Viertes Kapitel

[508] Noch in derselben Nacht, die dem Einsturz der Voreuxgrube folgte, war Herr Hennebeau nach Paris gereist, weil er die Verwaltungsräte persönlich von dem Unglück benachrichtigen wollte, noch ehe die Zeitungen die Meldung brachten. Als er am nächsten Tage zurückkehrte, fand man ihn sehr ruhig mit der Miene eines vornehm auftretenden Direktors. Er hatte sich augenscheinlich entlastet, von der Gunst der Herren nichts eingebüßt; im Gegenteil: vierundzwanzig Stunden später wurde die Verfügung unterzeichnet, die ihn zum Offizier der Ehrenlegion ernannte.

War der Direktor verschont geblieben, so wankte die Gesellschaft unter dem furchtbaren Schlag. Nicht wegen der Millionen, die sie verlor, sondern wegen der dumpfen, unaufhörlichen Furcht vor dem kommenden Tage angesichts der Vernichtung einer ihrer Gruben. Sie war so schwer getroffen, daß sie das Bedürfnis fühlte, Stillschweigen zu beobachten. Warum sollte man aus dem Banditen – wenn er schon entdeckt würde – einen Märtyrer machen, dessen furchtbarer Heldenmut ein ganzes Geschlecht von Brandstiftern und Mördern erzeugen würde? Sie hatte übrigens keine Ahnung von dem Schuldigen; sie glaubte an ein Heer von Verschwörern, weil sie nicht annehmen konnte, daß ein einziger Mensch die Kühnheit und die Kraft zu einem solchen Zerstörungswerke gefunden; das war eben der Gedanke, der sie nicht zur Ruhe kommen ließ,[508] der Gedanke, daß ihre Gruben fortan von immer größerer Gefahr bedroht seien. Der Direktor hatte die Weisung erhalten, ein ausgebreitetes Spionagesystem einzurichten, dann einzeln und unauffällig die gefährlichen Männer, die er im Verdacht habe, daß sie an dem Verbrechen beteiligt seien, zu entlassen. Man begnügte sich mit dieser Säuberung, die man für einen Akt großer politischer Klugheit hielt.

Der Oberaufseher Dansaert wurde augenblicklich entfernt. Als Vorwand diente sein Verhalten in der Gefahr, die Feigheit des Führers, der seine Leute im Stich ließ: ein stillschweigendes Zugeständnis an die Grubenarbeiter, die ihn verabscheuten.

Im Volk waren indessen gewisse Gerüchte entstanden, und die Direktion war genötigt, einer Zeitung eine Berichtigung zu senden, um die Behauptung zu widerlegen, daß die Streikenden ein Pulverfaß hätten auffliegen lassen. Nach einer flüchtig durchgeführten Untersuchung kam der Regierungsingenieur in seinem Bericht zu dem Schlusse, daß man es mit einem natürlichen Bruch der Verzimmerung zu tun habe, herbeigeführt durch eine Verschiebung des Erdreichs. Die Gesellschaft hatte es vorgezogen zu schweigen und den Tadel wegen mangelhafter Aufsicht über sich ergehen zu lassen. Schon nach drei Tagen füllte die Katastrophe alle Pariser Blätter; man sprach nur noch von den Arbeitern, die in den Gruben dem sicheren Tode verfallen seien; die jeden Morgen veröffentlichten Depeschen wurden gierig verschlungen. In Montsou selbst lebten die Bürger in Furcht; bei dem bloßen Namen »Voreux« erstarb ihnen das Wort in der Kehle; es bildete sich eine Legende, die selbst die Kühnsten nur zitternd und im Flüsterton weitererzählten. Die ganze Gegend war von großem Mitleid für die Opfer ergriffen; es gab förmliche Wallfahrten zur verwüsteten Grube; ganze Familien wanderten herbei, um bei dem schrecklichen Anblick der Trümmer zu erschauern, die so schwer auf den unglücklichen Begrabenen lasteten.[509]

Deneulin, zum Abteilungsingenieur ernannt, trat nach der Katastrophe sein Amt an. Seine erste Sorge war, den Kanal wieder einzudämmen, denn der reißende Strom vergrößerte mit jeder Stunde die Schäden; etwa hundert Arbeiter wurden zur Herstellung eines neuen Dammes eingestellt. Zweimal wurde er durch die Gewalt der Flut weggerissen. Dann stellte man Pumpen auf; es war ein erbitterter Kampf; Schritt für Schritt wurde der verlorene Boden wiedererobert.

