Drittes Kapitel

[176] Um die Mitte des August zog Etienne zu den Maheu, nachdem Zacharias, der inzwischen geheiratet, für Philomene und seine zwei Kinder ein leer gewordenes Haus von der Gesellschaft bekommen hatte. In der ersten Zeit fühlte sich der junge Mann Katharina gegenüber einigermaßen verlegen. Es war ein fortwährendes Beisammenleben; der junge Mann ersetzte in allen Stücken den älteren Bruder, teilte das Bett Johannes', dem Bett der erwachsenen Schwester gegenüber. Sie schaute ihn nicht an, beeilte sich indessen, war in zehn Sekunden entkleidet und hatte sich neben Alzire ausgestreckt. Dies geschah mit der Geschmeidigkeit einer Eidechse, so daß er kaum seine Schuhe ausgezogen hatte, wenn sie im Bett verschwand, ihm den Rücken kehrte und nichts als ihren dicken Haarknoten zeigte.

Sie hatte übrigens niemals Ursache, böse zu werden. Obgleich er unwillkürlich, gewissermaßen in der Gewalt eines Bannes, auf den Augenblick zu warten schien, wenn sie zu Bett ging, vermied er doch alle[176] Scherze. Die Eltern waren da, und überdies bewahrte er für sie ein Gefühl aus Freundschaft und Groll gemengt, das ihn hinderte, sie wie eine Dirne zu behandeln, nach der man Verlangen trägt in der Ungezwungenheit des gemeinsamen Lebens, bei der Toilette, bei den Mahlzeiten, während der Arbeit.

Nach Verlauf eines Monats schienen Etienne und Katharina einander nicht zu sehen, wenn sie, bevor die Kerze ausgelöscht wurde, im Zimmer hin und her gingen. Sie beeilte sich jetzt nicht mehr, nahm vielmehr ihre frühere Gewohnheit wieder auf, am Bettrande sitzend ihre Haare aufzustecken, die nackten Arme in der Luft. Die Gewohnheit tötete das Schamgefühl; sie fanden es natürlich, so zu sein, da sie doch nichts Übles taten und es nicht ihre Schuld war, wenn für so viele Leute nur eine Stube da war. Indes gerieten sie zuweilen plötzlich in Verlegenheit in Augenblicken, wo sie an nichts Sträfliches dachten. Wenn er viele Abende nicht mehr die Blässe ihres Körpers erblickt hatte, sah er sie plötzlich wieder so weiß, daß er erschauerte und genötigt war sich abzuwenden, weil er fürchtete, daß er der Versuchung erliegen könne, die Hände auszustrecken und sie zu ergreifen. Sie wieder wurde an manchen Abenden ohne ersichtliche Ursache von einer Regung der Züchtigkeit ergriffen, flüchtete unter die Bettdecke, als fühle sie die Hände des Burschen. Wenn dann die Kerze ausgelöscht war, merkten sie, daß sie nicht einschliefen, daß sie trotz ihrer Ermüdung aneinander dachten. Darüber waren sie am folgenden Tage unruhig und schweigsam; sie zogen die Abende vor, an denen es keine Aufregung gab und sie es sich voreinander ganz ruhig bequem machten.

Etienne hatte sich nur über Johannes zu beklagen, der einen unruhigen Schlaf hatte; Alzire atmete leicht und kaum hörbar; Leonore und Heinrich fand man des Morgens einander in den Armen liegend, wie man sie des Abends zu Bett gebracht hatte. In dem in Finsternis gehüllten Hause war kein anderes Geräusch hörbar als[177] das Schnarchen der Eheleute Maheu, das in regelmäßigen Zwischenräumen erscholl wie ein Blasebalg. Alles in allem fühlte sich Etienne da wohler als bei Rasseneur; das Bett war nicht schlecht, und die Bettwäsche wurde monatlich einmal gewechselt. Er aß auch eine bessere Suppe und litt nur darunter, daß selten Fleisch auf den Tisch kam. Allein die anderen lebten auch nicht besser, und für fünfundvierzig Franken Pension konnte er nicht verlangen, daß man ihm zu jeder Mahlzeit einen Kaninchenbraten vorsetzte. Diese fünfundvierzig Franken waren für die Familie eine bedeutende Hilfe; man konnte leben und machte nicht allzu viele Schulden. Die Maheu zeigten sich ihrem Mieter gegenüber dankbar; seine Leibwäsche wurde gewaschen und ausgebessert, seine Knöpfe festgenäht, seine Kleidung in Ordnung gehalten; kurz, er merkte, daß die Sauberkeit und Sorgfalt einer Frau ihn umgab.

