1964.

[1876] Mel. Du heiliges kind!


1.

Du blutiges Haupt! wenns sündern erlaubt, mit freuden zu sehn, wie schön dir die ritzen vom dornen-strauch stehn;

2.

Wie lieblich der glanz, wie schimmernd der kranz, der uns noch anitzt im innersten grunde des herzens durchritzt;

3.

So laß uns zum glük den blutigen blik sich itzo verneun, da wir uns der seligen gnadenwahl freun.

4.

Was waren wir doch? Wir gingen im joch der sünden gespannt, und waren zum sünde-thun schmählich verbannt.

5.

Wir kanten kein Lamm, viel wenger die flamm, dies herze durchglüht wenn man das gemarterte Lämmelein sieht.

6.

Es fiel uns nicht ein, des Lammes zu seyn, und da fingst du an uns innig zu lieben, du blutiger mann!

7.

Du tratest uns nah; wir sahen dich da in der positur, als dir dort am creuze der athen entfuhr.

8.

Das griff uns ins herz; dein blutiger schmerz drang in uns hinein, und machte zerschmolzene maden aus stein.

9.

So rieff uns dein mund zum seligen bund, in deiner Gemein recht selige Seminaristen zu seyn.

10.

Nun wären wir gern dem leidenden Herrn zur ehre und zier in seinem bebluteten creuzes-revier.

11.

Wir fühlen es ja, du bist uns so nah nach menschlicher art, als nie kein geschöpfe dem anderen ward.

12.

Und du bist monarch der göttlichen arch, und hast uns getraut; wir fühlen, wir stehen im reyhen der braut.

13.

Du hast uns umarmt und lieblich erwarmt; wir sinds uns bewußt, daß du uns als kinder gesetzt an die brust.

14.

Und über dem blik so ist uns das glük und gnade geschehn, Lamm! deinen Gott, unsern Herrn Vater, zu sehn.

15.

Wir habens erkant, ihn Vater genant; wir haben gespürt, daß er unsre trauung mit dir celebrirt.

16.

Drum weint' unser herz vor freude und schmerz, die hütte erstarrt', wenn diese betrachtung zu lebendig ward.

17.

Vergönne uns nur, weil[1876] unsre natur noch nicht vollbereit, den gläubigen blik in die offene seit.

Quelle:
Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften, Band 2, Hildesheim 1964, S. 1876-1877.
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