Sieg der Liebe

[267] Der Abend verging, ohne daß Walther sich Nanny zu nähern wagte; aber als der fröhliche Kreis sich trennte, und jeder Walthern seinen herzlichen Abschiedsgruß mit auf die Reise gegeben, eilte dieser still davon, und wartete an dem kleinen Pfad, der zu Nannys Hause führte.

Die ganze Familie gieng in dem Dämmerschein des Mondes, der von Wolken umhüllt war,[267] an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Nanny folgte allein, mit schweren Schritten klimmte sie mühsam den Felsenpfad hinab. Walther trat herzu und bot ihr seine Hand. Beide schwiegen und bebten im Schauer der heiligen Nacht. Der Mond trat eben aus dem Gewölk hervor, und einzelne Sterne flammten hell aus dem tieferen Blau des Himmels, als sie auf das Brückchen kamen. Ueber dem brausenden Strom standen sie zögernd.

Nanny, sagte Walther, ich scheide von dir; aber mein ganzes Herz bleibt bei dir. Kann ich hoffen, daß du es treu verwahren wirst, mein gedenken? – Nanny weinte heftig. Liebste, warum weinst du? sagte er sanft, indem sich sein Haupt auf ihren Arm senkte.

Sie hatte sich gesammlet. Hoch und edel trat sie zurück; seine Hand zwischen ihre beide Hände fassend, sagte sie: Walther, ich läugne es nicht, die Freude meines Lebens flieht mit dir, dein Andenken wird mir heilig seyn. Jetzt[268] nichts mehr, ich bitte. Laß mich im unzerstreuten Gemüth den Muth sammeln, dich zu verlieren. – Verlieren! rief Walther, das verhüte Gott! Nimm mich auf in dein heiliges Herz! Gieb mir die Hoffnung, einst ganz mein zu werden! – Sein Arm umschloß die geliebte Gestalt, und Nanny flüsterte leise an seiner Wange: Das bin ich schon. Aber kann es dich glücklich machen? Ihre Augen kehrten sich zu den Sternen, die heiligen großen Berge stiegen empor im endlosen blauen Aether, der Mondenschimmer umkleidete ihre Riesenformen. Das Leben der Bergströme tönte durch die heilige Nacht, und die Hütten, an die rauhen Felsenwände neschmiegt, huben ihr moosigtes Steindach aus dem Schatten der Thäler. Die einfache, kräftige, hohe, sich selbstgenügende Naturwelt sprach an ihr ganzes Wesen, und die Liebenden reichten sich die Hände zum vereinten Leben. Ihre Liebe war der Einklang ihrer schönsten und höchsten Kräfte, sie fühlten alle ihre Fähigkeiten im unermeßlichen Wachsthum, fähig alle Sorgen[269] und Mühen des Lebens zu überwinden oder zu ertragen.

Quelle:
Caroline von Wolzogen: Erzählungen. 2 Bände, Band 1, Stuttgart und Tübingen 1826, S. 267-270.
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