tiefsten Moor. Über den schlammigen Hügel sprachen die beiden Seemänner ein stilles, andächtiges Gebet.

Quelle:
Ernst Willkomm: Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes. Theile 1–5, Leipzig 1845, S. 286-310.
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