Drittes Kapitel.
Die Weberin.

[248] An dem nämlichen Tage erhielt Graf Adalbert von seinem Bruder ein inhaltreiches Schreiben. Dieses Schreiben lautete wörtlich, wie folgt:


»Mein theurer Bruder.

Seit acht Tagen hat sich unsere Familie vermehrt. Wir sind nämlich jetzt der Brüder Boberstein vier und möglicherweise finden sich in Kurzem noch einige bisher unbekannte Geschwister zu uns, angelockt von dem reichen Erbe, das wir besitzen. Du wirst mich vollkommen verstehen, wenn ich Dir mittheile, daß in der That ein wilder Sprößling unsers hochseligen Herrn Vaters gerichtlich aufgefunden[249] worden ist. Mein Sachwalter hehauptet, es fehle nicht ein Jota zur vollkommensten Beglaubigung der Ächtheit des neu entdeckten Boberstein, und zuckt bedenklich die Achseln, wenn ich ihn frage, wessen Wagschale steigen, wessen fallen werde? Ich gestehe, lieber Bruder, daß mich diese widerwärtige Angelegenheit, je länger sie sich hinzieht, desto gleichgiltiger macht. Der Besitzende bleibt doch immer im Recht, unser Grafenthum kann man uns nicht nehmen, wir sind außerdem legitim im Besitz der Güter unseres Vaters und wenn bei so bewandten Umständen überhaupt etwas für uns Nachtheiliges erzielt werden sollte, so kann es sich schließlich doch blos um eine Abfindungssumme handeln. Unter jetzigen prosperirenden Verhältnissen können wir uns gern dazu verstehen. Will außerdem die Gerechtigkeitsliebe des Staates noch ein Übriges thun und unsern frisch ausgegrabenen Bruder in den Grafen- oder Freiherrnstand erheben, so können wir dabei ruhig zusehen. Es gibt eben eine neue Linie Boberstein, von der die ursprünglichen, von dem Glanze ihres erlauchten Namens durchdrungenen[250] Erben des alten Geschlechtes schwerlich Notiz nehmen werden.

Aber nicht wahr, Du bist begierig zu hören, wer denn unser Bruder ist? Wo er lebt? Wie er sich im Leben nimmt? Was er treibt und besitzt? – Nun, das ist ein wahrhaft kostbarer Spaß, ein Spaß, wie ihn kein Hofnarr zur Zeit, wo diese göttlichen Witz- und Possenreisser an fürstlichen Hoflagern noch Sitte waren, besser hätte erfinden können! Du erinnerst Dich doch des Spectakels, von dem ich Dir bei Deinem letzten Besuche Einiges erzählte. Damals bezeichnete ich Dir den Fabrikarbeiter Martell als den gefährlichsten Menschen unter all' meinen Knechten. Und gerade dieser ungebildete, wüste, leidenschaftliche Bengel ist unser älterer Herr Bruder! Als ehrlicher Mann gestehe ich, daß mich diese Entdeckung unangenehm berührt hat, blos deshalb, weil ich jetzt selbst an die Ächtheit seiner Geburt glaube. Der Mensch steht unserm Herrn Papa zum Erschrecken ähnlich, wenn ihn die Leidenschaft erregt; und gerade diese Ähnlichkeit ärgert mich, denn sie compromittirt uns. Deshalb habe ich auch[251] meine bereits früher gehegten und entworfenen Pläne der Ausführung behutsam näher geschoben. Besser ist es doch, unser Geschlecht allein zu repräsentiren, als immer und ewig von einem zottigen Hungerleider angebellt zu werden, dessen man sich eben so zu schämen, als ihn zu fürchten hat.

