Fünftes Kapitel

[200] Eine Woche verstrich; man arbeitete argwöhnisch und verdrossen weiter in Erwartung des Konfliktes. Bei den Maheu kündigte sich der nächste Halbmonat noch düsterer an. Frau Maheu wurde denn auch immer verbitterter trotz ihrer sonstigen Mäßigung und Besonnenheit. Ihre Tochter Katharina hatte es sich einfallen lassen, eine Nacht außer dem Hause zuzubringen; am nächsten Morgen war sie matt und krank von diesem Abenteuer heimgekehrt, so daß sie nicht zur Grube gehen konnte. Sie erzählte weinend, es sei nicht ihre Schuld; Chaval habe sie bei sich behalten und ihr mit Prügeln gedroht, wenn sie nicht bleibe. Er sei rasend vor Eifersucht; er wolle sie hindern, zu Etienne zurückzukehren. Die Maheu war wütend. Nachdem sie ihrer Tochter verboten hatte, diesen Unhold wieder aufzusuchen, sprach sie davon, nach Montsou gehen zu wollen, um ihn zu ohrfeigen. Es war aber immerhin ein verlorener Tag, und die Kleine zog es vor, da sie einmal diesen Liebhaber hatte, ihn nicht gegen einen andern zu vertauschen.

Zwei Tage später ereignete sich eine andere Geschichte. Johannes, den man ruhig bei der Arbeit in der Grube glaubte, hatte am Montag und Dienstag Reißaus genommen und sich mit Bebert und Lydia in den Sümpfen und im Walde von Vandame umhergetrieben. Er hatte sie ganz verderbt; man erfuhr nie, welchen Gaunerstreichen, welchen Spielen frühreifer Kinder sie sich hingaben. Johannes erhielt eine ausgiebige Züchtigung, eine gewaltige Tracht Prügel, die seine Mutter ihm auf der Straße vor den entsetzten Kindern des ganzen Dorfes verabreichte. Habe man jemals so etwas gesehen? Ihre Kinder, die seit ihrer Geburt soviel Geld kosteten und jetzt miterwerben sollten! In diesem Schrei lebte die Erinnerung an die eigene mühevolle Jugend, an das ererbte Elend, das aus jedem Kinde ein Werkzeug des Erwerbes machte.[201]

Als an diesem Morgen die Mannsleute und Katharina zur Grube aufbrachen, erhob sich Frau Maheu vom Bett, um Johannes zu sagen:

»Böser Range, wenn du es noch einmal tust, wirst du geschunden!«

Auf dem neuen Platz Maheus ging die Arbeit mühselig vonstatten. Dieser Teil der Filonnièreader wurde immer dünner, so daß die zwischen der Wand und der Decke eingepreßten Häuer sich in dem Schlage die Ellbogen stießen. Auch wurde es sehr feucht; man fürchtete von Stunde zu Stunde das Ersaufen der Ader, einen jener plötzlichen Wasserstürze, die die Felsen sprengen und die Menschen hinwegschwemmen. Erst am vorhergehenden Tage war es geschehen, daß Etienne, als er seine Spitzhacke einsetzte und sie zurückzog, den Wasserstrahl einer Quelle ins Gesicht bekam; der Schlag wurde nasser und infolgedessen ungesunder. Er dachte übrigens nicht an die Möglichkeit von Unfällen; er vergaß sich jetzt mit den Kameraden, unbekümmert um die Gefahr. Man lebte sozusagen mitten in den bösen Dünsten, ohne ihren Druck auf die Augenlider zu verspüren und ohne zu merken, wie sie sich gleich einem Schleier von Spinngewebe an die Wimpern hängten. Wenn zuweilen die Flammen der Lampen eine bläulichblasse Färbung annahmen, dachte man an die schlagenden Wetter; ein Bergmann legte das Ohr an die Wand, um dem leisen Geräusch des Gases zu lauschen, einem Geräusch von Luftblasen, die bei jeder Spalte quirlten. Doch die ewig drohende Gefahr waren die Einstürze; denn abgesehen von der Unzulänglichkeit der Verzimmerungen, die immer allzu hastig gemacht wurden, hatte auch das durchfeuchtete Erdreich keinen Halt.

