Sechstes Kapitel

[547] Es war vier Uhr morgens; die Kühle der Aprilnacht milderte sich beim Herannahen des Tages. Die Sterne flimmerten am klaren Himmel, während helle Morgenröte den östlichen Horizont purpurn färbte. Frösteln durchzog die schlafende schwarze Landschaft; man spürte jenes unbestimmte, verschwommene Geräusch, das dem Erwachen der Erde vorausgeht.[547]

Etienne folgte, wacker ausschreitend, der nach Vandame führenden Straße. Er hatte sechs Wochen im Krankenhaus zu Montsou zugebracht. Obgleich noch gelb und sehr mager, hatte er sich doch stark genug gefühlt aufzubrechen, und er brach auf. Die Gesellschaft, die noch immer für ihre Gruben zitterte und nach und nach gewisse Leute entließ, hatte ihn verständigt, daß sie ihn nicht länger in ihren Diensten behalten könne. Sie bot ihm übrigens eine Unterstützung von hundert Franken an mit dem väterlichen Rat, die Grubenarbeit aufzugeben, weil sie künftig für ihn zu schwer sei. Doch er hatte die hundert Franken zurückgewiesen. Pluchart rief ihn nach Paris in einem Brief, dem das nötige Reisegeld beigelegt war. Er sah endlich seinen alten Traum sich verwirklichen. Am vorhergegangenen Tage hatte er das Spital verlassen und in der Schenke der Witwe Désir übernachtet. Er war früh aufgestanden und hatte nur noch einen Wunsch: seinen Kameraden Lebewohl zu sagen, ehe er in Marchiennes den Achtuhrzug bestieg.

Auf der Straße, über welche die Morgenröte ihre Helle ausbreitete, war Etienne einen Augenblick stehengeblieben. Es tat so wohl, die frische Luft des Frühjahrs einzuatmen. Ein herrlicher Morgen kündigte sich an, es wurde allmählich heller, und mit der Sonne erwachte auch das Leben der Erde. Er nahm seinen Weg wieder auf, stieß mit seinem Stabe fest auf den Boden und schaute nach der Ferne, wo die Ebene allmählich aus den nächtlichen Dünsten auftauchte. Er hatte niemand wiedergesehen. Frau Maheu hatte ihn nur ein einziges Mal im Krankenhause besucht; sie hatte gewiß nicht wiederkommen können. Allein er wußte, daß jetzt das ganze Dorf der Zweihundertvierzig in die Jean-Bart-Grube einfuhr, und daß sie selbst die Arbeit wieder aufgenommen hatte.

Allmählich bevölkerten sich die Wege. Unablässig zogen Gruppen von Bergleuten bleich und still an[548] Etienne vorüber. Man sagte, die Gesellschaft treibe Mißbrauch mit ihrem Sieg. Nach einem zweieinhalb Monate währenden Ausstand waren die Bergleute, durch Hunger überwunden, wieder zu den Gruben zurückgekehrt und hatten sich dem Verzimmerungstarif fügen müssen, dieser versteckten Lohnverminderung, die jetzt, vom Blut der Kameraden befleckt, noch verhaßter war als früher. Man stahl ihnen eine Stunde Arbeit. Man zwang sie, ihren Eid, sich nicht zu unterwerfen, zu brechen, und dieser erzwungene Meineid bedrückte sie. Die Arbeit wurde überall wieder aufgenommen, in Mirou, Magdalene, Crèvecoeur, auf dem Siegesschacht. Nach allen Richtungen zog die Herde der Arbeiter auf den noch halbdunklen Wegen dahin; lange Züge von Männern mit zu Boden gesenkten Häuptern gleich dem Vieh, das zur Schlachtbank geführt wird. Sie fröstelten in ihren Leinwandkitteln; sie kreuzten die Arme und krümmten den Rücken, auf welchem der zwischen Hemd und Jacke untergebrachte »Ziegel« einen Höcker bildete. Und diesen Massen, die stumm und düster, ohne Lachen, ohne Seitenblick zur Arbeit zurückkehrten, merkte man an, daß sie im verhaltenen Zorn die Zähne aufeinanderpreßten, daß ihr Herz von Haß geschwellt war, und daß sie nur den Geboten des Magens sich unterworfen hatten.