Mir scheint daher, der von Dir gebilligte Vorschlag sei jetzt mit Energie aufzunehmen und mit Schlauheit auszuführen. Deiner Zustimmung gewiß habe ich nicht angestanden, schon vor der anmuthigen Entdeckung des neuen Bruders Anstalten zu treffen und es ist mir gelungen, ein überaus taugliches Individuum dazu aufzufinden. Noch heut oder morgen werde ich persönlich mit diesem Helfer in der Noth zusammenkommen und Alles mündlich abmachen. Vorsicht ist nöthig bei solchen Angelegenheiten und mir wenigstens soll die Welt nicht nachsagen können, daß ich bei allem Speculalionsgeiste doch den eigentlichen Kern und die Blüthe des Glückes – List und Verschlagenheit – nicht besessen hätte.

Mein Befinden ist wieder ganz erträglich. Die reine scharfe Winterluft hat mich wunderbar[252] gekräftigt. Bis zum Frühjahr denk' ich gesunder als je zu sein und was dann etwa noch fehlt, wollen wir zusammen im Seebade von Ostende oder Dieppe nachholen.

Übrigens kann ich Dir die tröstliche Versicherung geben, daß ich mein System consequent durchgeführt habe. Man kann viel erreichen, wenn man klug ist und die Neigungen und Leidenschaften derer zu benutzen weiß, die uns dienstbar geworden sind. So habe ich es mit meinen Arbeitern gemacht, die dabei gutmüthig in dem Wahne bleiben, ich sei auf dem besten Wege mich in Folge ihrer mir zu Ohren gekommenen Klagen für sie aufzuopfern! Freilich geben sich nicht Alle diesem kindlichen Glauben hin, aber doch bei weitem die Meisten. Und das Alles, weil ich ihnen kürzlich doppelten Lohn auszahlen ließ! Ist das nicht amusant? Beweist das nicht, daß derjenige menschlich genommen immer im Recht ist, der in Wahrheit vielleicht das größte Unrecht begeht? Haben es die Eroberer und Despoten alter und neuer Zeit etwa anders gemacht? Und lebt ihr Name nicht hochgepriesen in der Geschichte fort von Jahrhundert zu Jahrhundert?[253] Du mußt nur siegen, um groß und unsterblich zu werden, siegen ohne Unterbrechung, und es ist vollkommen gleichgiltig, ob Du als ein Solon oder als ein Caligula die Welt in Erstaunen setzest!

Daß man Lust zu solchen Siegen erhält, ist sehr natürlich, wenn man längere Zeit unter so heruntergekommenem Volke lebt. Ich weiß in der That nicht, ob ich diese Menschen mehr beklagen oder verachten soll, denn wer sie so sieht, in Schmutz und geistige Dumpfheit gleich tief versunken, dem ist es zu verzeihen, wenn er sich urplötzlich auf dem ärgerlichen Gedanken ertappt, es möchten diese prädestinirten Unglücksphysiognomieen wohl nicht Geschöpfe seines Gleichen sein! – Ich kann nicht läugnen, daß ich mich selbst einigemale auf dieser aristokratischen Gedankensünde überrascht habe ganz wider Willen. Nehmen wir aber an, es bestünde wirklich ein geheimer Unterschied zwischen hoch und niedrig Geborenen, was, ich frage Dich, was könnte es dann nutzen, wenn wir uns fruchtlos abmühten, ein von Anfang an minder begabtes, geistiger Entwickelung unfähigeres Geschlecht zu uns[254] heraufzuheben? Kannst Du Dichter, Künstler, Fürsten bilden? Nein, sie alle werden geboren! – Wenn dem aber so ist, woran kein Vernünftiger zweifeln kann, dann muß ich sehr bitten, mich mit allen philantropischen Ideen zur Heraufbildung der Menschheit auf gleiche Höhe der Anschauung und Entwickelung mit uns zufrieden zu lassen. Dann bleibe Staub, was Staub ist, und jegliche Creatur begnüge sich mit dem, was ihr Gott in seiner unergründlichen Weisheit zugetheilt hat!