Dreimal im Lauf des Tages hatte Maheu die Hölzer befestigen lassen müssen. Es war halb drei Uhr; die Männer schickten sich zur Auffahrt an. Auf der Seite liegend, beendigte Etienne eben die Lostrennung eines Blockes, als ein fernes, donnerähnliches Getöse die ganze Grube erschütterte.[202]

»Was ist's?« rief er, die Spitzhacke senkend, um zu lauschen.

Er hatte geglaubt, die Galerie stürze hinter seinem Rücken ein.

Doch schon ließ sich Maheu in dem abschüssigen Schlag hinabgleiten, indem er sagte:

»Es ist ein Einsturz ... Fort! Fort!«

Alle eilten davon, wie fortgerissen vom mächtigen Drang besorgter Brüderlichkeit. Die Lampen tanzten in ihren Fäusten, inmitten der Grabesstille, die eingetreten war. Sie eilten auf den Wegen fort mit gekrümmtem Rücken, als liefen sie auf allen vieren; und ohne ihren Lauf zu verlangsamen, warfen sie einander kurze, hastige Fragen und Antworten zu. Wo denn? Vielleicht in den Schlägen? Nein, es kam von unten, wahrscheinlich bei der Abfuhr. Bei dem Kamin drängten sie sich hinab, fielen einer auf den andern, unbekümmert darum, daß sie sich dabei die Haut abschürften.

Johannes, dem noch von den gestrigen Prügeln der Rücken rot war, war an diesem Tage nicht durchgegangen. Er lief mit nackten Füßen hinter seinem Zug einher, schloß die Lüftungstüren eine nach der andern und stieg zuweilen, wenn er nicht die Begegnung eines Aufsehers fürchtete, auf den letzten Karren, was ihm verboten war, weil man fürchtete, daß er einschlafen könne. Doch sein großes Vergnügen war, jedesmal, wenn der Zug auswich, um einen andern vorbeizulassen, zu Bebert zu schleichen, der an der Spitze des Zuges war und die Zügel hielt. Ohne Lampe huschte er herbei, zwickte den Kameraden bis aufs Blut, ersann allerlei boshafte Streiche mit seinen gelben Haaren, langen Ohren und dem schmalen, von grünen Äuglein erhellten Gesichte, die im Dunkel leuchteten. In seiner krankhaften Frühreife schien er den trüben Verstand und die Geschicklichkeit einer menschlichen Mißgestalt zu haben, die auf der Stufe der Tierheit verblieben war. Am Nachmittag brachte Mouquet das Pferd Bataille, weil dieses an der Reihe war; als das Tier, auf einem[203] Nebengleise stehend, unruhig schnob, sagte Johannes, der sich wieder herangeschlichen hatte:

»Was hat denn die alte Schindmähre, daß sie so plötzlich stehenbleibt? ... Der Rückprall der Karren wird mir noch einmal die Beine brechen.«

Bebert konnte nicht antworten; er mußte Bataille zurückhalten, der freudig anzog, weil er die Annäherung des andern Zuges hörte. Das Pferd hatte seinen Kameraden gewittert, zu dem er vom ersten Tage an eine tiefe Zuneigung gefaßt hatte. Es war wie das liebevolle Mitleid eines alten Philosophen, der einen jungen Freund trösten will, indem er ihm von seiner Ergebung und Geduld mitteilt; denn Trompete wollte sich nicht gewöhnen, zog die Karren mit Unlust, ließ stets den Kopf hängen, wurde stumpfsinnig in dieser ewigen Nacht und sehnte sich nach der Sonne zurück. Darum streckte Bataille, sooft er Trompete begegnete, schnaubend den Kopf vor und beleckte in aufmunternder Liebkosung den Kameraden.

»Die verdammten Schwerenöter schmatzen schon wieder aneinander herum!« wetterte Bebert.