Je mehr er sich der Grube näherte, desto mehr sah Etienne ihre Zahl anwachsen. Fast alle gingen einzeln; die in Gruppen ankamen, lösten sich in eine Kette auf, erschöpft, überdrüssig der anderen und überdrüssig ihrer selbst. Er sah einen ganz alten Mann, dessen Augen wie glühende Kohlen unter der bleichen Stirn leuchteten. Ein anderer noch junger Arbeiter ließ ein ununterbrochenes, heftiges Schnaufen hören. Viele trugen ihre Holzschuhe in der Hand, und man hörte kaum den weichen Schritt ihrer mit dicken wollenen Strümpfen bekleideten Füße. Es war ein endloser Menschenstrom; der Marsch einer geschlagenen Armee, die gesenkten Hauptes dahinzieht, von dem geheimen Verlangen[549] beseelt, den Kampf wieder aufzunehmen und sich zu rächen.

Als Etienne im Jean-Bart ankam, tauchte das Werk im Dämmerlicht des Morgens auf; die an den Gerüsten hängenden Laternen brannten noch. Über den dunklen Gebäuden stieg ein leichter Rauch empor, einem weißen, zartrot gefärbten Federbusch gleichend. Er nahm seinen Weg über die Treppe des Sichtungswerkes, um sich nach dem Aufnahmesaal zu begeben.

Die Einfahrt begann eben, die Arbeiter kamen von der Baracke herab, um zum Einfahrtsschacht zu schreiten. In diesem Getümmel und Lärm blieb er einen Augenblick unbeweglich stehen. Rollende Hunde erschütterten den mit Eisenplatten belegten Fußboden, die Räder drehten sich und rollten die Kabel auf und ab inmitten des Getöses der Schallrohre, der Signalglocken und der auf den Signalblock niederfallenden Hämmer. Er fand das Ungeheuer wieder, das seine Ration von Menschenfleisch verschlingt, die auf und nieder steigenden Schalen, die unablässig ihre Last hinabführen mit dem leichten Schlucken eines gefräßigen Riesen. Seit seinem Unglücksfall hatte er eine nervöse Abscheu gegen die Grube. Bei dem Anblick der versinkenden Schalen drehte sich ihm das Innere um; er mußte den Kopf wegwenden, der Schacht erbitterte ihn.

In dem noch dunklen Aufnahmesaal, in dem die ausgebrannten Laternen fahles Zwielicht verbreiteten, bemerkte er kein befreundetes Antlitz. Die Bergleute, die hier mit nackten Füßen, mit Lampen in der Hand warteten, betrachteten ihn mit großen, unruhigen Augen, dann neigten sie das Haupt und wichen beschämt vor ihm zurück. Ohne Zweifel kannten sie ihn und hatten keinen Groll mehr gegen ihn. Sie schienen ihn im Gegenteil zu fürchten und erröteten bei dem Gedanken, daß er ihnen Feigheit vorwerfen könne. Ihre Haltung schwellte sein Herz mit Stolz; er vergaß, daß diese Elenden ihn gesteinigt hatten; er gab sich wieder seinem Traum hin, diese Leute in Helden zu verwandeln[550] und das Volk zu leiten, diese Naturkraft, die sich selbst verzehrte.

Wieder versank eine Schale mit ihrer Last, und als eben eine neue Gruppe heranrückte, erblickte er einen Arbeiter, der sein Gehilfe im Streik gewesen, einen Wackern, der geschworen hatte, lieber zu sterben, als sich zu ergeben.

»Du auch?« murmelte er betrübt.

