1884. Witwen-Lied

[1804] Mel. Du wollest uns das creuz-geheimniß lehren.


1.

Du schlössest alles gern in deine wunden, und seligtest darin all unsre stunden.

2.

So viel noch aussen her herum vagiren, sie mögen fromm seyn oder resoniren;

3.

So denkt man immer, das wirds Lamm betrüben, ihr herze fühlt noch nicht das blutge lieben;

4.

Wann wird doch tugend, samt dem wissen allen, in die fünf offne wunden-brunnen fallen?

5.

Man habe, was man hat, es ist nichts gutes, wenns nicht ist aus der quelle dieses blutes.

6.

Wer wird denn nakt und bloß das kleid ergreiffen, das sich hernach im blut des Lamms läßt schweiffen?

7.

O Lämmlein, lust-spiel unsrer innren sinnen! hab aller unsrer witwen herzen innen.

8.

Dein Geist regier in ihrem witwen-hause in iedem winkelgen mit blut-gesause.

9.

Im alten bunde pflegt man dich zu preisen als mann[1804] und schutz der witwen und der wäisen;

10.

Im neuen kanst du keine weinen sehen, du liessest eh ein wunderwerk geschehen:

11.

Denn an dem creuze unter tausend schmerzen lag dir Marie die witwe noch am herzen.

12.

Beleb das witwen-chor mit blutes-kräften, und laß sie selig seyn in lichts-geschäfften.

13.

Sie sind mit-sünderlein im kirchen-sprengel; befiehl auch sie dem schutze deiner engel;

14.

Der pflege deines Geists; dem blut-gesauge; und deines Vaters kuß, du Witwen-auge!

Quelle:
Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften, Band 2, Hildesheim 1964, S. 1804-1805.
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