Das war der Zeitabschnitt, in dem Etienne jene Gedanken erfaßte, die in seinem Gehirn wogten. Bis dahin hatte er – inmitten der dumpfen Gärung unter seinen Kameraden – nur eine unwillkürliche Empörung gefühlt. Allerlei verworrene Fragen tauchten in ihm auf: warum bestand das Elend der einen und der Reichtum der anderen? Warum wurden die ersteren von den letzteren geknechtet, ohne Hoffnung, jemals an ihre Stelle zu gelangen? Zunächst begriff er seine Unwissenheit. Seither quälte ihn eine geheime Scham, ein verborgener Kummer: er wußte nichts; er wagte nicht, von den Dingen zu sprechen, die ihn so leidenschaftlich erregten, von der Gleichheit aller Menschen, von der Gerechtigkeit, die eine Aufteilung der irdischen Güter forderte. Er warf sich also auf das Studium mit der regellosen, maßlosen Wißbegierde der Unwissenden. Jetzt stand er in einem regelmäßigen Briefwechsel mit Pluchart, der besser unterrichtet war und mitten in der sozialistischen Bewegung stand. Er ließ sich Bücher senden, deren unvollständig erfaßter Inhalt ihm vollends den Kopf erhitzte; besonders ein Buch: »Hygiene[178] des Bergarbeiters«, in welchem ein belgischer Arzt alle jene Krankheiten aufzählte, an denen die Bergleute zugrunde gehen; dann volkswirtschaftliche Abhandlungen von einer unfaßbaren technischen Trockenheit; anarchistische Flugschriften, die ihn in Erregung versetzten; alte Zeitungen, deren Behauptungen er als unanfechtbare Beweise in seinen Gesprächen anführte. Auch Suwarin lieh ihm Bücher. Das Werk über die Kooperativgenossenschaften ließ ihn einen vollen Monat über einen allgemeinen Bund zum Austausch der Waren brüten, bei dem das Geld abgeschafft und die Arbeit zur Grundlage des ganzen gesellschaftlichen Lebens gemacht werden sollte. Es schwand die Scham über seine Unwissenheit, und er wurde stolz, seitdem er sich als Denker fühlte.

In den ersten Monaten kam Etienne über das Entzücken des Neulings nicht hinaus; sein Herz floß von edler Entrüstung gegen die Bedrücker über und schwelgte in der Hoffnung auf den nahen Triumph der Bedrückten. In dem Gedankenwirbel, den alle diese Bücher in seinem Schädel hervorbrachten, kam er noch nicht so weit, sich ein System zu bilden. Die praktischen Forderungen Rasseneurs mengten sich bei ihm mit den Umsturzplänen Suwarins; und wenn er die Schenke »Zum wohlfeilen Schoppen« verließ, wo er fast jeden Tag mit Rasseneur und Suwarin gegen die Bergwerksgesellschaft wetterte, wandelte er wie im Traum und sah die Wiedergeburt der Völker, die sich vollzog, ohne daß eine Fensterscheibe zerbrochen oder ein Tropfen Blut vergossen wurde. Die Mittel zur Durchführung blieben übrigens in Dunkel gehüllt; er glaubte, daß die Dinge sehr gut gehen würden; denn sobald er ein Programm aufstellen wollte, nach dem die Welt neu eingerichtet werden sollte, verloren sich seine Gedanken in Wirrwarr. Er zeigte sogar Mäßigung und Mangel an Folgerichtigkeit; er wiederholte zuweilen, daß man die Politik aus dem Kreise der sozialen Frage verbannen müsse, eine Redensart, die er oft gelesen hatte, und die[179] gut zu klingen schien in der Umgebung phlegmatischer Bergleute, in der er lebte.

In der Familie Maheu war es jetzt Brauch geworden, nach dem Abendessen eine halbe Stunde in der Wohnstube zu verweilen, ehe man zum Schlafen hinaufging. Etienne sprach immer über den nämlichen Gegenstand. Seitdem seine Natur sich verfeinerte, fühlte er sich noch mehr verletzt durch das in dem Arbeiterdorf allgemein übliche Zusammenleben der Geschlechter. Waren diese Menschen denn Tiere, daß sie zusammengepfercht lebten, so aneinandergedrängt, daß man nicht sein Hemd wechseln konnte, ohne sich dem Nachbar zu zeigen? Wie wenig das der Gesundheit zuträglich war, und wie Burschen und Mädchen dabei notgedrungen verkümmerten!

