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[169] Welch süße Freude gewährt es, einen geliebten Genesenden das Leben aufs neue umfassen zu sehen! Vor jeder Blume, die ihn erfreut, vor jedem warmen Sonnenstrahl, vor jedem sanften Westhauch, der die matte Brust anweht, möcht ich dankbar niederknieen.

Heut führten wir ihn zuerst in den kleinen Garten. Die Mutter, unser Freund Philipp und ich unterstützten ihn. Nach dem ersten Blick des Dankes gen Himmel, fiel der zweite auf mich, freudig strahlend, als wär' ich ihm auch mit dem neuen Leben geschenkt.

So ists auch, Vertha, denn so innig ich ihn auch liebte, so fühl' ich doch tausend neue Bande zwischen uns, aus dem verirrten Leben gewebt. Es ist, als gehörte er mir, als gehörte[169] ich mir selbst mehr an, wie thöricht dieß auch klingen mag, seit ich so ganz nur für ihn leben gelernt in den einfachsten Verhältnissen der Natur.

Trösten, Leiden mildern, pflegen, ist ja unser Beruf. Welche Seligkeit lag darin, diesen für Ottomar zu erfüllen! Jedem Leidenden soll ein Abglanz dieser Seligkeit in erhöhterem Eifer in mir werden, wenn – vermag ich's, die Trennung von ihm zu denken? – und doch naht sie fürchterlich. Vergieb mir den Wunsch, daß der letzte Pulsschlag sie begleiten möchte; hinter ihr liegt nur eine dunkle Wolke.

Er wird zum Bundesheer stoßen, sobald seine wiederkehrenden Kräfte es erlauben – und ich?

Laß mich noch Alles vergessen, Nichts denken beim Aufgehen der Sonne, als daß ich für ihn heut leben werde, und Abends aufschauen dankend nach allen Himmelsgestirnen, daß ich für ihn gelebt habe.[170]

Quelle:
Caroline von Wolzogen: Erzählungen. 2 Bände, Band 2, Stuttgart und Tübingen 1826, S. 169-171.
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