Ich hoffe, wir verstehen uns und wandeln Hand in Hand unserm großen Ziele entgegen. Laß mich wissen, in wiefern Deine Bemühungen gleichen Erfolg gehabt haben! –

Noch eine Sorge hat sich in diesen Tagen zu den übrigen gesellt. Meine Haushälterin ist aus meinen Diensten gegangen. Das stört mich mehr, als die hundert und aber hundert Verwünschungen meiner ohnmächtigen Arbeiter. Ich muß fast verhungern, so schlecht wird Alles zubereitet! Solltest Du eine passende Person wissen – wohl zu merken: sie muß[255] jung, hübsch und heiteren Temperamentes sein – so setze mich davon in Kenntniß.

Meiner liebenswürdigen Frau Schwägerin die ehrfurchtsvollsten Grüße!

Adrian.«


Auf diesen Brief, den Adalbert mit großer Seelenruhe las, ging Tages darauf folgendes Antwortschreiben an Adrian ab.


»Mein lieber Bruder.

Die Empfindungen, welche mir das Lesen Deines interessanten, liebevollen Briefes erregte, kann ich nur mit dem unbeschreiblich wohlthuenden Gefühle vergleichen, das unsern Körper nach genommenem Dampfbade durchrieselt. Ich befinde mich ganz à mon aise, äußerst behaglich, befriedigt in jeder Weise und nicht im mindesten aufgelegt, mich künstlich zu melancholisiren, wie dies jetzt in der aristokratischen Welt wohl einigermaßen Mode zu werden beginnt. Für dieses Wohlbefinden bin ich Dir dankbar ergeben, theurer Bruder, und drücke Dir par distance die Hand.

Deine Mittheilungen anlangend, so wüßte ich nicht, was ich darauf zu erwiedern hätte, es müßte denn das sublimste Lob sein. Da[256] ich nun aber weiß, daß Du nicht diese plebeje Art von Ehrgeiz besitzest, die nach faustdickem Lobspruche giert, so halte ich an mich und werfe Dir nur einige bescheidene, fein lächelnde Winke zu. Du bist ein Kenner und weißt den haut goût geistigen Genusses zu schätzen.

Eins aber muß ich doch tadeln! Du hast vergessen, mir eine Beschreibung zu liefern von dem Grafen in der Zwillichhose und Kattunjacke! Wie konntest Du so meinen Geschmack verkennen und mich eines Genrebildes berauben, wie es wahrscheinlich vor Deinen Augen nicht zum zweiten Male auftaucht? Du kennst meine romantischen Liebhabereien, meinen Enthusiasmus für die Niederländer, mein Schwärmen für Künstler, die es sich angelegen sein lassen, mit sicherem Pinsel die Zerrissen- und Zerfahrenheiten des Lebens im eigentlichen Sinne des Worts auf die Leinwand zu zaubern!

Gestehe ich's immerhin, daß vielleicht grade dieser capriciöse Hang mich zu Deinem treuesten Bundesgenossen macht. Etwas und zwar nicht ganz wenig, trägt er bei, Deinem Systeme zu huldigen! – Es ist so schwer in unserer unkünstlerischen, nur auf grob Materielles[257] gerichteten Zeit, gute Kunstwerke zu erhalten. An Künstlern, die sich so nennen, fehlt es freilich nicht, solche aber, die es wirklich sind, in deren Producten man Seele, sprossendes Leben, zündenden Geist findet, solche wollen mit hundert Laternen gesucht sein.

Da unterhält es mich denn ungemein und bildet mein Urtheil, wie meinen Kunstsinn zu einiger Meisterschaft aus, wenn ich künstlich ein Leben um mich her entstehen lasse, das mir, bisweilen allerdings etwas zu naturgetreu, jene Genrebilder aus den niedrigen und gemeinen Lebenskreisen unmittelbar vor's Auge führt. Um dasselbe besser aus der Ferne genießen zu können und mir einen wirklichen Kunstgenuß, also zugleich Bild und Leben, zu verschaffen, habe ich mir von meiner letzten Reise nach England einen vortrefflichen Dollond mitgebracht, der sehr weit trägt, die Gegengenstände außerordentlich rein und scharf und mit zauberischer Klarheit festhält. Mit diesem bewaffnet bringe ich Stundenlang an den Fenstern meines Schlosses zu und schwelge in den Genüssen, die er mir aus der dumpfen Gemeinheit des in Schmutz und Schande sich[258] wälzenden Volkes zuträgt. Größeren Reiz im Genuß und dauerndere Befriedigung daran habe ich noch auf keiner Bildergallerie gehabt; meine Art, das Leben in der Kunst zu goutiren und auch vom Schmutz und Elend die unsichtbare Schicht feinsten Aroms, die sie umwebt, mit Behagen einzuschlürfen, ist die vorzüglichste und wird gewiß fashionable, wenn ich einmal in die Laune komme, die vertrauten Freunde zu verrathen!