»Mein Gott!« pflegte Maheu zu bemerken, »wenn man mehr Geld hätte, würde man es sich auch bequemer einrichten können ... Immerhin ist es schlimm genug für alle, daß man dermaßen dicht beieinander leben muß. Das Ende von alldem sind immer betrunkene Männer und unglückliche Mädchen.«

Dies war das Gespräch der Familie; jeder sagte sein Wörtchen, während die Petroleumlampe die von Zwiebelduft geschwängerte Luft noch mehr verdarb. Nein, wahrhaftig, das Leben war nicht schön. Man habe – gleich den Tieren – eine Arbeit zu verrichten, mit der ehemals die Galeerensklaven gestraft wurden; man lasse oft vorzeitig die Knochen dabei und all das, um des Abends nicht einmal Fleisch auf dem Tische zu haben. Man habe zwar zu essen, aber nur gerade genug, um nicht vor Hunger zu verrecken; man sei verschuldet bis über die Ohren und werde verfolgt, als stehle man sein Brot. Wenn der Sonntag komme, verschlafe man ihn vor Mattigkeit.

Da mengte Frau Maheu sich ein:

»Das Traurigste ist, daß man sich sagen muß, es wird nicht besser ... Wenn man jung ist, bildet man sich ein, das Glück werde kommen, und hofft auf allerlei Dinge;[180] dann sieht man, daß das Elend kein Ende nimmt, daß man darin eingeschlossen ist. Ich wünsche zwar niemand Schlimmes, aber manchmal empört mich diese Ungerechtigkeit.«

Ein Schweigen trat ein; alle verschnauften sich einen Augenblick in unbestimmtem Unbehagen angesichts der finsteren Zukunft. Nur wenn Vater Bonnemort da war, riß er erstaunt die Augen auf; zu seiner Zeit habe man sich nicht so gequält; man sei in der Kohle geboren und hämmere in den Kohlengängen, ohne nach anderem zu verlangen; heute wehe ein Wind, der in den Bergleuten Ehrgeiz wachrufe.

»Man soll nicht ungerecht sein«, brummte er. »Ein guter Schoppen ist ein guter Schoppen ... Die Vorgesetzten sind oft Halunken; aber Vorgesetzte wird es immer geben, nicht wahr? Es ist unnütz, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.«

Sogleich fuhr Etienne auf. Wie, der Arbeiter solle nicht nachdenken dürfen? Ei, die Dinge würden ja nur deshalb in Bälde besser werden, weil der Arbeiter heutzutage nachdenke. Früher habe der Bergmann in der Grube wie ein Tier gelebt, wie eine Fördermaschine, immer unter der Erde, taub und blind für die Ereignisse der Außenwelt. Die herrschenden Reichen hätten es denn auch leicht, sich zu verständigen, ihn zu kaufen und zu verkaufen, um sein Fleisch zu essen; er habe es gar nicht geahnt. Jetzt erwache der Bergmann in seiner Grube; er keime in der Erde wie ein wirkliches Korn; man werde ihn eines Tages mitten aus den Feldern emporwachsen sehen; jawohl, Männer würden wachsen, eine Armee von Männern, welche die Gerechtigkeit wiederherstellen. Seien denn seit der Revolution nicht alle Bürger gleich? Man gebe zusammen seine Stimme ab: dürfe der Arbeiter noch länger der Sklave des Arbeitgebers sein, der ihn bezahle? Die großen Gesellschaften mit ihren Maschinen erdrückten alles, und man habe gegen sie nicht einmal mehr den Schutz der alten Zeit, als die Leute vom nämlichen Handwerk sich zu[181] ihrer Verteidigung zusammentaten. Deswegen und anderer Dinge wegen werde – dank der fortgeschrittenen Bildung – eines Tages alles in die Luft fliegen. Man brauche nur einen Blick in das Arbeiterdorf zu tun: die Großväter hätten ihren Namen nicht zu kritzeln gewußt; die Väter könnten ihn schon schreiben, die Söhne aber schrieben und läsen wie Professoren. Es sprieße allmählich eine herrliche Saat von Männern hervor, die in der Sonne reife. Sobald nicht jedermann sein ganzes Leben lang an demselben Fleck klebe und man den Ehrgeiz habe, sich an die Stelle des Nachbarn zu setzen: warum solle man nicht seine Fäuste gebrauchen und trachten, der Stärkere zu sein?