Der andere erbleichte; seine Lippen zitterten; dann sagte er mit einer Gebärde der Entschuldigung:

»Was willst du? Ich habe ein Weib.«

In der neuen Schar, die aus der Baracke herankam, erkannte er jetzt alle.

»Du auch! Du auch! Du auch! ...«

Alle zitterten und stammelten mit erstickter Stimme:

»Ich habe eine Mutter, ich habe Kinder, ich muß Brot schaffen.«

Die Schale blieb jetzt länger unten. Sie warteten in düsterer Stimmung, in einem so tiefen Leid über ihre Niederlage, daß ihre Blicke es vermieden, den seinigen zu begegnen, und starr auf den Schacht gerichtet waren.

»Was ist mit Frau Maheu?« fragte Etienne.

Sie antworteten nicht. Einer machte ein Zeichen, daß sie bald komme; andere erhoben mitleidig die Arme und riefen:

»Ach, die arme Frau, welches Elend!«

Dann trat wieder Stillschweigen ein; als der Kamerad ihnen die Hand reichte, um ihnen Lebewohl zu sagen, drückten alle kräftig diese Hand und legten in den stummen Händedruck ihre Wut darüber, nachgegeben zu haben, und die fieberhafte Hoffnung auf Rache. Die Schale war wieder da, sie stiegen ein und versanken, von dem Abgrund verschlungen.

Jetzt erschien Pierron mit der frei brennenden Lampe der Aufseher, die an seiner Ledermütze befestigt war. Seit acht Tagen war er Gruppenvorsteher, und die Arbeiter traten beiseite, denn die Ehrenbezeigungen machten ihn stolz. Der Anblick Etiennes war ihm mißliebig;[551] er trat jedoch näher und beruhigte sich schließlich, als der junge Mann ihm seine Abreise ankündigte. Sie plauderten eine Weile. Pierron erzählte, sein Weib führe jetzt die Schankwirtschaft »Zum Fortschritt«; sie habe es den Herren zu danken, die sich ihr alle freundlich erzeigten. Doch er unterbrach sich um den Vater Mouquet auszuschelten, den er beschuldigte, daß er den Pferdedünger nicht zur rechten Zeit heraufgeschafft habe. Der Alte hörte unterwürfig diesen Tadel an; ehe er hinabfuhr, drückte auch er Etienne lange und warm die Hand, und auch in seinem Händedruck lag der verhaltene Zorn und die Verheißung künftigen Aufruhrs; diese Greisenhand, die in der seinigen zitterte, dieser alte Mann, der ihm den Tod seiner Kinder verzieh: sie riefen in Etienne eine so tiefe Bewegung hervor, daß er den Alten verschwinden sah, ohne ein Wort hervorbringen zu können.

»Kommt denn Frau Maheu heute nicht?« fragte er nach einer Weile den Aufseher.

Anfänglich tat Pierron, als habe er nicht verstanden, denn er meinte, es genüge, vom Unglück zu reden, um davon angesteckt zu werden. Dann sagte er, sich entfernend, als wolle er seinen Leuten einen Auftrag geben:

»Was? Die Maheu? Da ist sie ja.«

In der Tat kam eben die Maheu aus der Baracke herunter, mit der Lampe ausgerüstet, bekleidet mit dem Kittel und der Hose der Bergleute, das Haupt in die Lederhaube gehüllt. Gerührt durch das Schicksal dieser unglücklichen, schwergeprüften Frau, hatte die Gesellschaft in außerordentlicher Gnade gestattet, daß sie, obgleich schon vierzig Jahre alt, die Arbeit aufnehmen dürfe. Da es schwierig gewesen wäre, sie bei der Abfuhr zu beschäftigen, verwendete man sie zur Handhabung eines kleinen Ventilators, den man in der Nordgalerie in den sogenannten Höllenregionen aufgestellt hatte, wo eine andere Lüftungsvorrichtung nicht möglich war. In der Tiefe dieses glühenden Schlundes trieb sie bei einer Hitze von vierzig Grad, die ihr die Haut[552] röstete, zehn Stunden hindurch das Rad dieses Ventilators, daß ihr schließlich die Glieder im Leibe wie gebrochen waren. Mit dieser Arbeit erwarb sie täglich dreißig Sous.