Als Trompete vorüber war, sagte er von Bataille:

»Es ist ein schlaues altes Luder! ... Wenn er so plötzlich stehenbleibt, wittert er gewiß etwas, was ihm nicht recht ist, einen Stein oder ein Loch. Der hat acht auf seine Knochen und will sich nichts zerschlagen ... Ich weiß nicht, was er heute wieder hat da unten neben der Tür. Er stößt sie auf und will nicht weiter ... Hast du etwas gespürt?«

»Nein,« sagte Johannes. »Wasser ist da; es reicht mir bis zu den Knien.«

Der Zug setzte sich in Bewegung. Und als Bataille bei der nächsten Fahrt mit dem Kopfe die Lüftungstür aufgestoßen hatte, weigerte er sich abermals zu gehen und blieb wiehernd und zitternd auf einem Fleck. Endlich nahm er einen Anlauf und rannte in einem Zuge davon.[204]

Johannes, der die Tür schloß, war zurückgeblieben. Er bückte sich, um die Pfütze zu betrachten, in der er watete. Als er die Lampe hob, sah er, daß die Verzimmerung unter der Einwirkung des durchsickernden Wassers einer Quelle nachgegeben hatte. Eben kam ein Häuer hinzu, ein Mann namens Chicot, der heute früher nach Hause wollte, weil sein Weib in den Wochen lag. Auch er blieb stehen und betrachtete den Schaden. In dem Augenblick, als der Kleine sich anschickte, dem Zuge nachzulaufen, ertönte ein furchtbares Krachen: der Einsturz hatte Mann und Knaben verschüttet.

Tiefe Stille trat ein. Nach dem Einsturz stieg dichter Staub auf allen Wegen auf. Geblendet und schier erstickend eilten die Grubenarbeiter von allen Seiten, selbst von den fernsten Schlägen, mit ihren tanzenden Lampen herbei. Als die ersten auf der Stelle ankamen, schrien sie und riefen die Kameraden herbei. Eine zweite Schar aus dem hinteren Schlage stand jenseits des eingestürzten Erdreiches, welches die Galerie verrammelte. Man stellte sogleich fest, daß die Decke in einer Ausdehnung von höchstens zehn Meter niedergestürzt war. Der Schaden war nicht von großer Bedeutung. Allein alle Herzen krampften sich zusammen, als unter dem Schutthaufen hervor Todesröcheln drang.

Bebert, der seinen Zug im Stich gelassen, eilte mit dem Rufe herbei:

»Johannes liegt darunter! Johannes liegt darunter!«

In diesem Augenblick kam Maheu aus dem Kamin zum Vorschein, gefolgt von Zacharias und Etienne. Er war von Wut und Verzweiflung erfaßt und hörte nicht auf zu fluchen:

»Himmelherrgott! Himmelherrgott!«

Katharina, Lydia und die Mouquette, die ebenfalls herbeigelaufen waren, begannen entsetzt zu schluchzen und zu heulen inmitten des furchtbaren Wirrwarrs, das durch die Finsternis noch gesteigert wurde. Man hieß sie schweigen, doch sie heulten bei jedem Röcheln nur noch ärger.[205]

Der Aufseher Richomme war herbeigelaufen, trostlos darüber, daß weder der Ingenieur Negrel noch Dansaert in der Grube war. Das Ohr an das Gestein pressend, lauschte er; schließlich erklärte er, das Gestöhn komme nicht von einem Kinde, ein Mann müsse da unten liegen. Zwanzigmal schon hatte Maheu Johannes' Namen gerufen, doch niemand antwortete. Der Knabe mußte zermalmt sein.

Das Röcheln aber dauerte mit seiner furchtbaren Eintönigkeit fort. Man sprach zu dem Sterbenden, man fragte ihn um seinen Namen: das Röcheln war die einzige Antwort.

»Rasch an die Arbeit!« rief Richomme, indem er das Rettungswerk anordnete. »Wir wollen nachher reden.«

Von beiden Seiten machten sich die Arbeiter mit Spitzhacke und Schaufel an die Hinwegräumung des Schuttes. Chaval arbeitete wortlos neben Maheu und Etienne, während Zacharias die Fortschaffung des Schuttes leitete. Die Stunde der Ausfahrt war gekommen, noch keiner hatte gegessen; aber man ging nicht zur Suppe, solange Kameraden in Gefahr waren. Indes dachte man daran, daß das Dorf beunruhigt sein werde, wenn man niemand heimkehren sehe; man schlug vor, die Weiber heimzusenden. Weder Katharina, noch Mouquette, noch auch Lydia wollten sich entfernen; sie waren wie festgenagelt durch das Bedürfnis, alles zu sehen und zu erfahren, und halfen bei der Fortschaffung des Schuttes. Da übernahm es Levaque oben zu melden, daß ein Einsturz stattgefunden habe, ein geringfügiger Schaden, der sogleich ausgebessert werde. Es war nahezu vier Uhr; die Arbeiter hatten in weniger als einer Stunde das Werk eines Tages vollbracht: die Hälfte des Schuttes wäre schon fortgeschafft gewesen, wenn nicht neues Gestein herabgerollt wäre. Maheu arbeitete mit einer solchen Wut, daß er mit einer furchtbaren Gebärde drohte, wenn jemand sich näherte, um ihn einen Augenblick abzulösen.[206]

»Sachte«, sagte Richomme endlich; »wir sind bald daran; gebt acht, daß ihr sie nicht vollends erschlagt.«

In der Tat wurde das Röcheln immer deutlicher vernehmbar. Dieses Röcheln war's, das die Arbeiter bei ihrem Rettungswerk leitete. Jetzt kam es gleichsam unter den Spitzhacken hervor. Plötzlich hörte es auf.

Alle blickten einander mit Schaudern an; sie hatten den Hauch des Todes im Dunkel verspürt. Schweißtriefend, die Muskeln bis zum Reißen gespannt, arbeiteten sie weiter. Man stieß jetzt auf einen Fuß, und von da ab wurde die Erde mit den Händen entfernt und so die Glieder allmählich freigemacht. Der Kopf hatte nicht gelitten. Man leuchtete dem Manne ins Gesicht, und der Name Chicot machte die Runde. Er war noch warm; ein abstürzendes Felsstück hatte ihm die Wirbelsäule gebrochen.

»Hüllt ihn in eine Decke ein, und legt ihn auf einen Karren«, gebot der Aufseher. »Und dann laßt uns rasch nach dem Jungen suchen!«

Maheu setzte ein letztes Mal die Spitzhacke an und schlug eine Bresche, so daß die Verbindung mit den Männern, die auf der andern Seite den Schutt wegräumten, hergestellt war. Sie schrien auf; sie hatten Johannes gefunden in bewußtlosem Zustande, mit gebrochenen Beinen, aber noch atmend. Der Vater selbst trug den Kleinen in seinen Armen; zwischen den zusammengepreßten Lippen stieß er unablässig Flüche hervor, um seinem Schmerze Luft zu machen, während Katharina und die anderen Weiber wieder zu weinen begannen.

Rasch ordnete sich der Zug. Bebert hatte das Pferd Bataille wieder hergeführt. Man spannte es vor die zwei Karren; in dem ersten lag die Leiche Chicots, von Etienne gehalten; in dem zweiten saß Maheu mit Johannes auf den Knien. Der Knabe lag noch immer bewußtlos unter einem Stück Wollzeug, das man von einer Lüftungstür weggerissen hatte. Man trat langsam den Marsch an. Auf jedem Karren war eine Laterne, die[207] wie ein roter Stern leuchtete. Hinter den Karren folgten die Grubenarbeiter, etwa fünfzig Schatten, in langem Zuge. Die Ermüdung drückte sie nieder, sie konnten sich kaum auf den Beinen halten und glitten in den Pfützen aus, auf der ganzen Gruppe lagerte die düstere Trauer einer von Seuchen heimgesuchten Herde. Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie bei dem Aufzug ankamen. Dieser unterirdische Leichenzug, der sich in dichter Finsternis durch die bald rechts, bald links einbiegenden Galerien bewegte, wollte kein Ende nehmen.

Richomme, der vorausgegangen war, hatte den Auftrag gegeben, daß eine leere Aufzugsschale bereit gehalten werde. Pierron hängte sogleich die zwei Karren ein. In dem einen blieb Maheu, mit seinem verwundeten Jungen auf den Knien; in dem andern hatte Etienne Platz genommen, der die Leiche Chicots in seinen Armen hielt, damit sie nicht herausfalle. Als die übrigen Arbeiter in den anderen Kasten untergebracht waren, stiegen die Schalen empor. Man brauchte zwei Minuten zur Auffahrt. Das Wasser tropfte eiskalt hinter dem Holz hervor; die Männer schauten ungeduldig empor; es drängte sie, das Tageslicht zu sehen.

Ein Schlepperjunge, den man zum Doktor Vanderhaghen geschickt, hatte diesen glücklicherweise zu Hause gefunden und hergeführt. Johannes und der Tote wurden nach dem Aufseherzimmer geschafft, wo jahraus, jahrein ein großes Feuer brannte. Man brachte die Kübel warmen Wassers herbei, die zum Waschen der Füße bereitstanden; nachdem man zwei Matratzen auf den Steinplatten ausgebreitet hatte, bettete man den Mann und den Jungen darauf. Nur Maheu und Etienne traten ein. Schlepperinnen, Arbeiter und Gassenjungen, die herbeigeeilt waren, standen draußen in leisem Gespräche beisammen.

Als der Arzt einen Blick auf Chicot geworfen hatte, murmelte er:

»Fertig ... Ihr könnt ihn waschen.«[208]

Zwei Wächter entkleideten und wuschen die vom Kohlenstaub schwarze, vom Arbeitsschweiß beschmutzte Leiche.

»Am Kopfe ist nichts«, fuhr der Arzt fort, der jetzt vor Johannes' Matratze kniete; »auch an der Brust ist keine Beschädigung wahrzunehmen ... Die Beine haben ihr Teil abbekommen.«

Er selbst entkleidete das Kind, machte die Haube los, entfernte den Kittel, zog die Hose und das Hemd ab, all dies mit der Geschicklichkeit einer Amme. Der arme kleine Körper wurde sichtbar, mager wie ein Käfer, besudelt mit schwarzem Staub und gelber Erde, von großen blutigen Flecken bedeckt. Man konnte nichts unterscheiden, man mußte auch ihn waschen. Unter dem Schwamm schien er noch magerer zu werden, und das Fleisch war so fahl, so durchsichtig, daß man die Knochen sah. Es war ein jammervoller Anblick, diese äußerste Entartung einer Klasse von Elenden, dies zuckende Nichts, halb zermalmt von abgestürzten Felsen. Als der Körper gereinigt war, sah man die Wunden an den Schenkeln, zwei rote Flecke auf der weißen Haut.

Johannes war aus der Bewußtlosigkeit erwacht und stieß ein Jammern aus. Mit hängenden Armen am Fuß der Matratze stehend, betrachtete ihn Maheu, und große Tränen rollten aus seinen Augen.

»Du bist der Vater?« fragte der Doktor aufblickend. »Weine nicht; du siehst wohl, daß er nicht tot ist. Hilf mir lieber.«

Er stellte zwei einfache Brüche fest; doch das rechte Bein machte ihm Sorge; man werde es sicherlich entfernen müssen, meinte er.

In diesem Augenblick kamen der Ingenieur Negrel und der Oberaufseher Dansaert, die man endlich benachrichtigt hatte, mit Richomme an. Der erstere hörte mit trostloser Miene die Erzählung des Aufsehers an. »Immer die verwünschten Verzimmerungen!« brach er los. Er hatte es hundertmal wiederholt, daß die Leute[209] dabei zugrunde gehen würden. Und die Kerle redeten noch von einem Streik für den Fall, daß man sie zwingen werde, besser zu verzimmern! Das schlimmste sei, daß die Gesellschaft die Schäden zu bezahlen habe. Herr Hennebeau werde sich freuen.

»Wer ist das?« fragte er Dansaert, der still vor dem Leichnam stand, den man in ein Laken gehüllt hatte.

»Chicot, einer unserer guten Arbeiter. Er hat drei Kinder ... Armer Kerl!«

Der Doktor Vanderhaghen forderte, daß Johannes sogleich zu seinen Eltern gebracht werde. Es schlug sechs Uhr, der Abend senkte sich herab; man werde gut tun, auch die Leiche fortzuschaffen. Der Ingenieur erteilte den Befehl, daß der Leichenwagen bespannt und eine Tragbahre herbeigeschafft werde. Das verwundete Kind wurde auf die Tragbahre gelegt, die Matratze mit dem Toten auf den Leichenwagen geladen.

Vor der Tür standen noch immer Schlepperinnen im Gespräch mit Bergleuten, die aus Neugierde dageblieben waren. Als das Aufseherzimmer geöffnet wurde, trat Stille in der Gruppe ein. Dann bildete sich ein neuer Zug, vorauf der Leichenwagen, dahinter die Tragbahre, dann das Geleit der Menschen. Man verließ den Vorhof der Grube und stieg langsam den Weg zum Dorfe hinan. Die ersten Novemberfröste hatten die endlose Ebene kahl gemacht; die Nacht hüllte sie langsam ein wie in ein Leichentuch, das vom fahlen Himmel niedergeglitten war.

Etienne riet im Flüsterton Maheu, er solle Katharina voraussenden, damit sie die Mutter in schonender Weise auf das Unglück vorbereite. Der Vater, der trostlos der Tragbahre folgte, nickte zustimmend, und das Mädchen lief voraus, denn man war schon dem Ziele nahe. Doch die Ankunft des Leichenwagens, dieses wohlbekannten finsteren Kastens, war schon angekündigt. Entsetzte Weiber stürzten aus den Häusern hervor, einige derselben, von Angst gefoltert, ohne Haube, rannten dem traurigen Zuge entgegen. Ihre Zahl wuchs bald auf[210] dreißig, dann auf fünfzig, alle von dem nämlichen Schrecken erfaßt. Ein Toter? Wer war es? Die von Levaque erzählte Geschichte beruhigte sie zuerst und brachte dann eine alpdruckartige Übertreibung hervor: nicht ein Mann, zehn Männer seien zugrunde gegangen und würden einer nach dem andern durch den Leichenwagen herbeigeführt.

Katharina hatte ihre Mutter von einer bösen Vorahnung erfaßt gefunden; bei den ersten Worten, die das Mädchen stammelte, hatte die Mutter ausgerufen:

»Der Vater ist tot!«

Vergebens widersprach das Mädchen und redete von Johannes. Ohne weiter hören zu wollen, war die Maheu hinausgestürzt; als sie den Leichenwagen vor der Kirche auftauchen sah, erbleichte sie und drohte umzusinken. Auf den Türschwellen standen Weiber stumm vor Schreck und streckten den Hals vor, während andere dem Karren folgten, zitternd bei dem Gedanken, vor welchem Hause der traurige Zug halten werde.

Der Karren kam vorüber, und hinter ihm sah die Maheu ihren Mann der Tragbahre folgen. Als man diese vor ihrer Tür abgesetzt hatte und sie Johannes lebend mit seinen gebrochenen Beinen sah, vollzog sich in ihr ein plötzlicher Umschwung, daß sie schier vor Zorn erstickte und tränenlos stammelte:

»Da hat man's! Jetzt verstümmeln sie uns die Kinder! Beide Beine! Mein Gott, was soll ich mit ihm anfangen?«

»Schweig!« sagte der Doktor Vanderhaghen, der mitgekommen war, um Johannes zu verbinden. »Wäre es dir lieber, wenn er unten geblieben wäre?«

Doch die Maheu geriet immer mehr außer sich, umgeben von Alzire, Leonore und Heinrich, die gleichsam um die Wette weinten. Während sie den Verwundeten hinauftragen half und dem Arzte reichte, was er zum Verband benötigte, fluchte sie dem Schicksal und fragte, wo sie das Geld hernehmen solle, Krüppel zu ernähren.[211] Nicht genug an dem Alten, jetzt verlor auch noch der Kleine seine Füße! Sie hörte nicht auf, während auch im Nachbarhause herzzerreißendes Geschrei ertönte; dort jammerten die Frau und die Kinder Chicots über den leblosen Körper. Es war inzwischen finstere Nacht geworden; die erschöpften Arbeiter aßen endlich ihre Suppe; das Dorf war in düstere Stille versunken, die nur durch den lauten Jammer der Hinterbliebenen des toten Kameraden gestört wurde.

Drei Wochen waren verflossen. Die Amputation konnte vermieden werden; das Gutachten des Arztes lautete dahin, daß Johannes seine Beine behalten, jedoch hinken werde. Nach einer eingehenden Untersuchung entschloß sich die Gesellschaft, eine Unterstützung von fünfzig Franken zu bewilligen. Außerdem hatte sie versprochen, für den kleinen Krüppel, wenn er hergestellt sei, einen Tagesdienst zu suchen. Das bedeutete nichtsdestoweniger eine weitere Verschlimmerung der Notlage der Familie, denn der Vater war dermaßen erschüttert, daß er in schweres Fieber fiel.

