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[163] Unser neuer Freund, den man den Pater Philipp nennt, hat eine so herzliche Zuneigung zu Ottomar gefaßt, er fühlt seinen Werth so tief, daß er mein ganzes Herz für sich gewinnt. Nicht zudringend mit seiner Lehre, verläugnet er dennoch[163] keinen Augenblick seine Ueberzeugung. Er fühlt, daß ich dem Gespräch folgen kann, da ich durch des Vaters Unterricht mit Manchem bekannt bin, und richtet sich oft an mich, den Ausspruch meines offnen reinen Herzens zu vernehmen, wie er es mit vorgefaßter Neigung mir beimißt. Er liest uns die Schriften des Gewaltigen, der der Welt eine neue Richtung zu geben strebt, und vieles rührt mich tief. Ich bin sehr schüchtern, vor Ottomar meine Meinung auszusprechen, aber ohne Worte liest er sie in meiner Seele.

Heut las uns der Pater die Schrift an die empörten Bauern – mit welchem Unrecht zeiht man Luther den Aufruhr zu begünstigen! Auch in Ottomars Sinn ist diese Schrift, auch er wünscht Abstellung unnützer Bedrückung; sein edler Sinn will nur Freiheit in der Gerechtigkeit und Liebe. Dabei biete ich Eurem Meister vertraulich die Hand, guter Pater, sagte Ottomar. Nicht allein in diesem, edler Herr, erwiederte der Pater, ihr werdet es in mehrerm noch thun. Sprachen wir nicht gestern von unmenschlichem Zwang ewiger[164] Gelübde, mit denen die Kirche in spätern Zeiten das arme Leben des Menschen belastet, von dem die ersten Stifter, im reinen Verstehen der göttlichen Schriften, schwiegen?

Eine zarte Röthe flog über Ottomars Gesicht, ich schlug die Augen nieder, und der Pater, errathend, daß er eine zu zarte Saite berührt hatte, gieng mit feiner Wendung in Allgemeines über. Die goldne Brücke der Dichtkunst führt am schönsten aus den engen Lebensverhältnissen hinaus.

Er erbot sich mir aus den Griechischen Tragikern zu verdeutschen, und bald fühlten wir uns in die hohe wahre Natur dieser Dichtung hineingezogen.

O wie schön ist ein vereintes Empfinden mit dem Geliebten der Seele in den Meisterwerken der Kunst!

Höhere Gestalten umfangen uns; wie in reiner lichter Aetherluft schweben die Gemüther vereint in seliger Eintracht.

Wir hatten Ottomars Lager an das kleine[165] Fenster gerückt, so daß er auf die grünen Wogen des schönen Stroms schauen konnte, und in die lieblich ernsten Gebirge der entgegen liegenden Ufer. Der röthliche Schimmer des Abends umglühte sein Antlitz, sein Auge suchte das meine immerwährend, es leuchtete Ruhe und Liebe – Wie glücklich war ich! Ich dachte nicht über die Gegenwart hinaus, die Vergangenheit lag hinter mir mit einem Lichtstreif seiner Liebe erhellt, in der Zukunft gieng sie als ein lichter Stern mir wieder auf. Denken wir uns nicht die Seligkeit, die Ewigkeit als ein Entrücken der Zeit, als ein Meer der Liebe, das uns aufnehmen wird?

Quelle:
Caroline von Wolzogen: Erzählungen. 2 Bände, Band 2, Stuttgart und Tübingen 1826, S. 163-166.
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