Als Etienne sie bemerkte, so bejammernswert in ihrer Männerkleidung, Brust und Leib von der Feuchtigkeit aufgedunsen, war er tief ergriffen und stammelte einige unverständliche Worte, um ihr zu erklären, daß er fortziehe und ihr Lebewohl habe sagen wollen.

Sie schaute ihn an, ohne ihn zu hören, und sagte endlich, das Du beibehaltend:

»Du bist erstaunt, mich zu sehen. Allerdings hatte ich gedroht, den ersten der Meinigen, der einfahren werde, zu erwürgen – und jetzt fahre ich selber ein; ich müßte mich selber erdrosseln, nicht wahr? Ach, es wäre ja schon geschehen, wenn der Alte nicht da wäre und die Kleinen ...«

In langsamem, müdem Tone fuhr sie fort; sie entschuldigte sich nicht, sie erzählte nur leise, daß sie vor Hunger fast umgekommen seien, und daß sie sich endlich entschlossen habe, die Arbeit aufzunehmen, damit man sie nicht aus dem Dorf vertreibe.

»Wie geht es dem Alten?« fragte Etienne.

»Er verhält sich immer still und anständig, aber mit seinem Verstand ist es aus ... Wegen seines Verbrechens hat man ihn nicht verurteilt. Es war davon die Rede, ihn in ein Irrenhaus zu stecken, aber ich wollte es nicht; man hätte ihn dort vergiftet. Seine Geschichte hat immerhin viel Verdruß verursacht. Er wird niemals eine Pension bekommen; einer der Herren sagte mir, es sei unmoralisch, wenn man ihm eine Pension gebe.«

»Arbeitet Johannes?«

»Ja; die Herren haben für ihn eine Tagesarbeit gefunden; er verdient zwanzig Sous. Ich beklage mich nicht; die Herren haben sich gütig gezeigt, wie sie selbst erklärten. Die zwanzig Sous meines Jungen und meine dreißig dazu geben fünfzig. Wären wir nicht unsere sechs im Hause, würde man sich satt essen[553] können. Estelle ißt jetzt auch schon, und das schlimmste ist, daß man noch vier bis fünf Jahre warten muß, ehe Leonore und Heinrich stark genug sind, in die Grube hinabzusteigen.«

Etienne konnte eine schmerzliche Gebärde nicht unterdrücken.

»Auch sie!« rief er.

Eine helle Röte war in die fahlen Wangen der Frau Maheu aufgestiegen, während ihre Augen sich belebten. Doch sie senkte die Schultern wieder, gleichsam erdrückt von der Last des Geschickes.

»Was willst du? Sie nach den übrigen ... Alle haben die Knochen dabei gelassen. Jetzt sind sie an der Reihe.«

Sie schwieg. Es kamen Leute mit vollen Karren vorüber und störten sie im Gespräch. Durch die großen, staubigen Fenster drang das Tageslicht ein und hüllte die Laternen in graues Dämmern. Alle drei Minuten kam die Maschine wieder in Bewegung, die Kabel rollten ab, die Schalen fuhren fort, Menschen zu verschlingen.