Seit Donnerstag ging Maheu wieder zur Grube, und es war heute Sonntag. Am Abend sprach Etienne davon, daß der erste Dezember nahe sei: er hätte wissen mögen, ob die Gesellschaft ihre Drohung zur Tat machen werde. Man blieb bis zehn Uhr im Gespräch beisammen und wartete auf Katharina, die bei Chaval zu verweilen schien. Aber sie kam nicht. Die Maheu schloß in stummer Wut die Tür. Etienne konnte lange nicht einschlafen; ihn beunruhigte dies leere Bett, in dem Alzire so wenig Platz einnahm.

Am folgenden Tage kam Katharina immer noch nicht heim. Erst am zweitnächsten Tage erfuhr bei der Rückkehr aus der Grube das Ehepaar Maheu, daß Chaval Katharina bei sich behielt. Er machte ihr so abscheuliche Szenen, daß sie sich entschloß, zu ihm zu ziehen. Um den Vorwürfen zu entgehen, hatte er plötzlich den Voreuxschacht verlassen und sich in Jean-Bart, der Grube des Herrn Deneulin, anwerben lassen, wohin[212] sie ihm als Schlepperin folgte. Sie wohnten übrigens bei Piquette in Montsou.

Zuerst sprach Maheu davon, daß er den Mann ohrfeigen, seine Tochter aber mit Stößen in den Rücken zurückführen werde. Aber dann machte er eine Gebärde der Entsagung; was nütze es? Das gehe immer so; man könne die Mädchen nicht hindern, sich einem Manne anzuhängen, wenn sie Lust dazu hätten. Das beste sei, ruhig die Hochzeit abzuwarten. Allein die Maheu nahm die Dinge nicht so leicht.

»Habe ich sie etwa geprügelt, als sie diesen Chaval nahm?« rief sie Etienne zu, der sie still und bleich anhörte. »Sie sind ein vernünftiger Mann, antworten Sie! Wir haben ihr ihre Freiheit gelassen, weil – mein Gott! – alle darüber hinwegkommen müssen. Ich selbst war schwanger, als der Vater mich zur Frau nahm. Aber ich bin meinen Eltern nicht durchgegangen; niemals würde ich diese Schmutzigkeit begangen haben, meinen Erwerb einem Manne zuzutragen, der seiner nicht bedurfte ... Das ist ekelhaft! Es wird so weit kommen, daß man keine Kinder mehr hat.«

Da Etienne noch immer nur mit Kopfnicken antwortete, fuhr sie fort:

»Ein Mädchen, das jeden Abend gehen konnte, wohin es wollte! Was steckt denn nur in ihr? Nicht warten zu können, bis ich sie verheiratete, nachdem sie uns aus der Patsche geholfen hätte. Das wäre doch natürlich gewesen: man hat doch eine Tochter, damit sie arbeitet ... Aber wir waren zu gut; wir hätten ihr nicht erlauben sollen, sich mit einem Manne die Zeit zu vertreiben. Man reicht ihnen den kleinen Finger, und sie wollen die ganze Hand.«

Alzire nickte mit dem Kopfe. Leonore und Heinrich, erschreckt durch dies Gewitter, weinten leise, während die Mutter jetzt die Unglücksfälle der Familie aufzählte. Zacharias mußte verheiratet werden; der alte Bonnemort saß mit verkrümmten Beinen auf seinem Sessel;[213] Johannes konnte mit seinen kaum wieder eingerichteten Gliedern vor zehn Tagen die Stube nicht verlassen, und nun der letzte Schlag: die Dirne Katharina geht mit einem Manne durch. Die ganze Familie gerate aus den Fugen; der Vater allein gehe noch zur Grube. Wie sollten sieben Personen – Estelle ungerechnet – von den drei Franken des Vaters leben? Da sei es gleich besser, alle zusammen stürzten sich in den Kanal.

»Es nützt nichts, daß du dich grämst«, sagte Maheu mit dumpfer Stimme. »Wir sind vielleicht noch nicht am Ende unseres Elends angelangt.«

Etienne, der starr auf die Fliesen geschaut hatte, blickte jetzt auf und flüsterte, die Augen in einem Zukunftstraum verloren:

»Es ist Zeit! Es ist Zeit!«

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 200-214.
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