Maheu war wankend gemacht, blieb aber von Mißtrauen erfüllt.

»Wer sich empört, dem gibt man sein Arbeitsbuch zurück«, sagte er. »Der Alte hat recht: der Bergmann wird immer der Geplagte sein, ohne Aussicht, von Zeit zu Zeit einen Hammelbraten essen zu können.«

»O mein Gott! mein Gott!« jammerte die Maheu; »sollen wir denn wirklich für immer verloren sein?«

Sie ließ in unendlicher Trostlosigkeit die Hände auf die Knie niedersinken.

Alle schauten einander an. Vater Bonnemort spie in sein Taschentuch, während Maheu seine kalte Pfeife anzubrennen vergaß. Alzire hörte zu, zwischen Leonore und Heinrich sitzend, die am Tisch eingeschlafen waren. Katharina, das Kinn auf die Hand gestützt, schaute mit ihren großen Augen unverwandt auf Etienne, wenn er voll Unmut sein Glaubensbekenntnis hersagte und die zauberische Zukunft seines sozialen Traumes erschloß. In den Häusern ringsumher ging man zur Ruhe; man hörte nichts mehr als das ferne Weinen eines Kindes oder das Gezänk eines verspäteten Trunkenboldes. Die Kuckucksuhr ließ ihr langsames Ticktack vernehmen; von den mit Sand bestreuten Fliesen stieg trotz der schwülen Luft eine kühle Feuchtigkeit auf.

Endlos floß die eifrige Rede von seinen Lippen. Der[182] enge Horizont öffnete sich, plötzlich, und es wurde mit einem Schlage hell in dem düsteren Dasein dieser armen Leute. Die ewige Wiederkehr des Elends, die tierische Arbeit, das Schicksal des Viehes, das seine Wolle hergibt, um schließlich getötet zu werden, all der Jammer verschwand wie hinweggescheucht durch einen ungeheuren Sonnenstrahl; und in einem blendenden Feenglanze stieg die Gerechtigkeit vom Himmel hernieder. Da der gute Gott tot war, mußte die Gerechtigkeit das Glück der Menschen sichern, indem sie die Gleichheit und Brüderlichkeit herrschen ließ. Eine neue Gesellschaft wuchs an einem Tage heran – wie in den Träumen –, eine neue, ungeheure Stadt von wunderbarem Glanz, in der jeder Bürger von seiner Beschäftigung lebte und seinen Anteil an den gemeinsamen Vergnügungen hatte. Die alte, vermoderte Welt war in Staub zerfallen; eine Menschheit, geläutert von Sünden, bildete ein einziges Volk von Arbeitern, welches die Losung hatte: jedem nach seinem Verdienst und jedem der Lohn nach seinen Werken. Dieser Traum breitete sich immer mehr aus und ward immer schöner; und je höher er in die Unmöglichkeit hinanstieg, desto verführerischer wurde er.

Von einem dumpfen Entsetzen ergriffen, wollte Frau Maheu anfänglich nichts hören. Nein, nein, es sei zu schön, man dürfe sich nicht solchen Gedanken hingeben; sie würden das Leben nachher nur noch abscheulicher erscheinen lassen, und man würde dann alles niedermetzeln, um glücklich zu werden. Als sie Maheus Augen funkeln sah, der verwirrt und so gut wie gewonnen war, unterbrach sie beunruhigt Etienne:

»Lieber Mann, hör' ihn nicht an! Du siehst wohl, daß er uns Märchen erzählt ... Werden die Bürger jemals arbeiten wollen wie wir?«

Doch allmählich wirkte der Zauber auch auf sie. Sie lächelte schließlich, als ihre Einbildungskraft erwachte und sie in das Feenreich der Hoffnung einzog. Es war so lieblich, eine Stunde lang die traurige Wirklichkeit[183] zu vergessen. Wenn man lebt wie die Tiere, zur Erde gebeugt, muß man doch wohl einen Lügenwinkel haben, wo man sich Dinge gönnt, die man nie besitzen wird. Was sie in leidenschaftliche Aufregung und in Übereinstimmung mit dem jungen Manne brachte, war der Gedanke der Gerechtigkeit.

»Sie haben recht!« rief sie. »Für eine gerechte Sache könnte ich mich in Stücke hacken lassen ... Es wäre nur gerecht, wenn auch für uns endlich bessere Tage kämen.«

Da wagte auch Maheu sich zu begeistern.