Aus diesen Andeutungen kannst Du entnehmen, daß ich keineswegs müssig gewesen bin. Meine Macht wächst täglich, der Unterthan neigt sich gehorsam vor mir und ist sehr zufrieden, wenn ich ihm nicht das Ohr kneipe. Ich herrsche vollkommen unumschränkt über Bauern und Weber. Es gibt fast kein Haus mehr in den nächsten drei Dörfern, das mir nicht angehört, und ich halte sehr streng auf pünktliche Zinszahlung! Enfin ich bin sehr zufrieden! Übrigens sind meine Leute friedlicher gesinnt, als Deine Fabrikarbeiter. Hier denkt Niemand an Empörung oder gar an Petition. Gott Lob, der Landmann und der bloße Lohnweber gehören noch der alten Zeit[259] an, die sich mit Lesen nicht viel abgab! Vortrefflich arbeiten auch meine Pastoren uns in die Hände, und ich danke Gott wirklich, daß er mich so kostbare Wahlen hat treffen lassen. Es sind musterhaft gute, fromme, mir treu ergebene Herren, diese beiden Pastoren, aber Theologen vom Scheitel zur Zeh! Aber auch blos Theologen, sag' ich Dir! Sie halten mit eifersüchtigen Blicken auf Befolgung des geschriebenen Wortes. Was geschrieben steht, steht geschrieben! heißt ihr Gott, ihr Glaube, ihre Seligkeit!

Du kannst Dir vorstellen, was sich mit solchen gelehrten Büffeln anfangen läßt! Sie wollen nichts hören von Volksaufklärung, was ich nur billigen muß, und verleiden meinen Bauern und Webern alle Zeitungen und Bücher durch ihr fanatisches Eifern gegen die Presse. Ihnen ist Alles schlecht und verdammenswerth, was nicht in der Vulgata und etwa in einer geistlosen Postille steht. Kann ich etwas Besseres thun, als diese Ehrenmänner in ihrem Amtseifer unterstützen und bestärken? Während sie meine Unterthanen geistlich und selig machen, bringen sie ihnen den[260] herrlichen Glauben bei, daß irdisches Glück und Wohlsein dem Himmel abwendig mache und Niemand zukomme, als den Auserwählten! Unter diese gehören natürlich die Herren und alle Obrigkeiten, und ich bin gar nicht böse, daß meine sehr untheologische Überzeugung trotzdem Allem mit dieser banalen Theologie vortrefflich harmonirt!

Gesteh' es, lieber Bruder, daß ich Glück habe! Was Andere in einem ganzen Leben voll Mühen nicht erreichen, das fällt mir von selbst in den Schooß. Es erfolgt, was ich wünsche, nur dadurch, daß ich es wünsche. Höchstens gehe ich meinen guten Seelsorger um ein passendes Kirchengebet oder eine eindringliche Predigt an. Und nun sage Einer noch, daß die Interpretation des Lebens wie der Bücher nicht die Hauptsache sei! Daß man nicht Alles in das liebe Leben hinein- und auch wieder aus ihm herauserklären kann, wenn es nöthig ist!

Viel Glück zu der beabsichtigten Unterredung! Führt sie zum Ziele, so geb' ich ihr[261] meinen Segen! Nur sei jetzt doppelt vorsichtig! Wenn Du es doch so einrichten könntest, daß Martell einen Ort besuchte, in deren Nähe sich die Cholera gezeigt oder schon einige Opfer gefordert hat! Sollte sich das nicht thun lassen? Glück, Schicksal und Teufel pflegen alle drei auf ein Ausstrecken des kleinen Fingers zu warten. Darauf muß man achten!