»Vorwärts, Müßiggänger, beeilt euch!« rief Pierron. »Einsteigen, einsteigen! Wir werden heute nicht fertig.«

Die Maheu, die er besonders anschaute, rührte sich nicht. Sie hatte schon drei Schalen hinabsteigen lassen und sagte, gleichsam aus einem Traum erwachend und der ersten Worte Etiennes sich erinnernd:

»Also du gehst?«

»Ja, heute morgen.«

»Du hast recht, besser anderswo sein, wenn man es kann ... Es freut mich, dich noch einmal gesehen zu haben; du weißt nun wenigstens, daß ich keinen Groll gegen dich hege. Nach dem Gemetzel war ich einen Augenblick in der Stimmung, dich zu erwürgen; doch man überlegt die Dinge, nicht wahr? Und man findet schließlich, daß niemand schuld daran ist. Nein, nein, es war nicht deine Schuld, es war die Schuld aller Menschen.«[554]

Sie sprach jetzt ganz ruhig von den Toten, von ihrem Mann, von Zacharias, von Katharina; Tränen erschienen in ihren Augen erst, als sie den Namen Alzire aussprach. Sie hatte die Ruhe einer verständigen Frau wiedergewonnen und urteilte sehr klug über alle Dinge. Es wird den Spießbürgern kein Glück bringen, so viele arme Leute getötet zu haben; auch sie werden eines Tages bestraft; denn alles wird schließlich vergolten. Man wird es gar nicht nötig haben, sich einzumengen, der Bau wird von selbst in die Luft fliegen; die Soldaten werden auf die Herren schießen, wie sie auf die Arbeiter geschossen haben. In hundertjähriger Ergebung, in der ererbten Disziplin, die sie von neuem in das Joch beugte, war sie zu diesen Erwägungen gelangt, zu der Gewißheit, daß die Ungerechtigkeit nicht länger andauern könne, und daß, wenn es keinen gerechten Gott gebe, ein anderer erstehen werde, um die Armen und Elenden zu rächen.

Sie sprach leise, mit mißtrauischen Blicken. Weil Pierron sich näherte, fügte sie laut hinzu:

»Wenn du abreist, mußt du bei uns deine Sachen abholen ... Es sind noch zwei Hemden da, drei Taschentücher, eine alte Hose.«

Etienne lehnte es mit einer Handbewegung ab, diese geringen Habseligkeiten zurückzunehmen, die merkwürdigerweise dem Trödler entgangen waren.

»Nein, es lohnt nicht der Mühe; es soll für die Kinder zurückbleiben ... Ich werde mich in Paris mit dem Nötigen versorgen.«

Wieder waren zwei Schalen hinabgefahren, und Pierron entschloß sich, die Maheu direkt aufzufordern.

»Man erwartet Euch; ist bald genug geschwätzt?«

Doch sie wandte ihm den Rücken zu. Was hatte dieser Verräter den Eifrigen zu spielen? Die Einfahrt hatte ihn nicht zu kümmern. Seine Leute verabscheuten ihn schon genug. Sie blieb noch, mit der Lampe in der Hand, fröstelnd in dem ewigen Luftzug, wenngleich das Wetter schon milde war.[555]

Weder Etienne noch sie fanden weitere Worte. Sie standen einander gegenüber mit so schwerem Herzen, daß sie sich noch gern etwas gesagt hätten.

Endlich sprach sie, nur um etwas zu reden:

»Hör' einmal, habe ich dir schon erzählt? ... Philomene ist fort.«

»Wie, fort?«

»Ja, mit einem Grubenarbeiter aus dem Pas-de-Calais. Ich hatte Angst, daß sie mir die zwei Rangen vielleicht auf dem Halse lassen könne. Doch sie hat sie mitgenommen ... Ist das nicht drollig; ein Weib, das Blut speit und aussieht, als müsse es jeden Augenblick abfahren!«

Sie stand einen Augenblick nachdenklich da; dann fuhr sie langsam fort:

»Auch über mich wurde genug geredet! ... Erinnerst du dich? Mein Gott! Nach dem Tode meines Mannes hätte manches geschehen können, wenn ich jünger gewesen wäre; nicht wahr? Aber heute ist es mir lieber, daß nichts geschehen ist; wir würden nur Reue darüber empfinden.«

»Ja, wir würden Reue darüber empfinden«, wiederholte Etienne.