»Donner Gottes!« rief er; »ich bin nicht reich, aber ich würde hundert Sous dafür geben, wenn ich es noch vor meinem Tode erleben könnte. Welch eine Umwälzung! Wird es bald sein? Und wie wird man die Sache anfassen?«

Etienne begann wieder zu sprechen. Die alte Gesellschaft krache in allen Fugen und könne nur noch einige Monate dauern, behauptete er kühn. Über die Mittel der Durchführung äußerte er sich weniger bestimmt, mengte alles durcheinander, was er in den Büchern gelesen, erging sich vor diesen unwissenden Leuten ohne Scheu in Erklärungen, in die er selber sich schließlich verlor. Dabei kamen alle Systeme an die Reihe, gemildert durch die Sicherheit eines leichten Sieges, durch den Friedenskuß, der schließlich die Mißverständnisse der Klassen lösen solle; das schließe allerdings nicht aus, daß man die störrischen Köpfe unter den Besitzern und Spießbürgern zur Vernunft bringen müsse. Die Maheu schienen zu begreifen, stimmten ihm zu, fanden die wunderbaren Lösungen möglich mit dem blinden Glauben von Neubekehrten, gleich den ersten Christen, die das Erstehen einer vollkommenen Gesellschaft auf den Ruinen der alten Welt erwarteten. Die kleine Alzire fing einzelne Worte auf, dachte sich das Glück in der Gestalt eines stets warmen Hauses, wo die Kinder spielen und essen könnten, soviel sie wollten. Katharina saß stumm da, den Kopf auf die Hand[184] gestützt, und schaute immer auf Etienne. Als dieser zu sprechen aufhörte, fuhr sie zusammen und ward ganz bleich, wie von einem Schauer ergriffen.

Doch jetzt blickte Frau Maheu auf die Kuckucksuhr.

»Schon neun Uhr vorüber!« rief sie. »Ist's möglich? Wir werden morgen nicht aufstehen können.«

Sie erhob sich vom Tisch in unbehaglicher, beinahe verzweifelter Stimmung. Es war ihnen, als seien sie reich gewesen und sänken nun mit einemmal wieder ins Elend zurück. Vater Bonnemort, der zur Grube ging, brummte, daß solche Geschichten die Suppe nicht besser machten. Die anderen gingen – einer hinter dem andern – hinauf und bemerkten die feuchten Mauern und die drückende, schlechte Luft. Als Katharina zu Bett gegangen war und die Kerze ausgelöscht hatte, hörte Etienne in der tiefen Stille, die in dem schlafenden Dorfe herrschte, wie das Mädchen sich in fieberhafter Erregung lange Zeit auf seinem Lager wälzte, ehe es Ruhe finden konnte.

Bei diesen abendlichen Gesprächen waren oft auch Nachbarn anwesend; Levaque, den die Idee der Teilung begeisterte; Pierron, der die Vorsicht übte, schlafen zu gehen, sobald die Vorgesetzten angegriffen wurden. Dann und wann kam auch Zacharias auf einen Augenblick; allein die Politik langweilte ihn; er zog es vor, bei Rasseneur einen Schoppen zu trinken. Chaval überbot alle und forderte Blut. Fast jeden Abend verbrachte er eine Stunde bei den Maheu, und in dieser Beharrlichkeit lag eine uneingestandene Eifersucht, die Furcht, daß man ihm Katharina rauben könne. Dies Mädchen, dessen er schon überdrüssig wurde, war ihm teuer geworden, seitdem ein Mann in ihrer Nähe war und sie ihm nehmen konnte.

Etiennes Einfluß gewann an Ausdehnung; er brachte allmählich das ganze Bergdorf in Aufruhr. Es war eine stille Propaganda, die um so sicherer wirkte, als Etienne in aller Achtung stieg. Wenngleich als kluge Hausfrau noch mißtrauisch, behandelte die Maheu ihn rücksichtsvoll[185] als einen jungen Mann, der pünktlich zahlte, weder trank noch spielte, die Nase immer in die Bücher steckte; sie verschaffte ihm bei den Nachbarinnen den Ruf eines wohlunterrichteten jungen Mannes, und die Nachbarinnen mißbrauchten dies, indem sie sich ihre Briefe von ihm schreiben ließen. Er war eine Art Geschäftsagent geworden, den man in allen schwierigen Fällen zu Rate zog. Im Monat September war es ihm endlich gelungen, seine Unterstützungskasse zu gründen. Wohl stand sie noch auf schwachen Füßen, weil sie nur die Bewohner des Dorfes zu ihren Mitgliedern zählte; allein er hoffte auf den Anschluß der Bergleute sämtlicher Gruben, besonders wenn die Gesellschaft, die bisher gleichgültig geblieben war, auch fernerhin keine Schwierigkeiten machte. Man hatte ihn zum Sekretär des Unterstützungsvereins gewählt, und er bezog sogar ein kleines Gehalt für die Besorgung der Schreibarbeiten. Dadurch wurde er fast wohlhabend. Ein verheirateter Bergmann kann kaum sein Leben fristen; ein lediger jedoch, der keine Laster hat, kann einen Spargroschen zurücklegen.