Eine Haushälterin brauchst Du? Hm, es ist fatal, daß wir mit Aurel so übel stehen! Der gute lebenslustige Bruder hat ein paar hübsche Mädchen als Dienerinnen für Herta bei sich, die sehr gut erzogen sein sollen, wie ich in Erfahrung gebracht habe. Auf Umwegen ließe sich die eine oder andere doch vielleicht gewinnen! Ich werde mich erkundigen lassen und Dir später Antwort geben.

Meine Frau erwiedert Deine ehrfurchtsvollen Grüsse sehr angelegentlich.

Ganz

Dein Adalbert«[262]


Der vornehme Herr übertrieb in seiner Schilderung durchaus nicht. Die Lage seiner Unterthanen war erbarmungswürdig, war es vorzugsweise durch Adalberts kalte und eiserne Consequenz. Wie immer, wo kluge Verderbtheit und kühler Verstand herrschen, der minder begabte gutmüthige Mensch sich gutwillig gängeln läßt, so verstand auch Adrian die Schwächen derer zu mißbrauchen, die zum Wohlthun ihr Leben anwenden sollten. Ohne daß die Kurzsichtigen es ahnten, trugen sie zur Vermehrung der Unwissenheit bei, welche in der Masse des Volkes herrschte, und leisteten willenlos und unabsichtlich dem Elende Vorschub, während sie des Paradies auf Erden auszubreiten glaubten.

Ein treues Bild der allgemeinen Noth, die bei Adalberts Unterthanen eingerissen war und an deren entsetzlichen Ausbrüchen sein Auge sich weidete, gewährte der Hausstand unsers alten Bekannten Leberecht. Der Mangel hatte ihn vor Weihnachten in die traurige Nothwendigkeit[263] versetzt, sein Haus verkaufen zu müssen. Er bot es anfangs einer Menge Bekannten an, allein diese waren theils fast in derselben Lage, theils besaßen sie auch nicht so viel, um selbst einen billigen Kauf eingehen zu können. Und Leberecht brauchte Geld, Geld um jeden Preis!

So blieb ihm zuletzt nichts übrig, als sein Haus an Adalbert selbst für einen Spottpreis abzutreten, unter der Bedingung, es bis zu seinem Tode ungestört bewohnen zu dürfen und ein paar Äcker in Pacht zu erhalten.

Nun saß der arme bejahrte Mann, der sich sein ganzes Leben lang geplagt hatte, um sich ein paar Thaler auf seine alten Tage zusammen zu sparen, verlassen da, und mußte wieder anfangen, für kargen Lohn Tagarbeiterdienste zu thun! Mit Dreschflegel und Schüttegabel auf der Schulter ging er alle Morgen vor Sonnenaufgang eine volle halbe Stunde über Feld, oft[264] in schauerlichem Stöberwetter, oder bei einem Kältegrade, der das Blut in den Adern gerinnen machte, um in zugiger Scheune mit leerem Magen bis in die sinkende Nacht hinein zu dreschen! Und für so schwere Arbeit ward noch dazu kein Pfennig Geld verabreicht! Die Arbeiter erhielten Korn, je nach dem Belieben des Herrn bald aller acht, bald auch aller vierzehn Tage! In dieses Korn, das für ein ausgegedroschenes Schock aus einem Viertelscheffel dresdner Maß bestand, hatten sich sämmtliche Drescher zu theilen. Kamen nun auf Leberecht einige Metzen, so mußte er sich diesen schwer verdienten Lohn nicht nur selbst den weiten Weg bei Nacht und Sturm nach Hause tragen, er hatte auch außerdem noch die Mühe, entweder das Getreide in Geld zu verwandeln, oder es mahlen zu lassen, um das tägliche Brod davon zu gewinnen. Hatte er nicht Zeit oder konnte er die Nächte nicht opfern, um in die Mühle zu wandern und es selbst aufzuschütten, so zog auch der Müller noch sein bescheiden oder unbescheiden Theil ab, und was zu guter Letzt übrigblieb, glich nur noch einem Almosen!

Maria und Eduard, ihr Sohn, führten[265] kein beneidenswertheres Leben. Sie schafften von früh vier Uhr bis häufig nach Mitternacht hinter ihren Webstühlen und mußten in dieser Zeit mehr als sechzigtausendmal die Trittbreter niedertreten, um ihren täglichen Arbeitsziel zu fertigen! Aus Sparsamkeit brannten sie nur eine einzige Lampe, die zwischen beiden Stühlen in der Mitte hing und ihren trüben Lichtschein gar spärlich auf die graublauen Köper fallen ließ, die Mutter und Sohn webten. Nur langer Gewohnheit war es möglich, bei dieser unvollkommenen Beleuchtung jeden zerrissenen Faden im dunkeln Gewebe sogleich zu entdecken und wieder auszuknüpfen; die Augen der unermüdlich fleißigen Weber aber litten darunter. Sie fingen an zu brennen, entzündeten sich später, wozu am Tage noch der blendend weiße Schnee beitrug auf dem die Sonne funkelte, und wurden, namentlich bei Marieen, immer röther und trüber. Schon zu Weihnachten vermochte sie kaum noch das Gewebe zu erkennen, sie mußte sich ganz auf ihr Gefühl verlassen. Schlichten konnte sie gar nicht mehr, weil sie dabei den etwa reissenden Faden nicht bemerkt und beim Fortarbeiten das ganze Gewebe verdorben haben würde.[266]

Leberecht und Eduard redeten der armen Frau wiederholt zu, sie solle sich eine Zeit lang schonen, sich ausruhen und pflegen und einen Arzt befragen, Marie aber achtete nicht auf ihre Bitten. Sie kannte den Mangel, die Noth am besten und sah wohl voraus, daß zwei feiernde Hände diese zu einem Grade vermehren würden, aus dem Rettung nicht mehr denkbar sei. Darum arbeitete sie unverdrossen Tag und Nacht fort, ohne zu murren, noch zu klagen! Ein frisches Krautblatt, das sie unter ihr Kopftuch band, so daß es kühlend über das Auge herabhing, war die einzige einfache Medicin, der sie sich bediente.

Oft beschlich die beiden rastlosen Weber der Schlaf. Konnten sie sich gar nicht mehr retten, so gestattete sich Mutter und Sohn abwechselnd einen kurzen viertelstündlichen Schlummer, damit sie der Mattigkeit nicht zu lange oder wohl gar die ganze Nacht erlagen. Traf nun Eduard die Reihe des Wachens, so strengte er alle seine Kräfte an, um durch schnelleres Arbeiten wo möglich den Verlust an Zeit wieder einigermaßen auszugleichen. Oder er stand wohl auch auf, wenn er die Mutter fest schlafend[267] wußte, schlich sich an ihren Webstuhl, hinter dem die sehr gealterte, abgemagerte Frau nickend saß, die Arme frostig über die Brust verschlungen, und träufelte behutsam ein wohlthuendes Augenwasser auf ihre Lider, das er sich zu verschaffen gewußt und von dem er sich viel versprach, da es nicht allein ihm selbst gute Dienste geleistet, sondern auch Marieen einige Linderung brachte, seit er es ihr heimlich im Schlafe auf die entzündeten Lider goß.