Das war alles; sie sprachen nicht mehr. Eine Schale erwartete sie; man rief sie zornig an und drohte ihr mit Strafe. Da entschloß sie sich und reichte ihm die Hand. Sehr ergriffen schaute er sie noch immer an, wie sie so arg mitgenommen, so abgelebt war, mit ihrem fahlen Antlitz, ihrem unter der blauen Haube hervorquellenden, farblosen Haar. Dieser lange, stumme Händedruck gab ihm die Hoffnung wieder auf den Tag, an dem man wieder anfangen werde. Er begriff vollkommen: in der Tiefe ihrer Augen lag ruhige Zuversicht. Auf baldiges Wiedersehen! sagte der stumme Blick; dann soll der Hauptstreich geführt werden!

»Ist das eine verdammte Müßiggängerin!« schimpfte Pierron.[556]

Die Maheu wurde zur Schale gedrängt und stieg mit vier andern ein. Man zog die Signalschnur, die Schale hakte sich los und versank in die Tiefe; man sah nur noch den rasenden Lauf des Kabels.

Etienne verließ die Grube. Unter dem Sichtungsschuppen sah er ein Wesen mit ausgestreckten Beinen mitten in einer dichten Kohlenlage auf der Erde sitzen. Es war Johannes, der als »Reiniger« angestellt war. Er hielt einen Kohlenblock zwischen den Beinen und säuberte ihn mit Hammerschlägen von den Schieferbruchstücken; feiner Kohlenruß legte sich so dicht auf sein Gesicht, daß der junge Mann ihn niemals erkannt haben würde, hätte der Knabe nicht die Affenfratze mit den weit abstehenden Ohren und den grünlichen Augen gehabt. Er lachte frech und zerschlug den Block mit einem letzten Streich, völlig eingehüllt von dem auffliegenden Kohlenstaub.

Als Etienne wieder draußen war, folgte er einen Augenblick nachdenklich der Straße. Gedanken aller Art jagten sich in ihm. Aber er hatte das Gefühl der frischen Luft, des freien Himmels, und schöpfte tief Atem. Die Sonne stieg siegreich am Horizont empor; frohes Leben erwachte in der ganzen Landschaft. Eine Goldflut ergoß sich von Osten nach Westen über die unermeßliche Ebene. Lebenswärme breitete sich immer weiter aus, die Seufzer der Erde, der Sang der Vögel, das Rauschen der Bäche und Wälder umfing ihn. Das Leben war schön; die alte Welt wollte einen neuen Frühling durchleben.

Von dieser Hoffnung durchdrungen, verlangsamte Etienne seinen Gang, und seine Augen schweiften nach rechts und links, in die Schönheit des Frühlings. Er dachte an sich selbst; er fühlte sich stark, gereift durch die harten Erfahrungen in der Grube. Seine Erziehung war beendet; er zog gerüstet weiter als denkender Soldat der Revolution, welcher der Gesellschaft den Krieg erklärt hat – der Gesellschaft, wie er sie sah, und wie er sie verdammte. In seiner Freude darüber, daß er sich[557] an die Seite Plucharts begab und – gleich Pluchart – ein Führer werden solle, formte er die Worte seiner künftigen Reden. Er gedachte sein Programm zu erweitern; die bürgerliche Verfeinerung, die ihn über seine Klasse erhoben hatte, jagte ihn in einen noch größeren Haß gegen das Spießbürgertum. Er fühlte das Bedürfnis, die Arbeiter, deren Elendgeruch er jetzt nicht mehr ertragen konnte, auf Ruhmeshöhe zu stellen, sie als die einzig Großen, als die einzig Fehlerlosen zu zeigen, als den einzigen Adel und die einzige Kraft, in der die Menschheit sich verjüngen könne. Schon sah er sich auf der Rednertribüne, mit dem Volke triumphierend, wenn das Volk ihn nicht verschlang.

Der Sang einer Lerche in großer Höhe ließ ihn emporblicken. Kleine rote Wölkchen, die letzten Dünste der Nacht, zerflossen in dem durchsichtigen Blau; die Gestalten von Suwarin und Rasseneur tauchten undeutlich vor ihm auf. Wenn jeder die Macht an sich riß, mußte alles mißlingen. Selbst die berühmte Internationale, welche die Welt hätte erneuern müssen, ging kläglich unter, nachdem ihre furchtbare Armee in inneren Kämpfen sich zersplittert hatte. Sollte Darwin recht haben, daß die Welt nichts sei als ein Kampf, in dem die Starken die Schwachen verschlingen – nur um der Schönheit und Fortpflanzung der Gattung willen? Diese Frage verwirrte ihn, obgleich er als ein mit seinem Wissen zufriedener Mann darüber hinwegging. Ein Gedanke verscheuchte alle seine Zweifel und entzückte ihn: der Gedanke, das erstemal, wenn er reden werde, seine ehemalige Theorie wieder aufzunehmen. Wenn eine Klasse ausgerottet werden mußte, werde sicherlich das lebenskräftige, noch junge Volk das in Genüssen erschöpfte Bürgertum verzehren. Neues Blut werde die neue Gesellschaft durchströmen.

Träumerisch ging er weiter, mit seinem Stock auf die Kiesel des Weges schlagend; als er die Blicke umherschweifen ließ, erkannte er die verschiedenen Teile der Gegend. Bei der »Ochsengabel« erinnerte er sich, daß[558] er dort den Befehl über die Scharen übernommen an jenem Tage, als die Gruben verwüstet wurden. Heute begann wieder die tierische, tödliche, schlecht bezahlte Arbeit. Ihm war, als höre er unter der Erde in einer Tiefe von siebenhundert Meter dumpfe, regelmäßige Schläge: es waren die Kameraden, die er vorhin hatte einfahren sehen, die schwarzen Kameraden, die in ihrer stummen Wut auf die Kohle losschlugen. Ohne Zweifel waren sie besiegt; sie hatten Geld und Tote auf der Wahlstatt gelassen; aber Paris wird die im Voreuxschacht gefallenen Schüsse nicht vergessen; aus dieser unheilbaren Wunde wird auch das Blut des Kaiserreiches ausströmen. Wenn die Industriekrise zu Ende geht und die Fabriken, eine nach der andern, wieder geöffnet werden, wird nichtsdestoweniger der Krieg erklärt und künftig kein Friede möglich sein. Die Bergleute kannten ihre Zahl, hatten ihre Kraft erprobt, hatten mit ihrem Schrei nach Gerechtigkeit alle Arbeiter von ganz Frankreich aufgerüttelt. Ihre Niederlage beruhigte denn auch niemand. Man begriff, daß die Revolution sich unaufhörlich erneuern werde, vielleicht morgen schon; mit dem allgemeinen Streik, mit dem Zusammenhalt aller Arbeiter, die, mit Hilfskassen ausgerüstet, monatelang Widerstand leisten würden. Wieder einmal war der zerfallenden Gesellschaft ein Stoß versetzt; sie fühlte, daß neue und immer neue Stöße kommen würden, bis der alte, erschütterte Bau zusammenstürzen werde wie der Voreuxschacht, der im Abgrund versunken war.