Von da an vollzog sich bei Etienne eine langsame Umwandlung. Sein Bedürfnis nach Wohlanständigkeit, so lange durch Armut unterdrückt, regte sich wieder; er kaufte sich Tuchkleider und ein Paar feine Stiefel. Mit einem Schlage wurde er Führer; das ganze Dorf scharte sich um ihn. Es war eine köstliche Befriedigung seiner Eigenliebe; er berauschte sich an den ersten Freuden der Volkstümlichkeit. Daß er, noch so jung, vor kurzem noch ein Handlanger, als Gebieter an der Spitze der anderen stand: das erfüllte ihn mit Stolz, nährte seinen Traum von einer nahen Revolution, in der er eine Rolle spielen sollte. Sein Gesicht veränderte sich; er wurde ernst und hörte sich gern reden, während wachsender Ehrgeiz seine Anschauungen fieberhaft durchglühte und ihn zum Kampfe drängte.

Indessen kam der Spätherbst; die Oktoberkälte hatte die kleinen Gärten des Arbeiterdorfes mit Reif überzogen. Nur die Wintergemüse waren noch übrig, Kohlköpfe,[186] Lauch und Spätsalat. Wieder peitschte der Regen die roten Ziegeldächer und ergoß sich geräuschvoll in die Fässer unter den Dachtraufen. Die Öfen in den Häusern wurden nicht mehr kalt und schwängerten die Luft in den Stuben mit Kohlendunst an. Eine Jahreszeit des Elends hub wieder an.

In einer der ersten kalten Oktobernächte konnte Etienne nicht einschlafen, weil er noch erhitzt war von dem Vortrag, den er unten in der Wohnstube gehalten hatte. Er hatte Katharina unter die Bettdecke schlüpfen und dann die Kerze auslöschen sehen. Auch sie schien in großer Erregung, von einer jener Züchtigkeitsanwandlungen gequält, in denen sie sich zuweilen so hastig und ungeschickt entkleidete, daß sie sich nur noch mehr zeigte. Unbeweglich, wie tot, lag sie in der Finsternis in ihrem Bett; aber er merkte dennoch, daß sie nicht schlief. Er fühlte es, daß sie an ihn denke wie er an sie; niemals hatte dieser stumme Austausch sie mit solcher Verwirrung erfüllt. Es vergingen Minuten, weder er noch sie rührten sich. Zweimal war er auf dem Sprung, sich zu erheben. Die Kinder schliefen; sie war bereit; er war sicher, daß sie seiner harrte, daß sie stumm, mit zusammengepreßten Zähnen die Arme um ihn schlingen würde. So verfloß nahezu eine Stunde. Er ging nicht hin, um sie zu küssen; sie aber wandte sich nicht um aus Furcht, daß sie ihn rufen könne. Je länger sie Seite an Seite lebten, desto höher erhob sich zwischen ihnen eine Scheidewand von Scham, Widerstreben, freundschaftlicher Zartheit, die sie sich selbst nicht erklären konnten.

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 176-187.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Germinal
Germinal
Germinal (insel taschenbuch)
Germinal - Buch mit MP3-CD (Lire en français facile - Adultes)
Germinal: Roman (Fischer Klassik)
Germinal

Buchempfehlung

Spitteler, Carl

Conrad der Leutnant

Conrad der Leutnant

Seine naturalistische Darstellung eines Vater-Sohn Konfliktes leitet Spitteler 1898 mit einem Programm zum »Inneren Monolog« ein. Zwei Jahre später erscheint Schnitzlers »Leutnant Gustl" der als Schlüsseltext und Einführung des inneren Monologes in die deutsche Literatur gilt.

110 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon