An meine Kinder

Für Euch, meine Kinder, entriß ich diese Blätter dem Strome der Vergangenheit! Ich habe die Blüthenzeit meines Lebens noch einmahl durchlebt, während ich sie schrieb. Die Natur gab mir jenen wohlthätigen Schleier, der den Bildern der Vergangenheit ihren lebendigen Zauber bewahrt, und mit ihm tausendfachen Genuß und reicheres Leben.

Die klare Ansicht einer fremden Existenz ist nie ganz ohne Wirkung[3] auf unsre eigne. Was ich bin, oder was ich zu seyn wähne, und unter welchem freundlichen Einfluß des Schicksals ich es wurde, – sollen Euch diese Blätter zeigen.

Alle Kunstforderungen müßt Ihr hier aufgeben. Nur die Erinnerung bewegte meinen bildenden Sinn, und die Geister der Vergangenheit erschienen wie Ossians Geister auf flüchtigen Wolkengestalten.

Wie sanft ist der Übergang aus der jugendlichen Täuschung zur Wahrheit des Lebens, wenn selbst der Besitz des höchsten Gutes, welches wir wünschten, uns in den Kreis der Wirklichkeit zurückführt! Es bleibt nichts unbefriedigtes in unsrer Seele, und das stille Geschäft einer höheren[4] Bildung nimmt seinen ununterbrochnen Fortgang, ohne von den beunruhigenden Träumen eines ungestillten Verlangens gestöhrt zu werden.

Die Verbindung zweyer liebenden Seelen löst das sonderbare Räthsel unsrer Existenz, im Gefühl einer ewigen Befriedigung und eines ewigen Strebens nach etwas Unerreichbarem.

Euer holdes Daseyn gab unserm Leben die schönste würdigste Bedeutung. Eure klaren Augen, in denen die Welt sich von so einfachen Seiten spiegelte, Euer kindisches Begehren und Streben – führte uns sanft in die Unschuldswelt zurück, erhielt den zärtesten Bildern unsres Gemüths ihre frischen Farben, und klärte die[5] Quellen des heiligsten innren Lebens auf. Als Ihr denken und wollen lerntet, sah ich mit Entzücken, daß das schöne Verhältniß der Gemüthskräfte Euch wie die Gestalt Eures Vaters angebildet wurde.

Den Kreis von Freunden, der sich um uns versammelte, vermochte keine Laune des Schicksals zu zerstreuen. Im Drang der Verhältnisse hatten sich die edlen Naturen erprobt und bewährt erfunden.

Kindliches Vertrauen verband alle Herzen, Muth und Weisheit vereinte sie zu edlem Wirken, Geist und Grazie webte das Band des Umgangs.

Eure verehrten Großeltern lebten ein glückliches Alter.

Mein Pflegevater wiegte Euch[6] noch auf seinen Knieen. Mit freudestrahlendem Blick sah er in meinem ältesten Sohn den künftigen Herrn seines geliebten Dörfchens. Die stille Wirkung dieses edlen Geistes blieb unter uns ewig lebendig, sein Glaube glühte in unserm Herzen.

Die Obergewalt der Güte in der Natur zu fühlen, wie er, das war die Quelle und die Wirkung unsres Glücks.

Die Ruhe, die sich unter die blinde Nothwendigkeit beugt, tödtet die schönsten Blüthen unsers Wesens, sie erzeugt nur das kräftige Selbstgefühl eines Athleten; – aber die Stille der Seele, die ihr eignes Glück wieder in der Natur auszuathmen strebt, die liebliche Fülle der Freyheit und Schönheit,[7] die Wohlthätigkeit des ganzen Daseyns, bildet sich nur in einem Gemüth, dem die Nothwendigkeit als höchste Güte erscheint.

Über der Wiege meines ersten Kindes gelobte mir Julius auch Vater zu werden, und in dem ersten reinsten Naturverhältniß alles liebende Vermögen seines reichen Herzens zu beschäftigen.

Bettina hatte sich schön ausgebildet unter den Augen der Gräfin und ihres Vaters. Ihr Geist, ihr Talent war bezaubernd.

Sie scherzte selbst mit mir in Nordheims Gegenwart über ihren ersten Jugendtraum; ich hielt sie für ganz geheilt.

Bald fühlte ich, daß sie Julius[8] in einem neuen Lichte wahrnahm. Leidenschaftliche Liebe, Neigung ohne Grenzen war die Natur des Mädchens, und Julius nahm sie mit dem zärtesten Herzen auf. Er selbst schien sich mehr hinzugeben, als sie lebhaft zu ergreifen, aber es war im höchsten feinsten Sinn; sie wurden ein glückliches Paar.

Die Gestalt des alternden Mütterchens macht einen sonderbaren Kontrast mit der glühenden Leidenschaft die in diesen Blättern athmet. Die Zeit macht von selbst unser Leben zu einem vollendeten Gemählde, in dem jede Farbe der allgemeinen Harmonie untergeordnet ist. Nur wenn ein irrer Wille dem stillen Naturgang widerstrebt, entstehen grelle Töne.[9]

Euer Vater lächelte bey manchem Zug dieser Geschichte, und freute sich unter dem ergrauenden Scheitel, das freundliche Leben der Jugend noch einmahl aufglühen zu sehen.

Wir freuten uns dessen, was wir gewesen sind und noch sind. Die Form ist unverändert geblieben. Wir gehen dann in den großen Saal, und sehen unsre Bilder an.

Die Vergangenheit umleuchtet uns als ein freundlicher Strahl, und wenn wir uns die Hände drücken, die sich durch eine Reihe von Jahren zu mildem Wirken vereinten, – dann fühlen wir nicht, daß uns die Jugend entflohen ist, sondern daß eine neue Jugend in uns aufblüht.

Quelle:
Caroline von Wolzogen: Agnes von Lilien. Theil 1–2, Band 1, Berlin 1798, S. 3.
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