Schade, daß Adalberts Dollond nicht bis in diese Hütte darbender und arbeitender Armuth dringen konnte! Vielleicht hätte eine einzige Nacht, inmitten dieses zärtlichen Sohnes und dieser schlummernden Mutter verlebt, ihm sein Vergnügen an jenen Genrebildern vergällt, die er über Alles liebte! Aber Adalbert sah nur die Noth vom Licht der Sonne vergoldet, und diese verliert an Schauerlichkeit, an erschütternder Kraft gegen jene bleichen kalten Nachtgemälde gehalten, die im Silberrahmen des Mondlichtes geisterhaft glänzen! –

Der starke Schneefall und die häufigen anhaltenden Stürme, welche gegen Ende November, namentlich im Gebirge, sich einstellten, erschwerten[268] die Communication zwischen entfernt liegengenden Ortschaften so sehr, daß Wochen vergingen, bevor aus weiterer Ferne Nachrichten einliefen. Unsere Freunde auf dem Zeiselhofe unterrichteten Leberecht und seine Familie von dem, was ihnen in Bezug auf die Bobersteinische Angelegenheit zu wissen nöthig war, durch die wöchentlichen Boten, die zwischen den einzelnen Dörfern hin und wieder gehen. Dadurch blieben die Abgeschiedenen ziemlich im Zusammenhange. Nur während des ganzen Decembers und auch in der ersten Hälfte des Januars trat eine Unterbrechung ein, so daß Leberecht seit mehr als fünf Wochen nichts mehr von Sloboda und dem Maulwurffänger gehört hatte. Die eigene Noth im Hause, die schwere und gefahrdrohende Augenkrankheit Marieens ließ den sorgenvollen Mann auch wirklich eine Zeit lang den schwebenden Prozeß vergessen oder doch mehr und mehr im Hintergrund seiner Erinnerung verschwinden.

Da kam Leberecht eines Abends – es war am Tage vor Pauli Bekehrung – in großer Aufregung nach Hause. In der Hast des Eintretens hätte er beinahe Marie umgerannt,[269] deren Augen so schlimm geworden waren, daß sie kein Licht mehr vertragen konnte, ohne vor Schmerz laut aufzuschreien, und die nun mit festverbundenem Kopf tappend in der kleinen engen Stube umherschlich.

»Weißt Du's, Maria, und Du, Eduard, was in der Haide passirt ist?«

Eduard hielt die Lade an und legte das kreuzförmige Schnellholz, woran das Weberschiffchen mittelst Bindfaden befestigt ist, auf die Werfte.

»Ich bin nicht hinter'm Stuhle vorgekommen, Vater, und an's Fenster hat auch kein Nachbar gepocht – woher soll' ich 'was Neues erfahren haben?«

»Was gibt's denn?« fragte Marie, auf der Ofenbank Platz nehmend und den schmerzenden Kopf in beide Hände nehmend.

»Paul Sloboda hat seine Schwester gefunden!« sagte Leberecht. »Die ganze Haide ist lebendig geworden von dem Aufruf, denn es hat in den Blättern gestanden! Die Advocaten, heißt's, sollen vor dem blauäugigen Jungen die Mützen ziehen bis an die Erde, denn es ist ausgemacht, daß er nun Graf wird und die Schwester[270] Gräfin, und daß sie allesammt, der alte Jan nicht ausgenommen, in prächtigen Palästen wohnen werden.«

»Wenn's nur Grund hat, Vater!« warf Eduard ein. »Der Lügenkrämer laufen heut' zu Tage gar zu viele herum, und nachher hat's wieder Menschen, die sich eine Lust draus machen, ehrliche Leute anzuführen.«

»Warum wird's nicht!« erwiederte etwas ärgerlich Leberecht. »Der erste Bote hat die Nachricht von Pink-Heinrich selber, und der weiß, was er red't, sonst macht er lieber die Zähne nicht auseinander. Wir aber, Marie, Eduard, wir wollen Gott danken, daß es dahin gekommen ist, denn nun gehen wir gewiß und wahrhaftig besseren Zeiten entgegen!«

»Wer's erlebt!« seufzte Marie, den schmerzenden Kopf immer in leise schwingender Bewegung haltend.

»Nur nicht verzagt!« ermahnte Leberecht die Kranke. »Es ist mit der Noth wie mit Zahnschmerzen. Auf einmal, wenn's recht entsetzlich gezogen und gestochen hat, hört's von selber auf und man fühlt sich wie neu belebt. So wird's uns gehen, gebt acht! Das Elend hat sein[271] Thun aus, wie wir sagen, und kein Unglück kann uns mehr 'was anhaben. Schon die bloße Nachricht hat mich neu gestärkt und frisch belebt, und da Morgen Pauli Bekehrung ist und unser katholischer Herr da nicht dreschen läßt, will ich mich flugs aufmachen und ein paar Stunden weit laufen, um genauere Kundschaft einzuziehen.«

»O Jesus Christus!« wimmerte Marie.

