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[214] Ich gieng mit der Mutter Abends nach der Straße, auf der uns die Nachrichten zukommen. Noch hatten wir keine eigenhändige Zeile des Vaters empfangen; sehnlich harrten wir diesen entgegen. Eine Staubwolke verkündete uns herannahende Reiter; fröhlich hoffend begegneten[214] sich unsre Blicke; noch wagten wir nicht unser Herz auszusprechen.

Jetzt sahen wir die Reiter deutlich im Lichtgrund des Abendhimmels, und erkannten bald die geliebte Gestalt des Vaters.

Die überraschende Freude nahm der Mutter Kraft und Odem; ich mußte sie unter einen Baum niedersitzen lassen, und in wenig Momenten lag der Vater in unsern Armen.

Noch eine Gestalt suchte mein Blick; der Vater fühlte es, und überreichte mir ein Brieflein von Ottomar.

Es enthielt wenig Worte der innigsten Zärtlichkeit und die Nachricht, daß er sogleich die Reise nach Rom antrete.

Er lebt unter uns, sein Bild steht in dem Herzen des Vaters, wie in dem meinen. Sein Edelmuth, seine Tapferkeit, die ganze Herrlichkeit seines Wesens, sind der Gegenstand unsrer immerwährenden Gespräche.

Nach dem errungenen Sieg hat er mit Kraft und Milde für die unglücklich Verirrten gesprochen,[215] Schonung und Versöhnung gepredigt wie ein Engel des Friedens, der Erbarmung.

Der Bischof hat Ottomar einen Eilboten nachgesandt; er will ihn noch vor der Reise sehen, vieles mit ihm besprechen.

Unser Freund Philipp kam auch, unsre Freude zu theilen. Er wird geliebt, verehrt von der Mutter, und dem Bischof selbst, wegen seiner Treue an Ottomar, ob sie gleich über viel Wesentliches mit ihm uneinig sind. Gute Menschen umschlingt immer ein gemeinsames Band; die reine Himmelsluft der Liebe und sanften Menschlichkeit, siegt über alle Gewölke, aus Spaltung der Meinungen erzeugt.

Der Vater hat viel Gespräche mit dem Bischof; nachdenklich, aber immer mit dem vollkommenen Ausdruck gegenseitiger Achtung und Freundschaft, kehren sie zu uns zurück. Ich werde Ottomar wiedersehen, Bertha! In der Gegenwart des Geliebten liegt ja aller Zauber des Lebens![216]

Quelle:
Caroline von Wolzogen: Erzählungen. 2 Bände, Band 2, Stuttgart und Tübingen 1826, S. 214-217.
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