1904.

[1827] Mel. Du heiliges kind, etc.


1.

Hier lieget ein thier der wunden vor dir, und wünscht sich in schrein, ins loch der gespaltenen seite hinein.

2.

Das wäre mein plan,[1827] mein göttlicher mann! mit deiner Gemein im loche der seite vergraben zu seyn;

3.

Vergraben im blut mit sinnen und muth, verliebt und vergafft in deiner fünf wunden durchstrahlende kraft:

4.

Gerühret vom strahl der blutigen maal, und niemals gewandt von deiner mit nägeln durchbohreten hand:

5.

Im innersten grund vom blutigen bund gefühlig und warm, und doch niemals anders als elend und arm:

6.

Mit herzen und hand auf ewig verbannt, verwünschet ins Lamm, und in den mit blute geweyheten stamm:

7.

Erhangen vor schmerz ums blutige herz, und sonst keiner lust, als aus den fünf heiligen wunden, bewust:

8.

Mit weinen verliebt, und darum betrübt, daß ich meinen mann noch üben, und seiner seel wehe thun kan:

9.

Frey ohne gebot, und nicht mehr aus noth, ein sünder, und klein, geneigt in dem innern zum stäubelein seyn:

10.

Weich ieder gedank, der etwa noch hang zum alten erhält! vor dir bin ich ewiglich sicher gestellt:

11.

Zum tieffsten respect des salb-öls erwekt, das du mir vertraut, da du mich zu deinem gehäuse erbaut:

12.

Recht von der natur der blutgen tinctur vom plane belehrt, der für meine glieder als jüngling (jungfer, ehmann, ehweib, witwe, knäblein, mägdlein) gehört:

13.

Und dabey im fleisch so heilig und keusch, als wär ich das Lamm, das auch in die hütte der menschlichkeit kam:

14.

In deiner Gemein so fertig und fein, zu land oder see, als ein candidate der ewigen eh:

15.

In ieder minut ins heilige blut der wunden getaucht, und von deinem ewigen Geiste durchhaucht:

16.

So wünschte ich mir, mein Lämmlein! vor dir noch heute zu stehn, und dir unverwandt auf das herze zu sehn.

17.

Du hast mich einmal aus ewiger wahl zum volke gebracht, das du dir zum lustspiel auf erden gemacht:

18.

Du nahmest mich ein in deine Gemein; der sünder ihr loos das fiel mir mit all seinem glük in den schoos.

19.

Gedenk ich daran, mein ewiger mann, wie ich dich geübt, und wie ich dich schon seit der stunde betrübt;

20.

So bleib ich in schuld,[1828] und deine gedult, die vor mir erscheint, macht, daß sich mein herze recht vor dir zerweint.

21.

Noch bringet mir schmerz und freude ins herz, wenn ich es betracht, daß du mich zum mahl deines fleisches gebracht.

22.

Da leibtest du mich, mein Lämmlein! in dich, in seligen schrein des leibs der mit blute durchgangnen Gemein.

23.

Die göttliche flamm und menschliche scham, die ich da empfand, die bringet mein herze noch immer in brand.

24.

Nur wäre ich gern vom blutigen stern beständig durchstrahlt, und hätt dich mir immer vor augen gemahlt.

25.

Ich liebe dich zwar, doch lange nicht gar; bin nicht so entbrennt, daß ich mit mir selber zufrieden seyn könt.

26.

Wie Petrus geliebt, da er dich betrübt, und thränen gezollt, die über die wangen so sanfte gerollt:

27.

Wie Thomas gethränt, da er sich gesehnt, die wunden zu sehn, und in die geöffnete seite zu gehn:

28.

Und was für ein glük Maria beym blik des Lammes genoß, da sie die durchgrabene füsse umschloß:

29.

So wünschte ich mir beständig von dir den innigen kuß und nie unterbrochenen wunden-genuß.

30.

Es ist mir doch so, eh bin ich nicht froh, als wenn ich die füß und ihre geheiligte narben umschließ.

31.

Johannes im schoos, das wäre mein loos, ans liegen im schrein der heiligen seite verwehnet zu seyn.

32.

Ich bleibe vor dir ein sündiges thier, dein schächer, dein staub, ein lohn deiner schmerzen, dein ewiger raub.

Quelle:
Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften, Band 2, Hildesheim 1964, S. 1827-1829.
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