»Was hast Du, Mutter?« fragte Leberecht und setzte sich neben sie, behutsam seinen Arm um die vor Schmerz Zitternde legend.

»Mir ist's, als sollten mir die Augen aus dem Kopfe springen! Nimm mir das Tuch ab – es brennt mich wie glühende Kohlen.«

Leberecht entfernte die Binde und nahm die brennend heißen Leinwandflecken von den entzündeten Augen. Marie preßte die Lider fest zusammen, erst nach einiger Zeit versuchte sie aufzublicken.

»Noch im Finstern?« sagte sie verwundert. »Ich dächte doch, Eduard hätte gewirkt und sich zuvor Feuer angeschlagen.«

»Die Lampe brennt, Mutter!«

»Wo denn?«[272]

»Mein Gott, keine drei Schritte von Dir! Das Tuch hat Dich gedrückt.«

»Blinzle ein paar Mal,« sagte Leberecht, »das wird helfen.«

Marie drückte die schmerzenden Augen wieder fest zu und blickte dann mit weit aufgerissenen Lidern um sich.

»Nicht wahr, nun ist's besser, arme Taube?«

»Es ist noch immer finster.«

»Die Lampe, Eduard! Geschwind die Lampe!«

Der erschrockene Sohn sprang mit dem helllohenden Docht heran. Leberecht riß sie ihm aus der Hand und hielt sie dicht vor Marien's Augen. Sie waren ganz trocken und ein dicker grauer Schleier überzog die Pupillen.

»Siehst Du jetzt?«

»Nacht, nichts als Nacht!«

»Barmherziger Gott!« schrie Leberecht und ließ die Lampe fallen, daß der brennende Docht einige Garnflocken erfaßte, die Funken glimmend über die Stube his unter die Webstühle liefen und in wenigen Augenblicken die Werften in helle Flammen setzten.

»Also blind!« jammerte Marie. »Blind[273] geworden von der nächtlichen Arbeit, bei der wir doch fast verhungert sind.«

»Feuer! Die Stühle brennen!« schrie Eduard, der die aufschlagenden Flammen zuerst gewahrte. In der Angst stürzte er sich mit Ungestüm auf die Gewebe, schlug mit beiden Händen in die Flammen, um sie zu dämpfen, verschaffte ihnen aber dadurch nur noch mehr Nahrung. Er fühlte nicht, daß er sich furchtbar verbrannte, daß ihm die Haare auf dem Kopfe absengten und die leckende Flamme schon durch die Fensterritze an den Wänden hinaufschlug.

»Es ist keine Rettung,« sprach Leberecht in verzweifelter Ruhe. »Laß brennen, was mag! Komm, hilf uns die blinde Mutter retten!«

Eduard vermochte aber vor Schmerz keine Hand mehr zu rühren. Er stieß nur die Thür auf, um den Vater mit der theuern Last hinaus zu lassen. Dann stürzte er nach in's Freie und warf sich heulend in den kalten flimmernden Schnee.

Die Glocken stürmten, die Nachbarn eilten zum Löschen herbei, aber Niemand, Niemand gedachte im Moment der Bestürzung der Unglücklichen! Auf der Schwelle des Nachbarhauses[274] saß Leberecht und starrte in die Flammen seines gewesenen Hauses. Auf seinem Schooße hielt er die erblindete Marie, die mit den entzündeten trüben Sternen in die kalte Nacht lautlos hineinstierte. Zu ihren Füßen krümmte sich Eduard in wildem Schmerz, die verbrannten Hände in seinen Thränen badend.

Quelle:
Ernst Willkomm: Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes. Theile 1–5, Leipzig 1845, S. 248-275.
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