Etienne wandte sich links und schlug den Weg nach Joiselle ein. Er erinnerte sich; er hatte daselbst die Scharen verhindert, sich auf Gaston-Marie zu stürzen. In der Ferne sah er im hellen Sonnenlicht die Schachttürme mehrerer Gruben, den von Mirou rechts, den der Magdalenengrube und Crèvecoeur nahe beieinander. Überall summte und dröhnte die Arbeit; die Schläge der Spitzhacken, die er unter der Erde zu hören glaubte, fielen jetzt von einem Ende der Ebene bis zum andern.[559] Ein Schlag und noch ein Schlag und immerfort Schläge unter den Feldern, unter den Straßen, unter den Dörfern, die im Sonnenlichte lachten: die finstere Arbeit in unterirdischen Gefängnissen, erdrückt von der ungeheuren Masse der Felsen. Er überlegte, daß Gewalt die Dinge vielleicht nicht beschleunigen werde. Durchschnittene Kabel, losgerissene Schienen, zerschlagene Lampen: welch unnütze Arbeit! Wahrhaftig, es lohnt der Mühe, daß eine Schar von dreitausend Menschen verheerend durch das Land zieht! Sein Verstand reifte; er hatte sich der Racheglüste seiner Jugend entledigt. Jawohl, die Maheu mit ihrem gesunden Sinn hatte das Richtige getroffen: Man wird den Hauptstreich führen; man wird sich ruhig zu einem Heere vereinigen, wenn die Gesetze es gestatten; an dem Tage, wenn man sich stark genug fühlt und sieht, daß Millionen von Arbeitern einigen Tausenden von Nichtstuern gegenüberstehen, reißt man die Macht an sich und gebietet. Welch Erwachen der Wahrheit und Gerechtigkeit! Zur selbigen Stunde wird es aus sein mit dem gemästeten ungeheuerlichen Götzen, der in der Tiefe seines Heiligtums verborgen hockt, in jener unbekannten Ferne, wo die Armen und Elenden ihn mit ihrem Fleische nähren.

Etienne verließ jetzt den nach Vandame führenden Weg und erreichte die Heerstraße. Rechts lag in weiter Ferne Montsou, kaum noch sichtbar. Vor sich hatte er die Ruinen des Voreuxschachtes, dessen Pumpen drei Maschinen unablässig trieben. Dann folgten am Horizont die anderen Gruben: die Siegesgrube, Sankt-Thomas, Feutry-Cantel, während im Norden die Türme der Hochöfen und die Batterien der Koksöfen ihren Rauch in die klare Morgenluft sandten. Wenn er den Achtuhrzug nicht versäumen wollte, mußte er sich sputen, denn er hatte noch sechs Kilometer zurückzulegen.

Unter seinen Füßen dröhnten unaufhörlich die dumpfen Schläge der Spitzhacken. Die Kameraden waren alle da; er fühlte, wie sie ihm auf Schritt und Tritt folgten. War das nicht die Maheu unter diesem Rübenfelde,[560] mit gekrümmtem Rücken und heiserem Schnaufen, begleitet von dem Schnarren des Ventilators? Rechts und links und weiterhin glaubte er andere zu erkennen unter den Getreidefeldern, unter den Hecken, unter den mit jungem Laub bedeckten Bäumen. Die Aprilsonne stand jetzt hoch am Himmel, strahlte in vollem Glanze und erwärmte die fruchtbare Erde. Aus ihrem nährenden Schoß sproß das Leben hervor; die platzenden Knospen entfalteten sich zu grünen Blättern; die Felder erbebten unter der Üppigkeit der Gräser. Allenthalben dehnten sich die Körner und sprengten die Erde in ihrem mächtigen Bedürfnis nach Licht und Wärme. Strömende Säfte flossen in Flüsterstimmen dahin; das Geräusch der Keime glich einem unermeßlichen Kuß. Die Kameraden hieben heftig drauflos, immer vernehmlicher, als ob sie sich dem Erdboden näherten. Von diesem Getöse war die Landschaft erfüllt, die im Sonnenglanz des Frühlingsmorgens dalag. Menschen drangen zur Oberfläche, eine schwarze Armee von Rächern, langsam aus den Furchen hervorwachsend. Anschwellen würde dies Heer im Laufe der Jahrhunderte, und bald würde unter seinem Schritt die Erde erbeben.[561]

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 547-562.
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