Noch weit größer war der Eifer, der an die Rettung der verschütteten Arbeiter gesetzt wurde. Negrel war beauftragt, äußerste Anstrengungen zu versuchen, und es fehlte ihm dabei nicht an hilfreichen Armen; im Gefühl der Brüderlichkeit boten alle Bergleute sich ihm an. Sie vergaßen den Streik, dachten nicht an Bezahlung; da es sich darum handelte, Kameraden zu befreien, die in Lebensgefahr schwebten, wollten sie ihre Haut wagen und kümmerten sich nicht darum, ob man ihnen etwas gab oder nicht. Alle waren da mit ihren Werkzeugen, in zitternder Erwartung, wo man das Rettungswerk in Angriff nehmen solle. Viele waren noch krank, von nervösem Zittern geschüttelt, mit kaltem Schweiß bedeckt, eine Beute fortwährender Schreckensgesichter. Aber sie erhoben sich von ihrem Lager und zeigten sich als die Eifrigsten im Kampfe mit der Erde, als hätten sie an ihr Vergeltung zu üben. Unglücklicherweise begann die Verlegenheit gleich bei der ersten Frage: Was war zu tun? Wie sollte man hinabgelangen? Auf welcher Seite sollte der Angriff auf das Gestein beginnen?

Negrel war der Meinung, daß kein einziger der Unglücklichen mehr am Leben sei. Die fünfzehn Leute waren sicherlich umgekommen, ertrunken oder erstickt. Allein bei diesen Grubenkatastrophen war es Pflicht, anzunehmen, daß die verschütteten Leute noch lebten. Er traf also seine Maßnahmen. Die Aufseher und die alten Bergleute, die er zu Rate zog, waren einhellig folgender Meinung: Vor dem steigenden Wasser hatten sich die Kameraden von Galerie zu Galerie in die Höhe[510] geflüchtet, bis zu den höchsten Schlägen, so daß sie ohne Zweifel in einem der obersten Gänge eingeschlossen waren. Dies stimmte übrigens mit den Berichten des Vater Mouquet überein, dessen verworrene Erzählung sogar die Annahme gestattete, daß in der Kopflosigkeit der Flucht die Schar sich in kleine Gruppen aufgelöst habe, die sich auf alle Stockwerke verteilten. Doch über die Frage, wo Rettungsversuche möglich seien, gingen die Ansichten der Aufseher auseinander. Da die der Erdoberfläche am nächsten gelegenen Gänge in einer Tiefe von hundertfünfzig Meter lagen, konnte man nicht daran denken, einen Schacht zu bauen. Es blieb daher nur Réquillart als einziger Zugang, von dem aus man sich nähern konnte. Das schlimmste war, daß die alte Grube, gleichfalls überflutet, mit dem Voreuxschacht nicht mehr in Verbindung war; über dem Spiegel der unterirdischen Wasser waren nur Bruchstücke von Galerien frei, die mit dem ersten Absatz zusammenhingen. Das Auspumpen mußte Jahre in Anspruch nehmen; der vernünftigste Entschluß war, die Galerien zu untersuchen, um zu sehen, ob diese nicht an die überschwemmten Gänge stießen, an deren Ende man die Grubenarbeiter vermutete. Bevor man zu diesem Schluß gelangte, hatte man lange hin und her gestritten, um eine Menge von undurchführbaren Vorschlägen zu verwerfen.

Negrel durchsuchte die staubigen Archive, und als er die alten Pläne der beiden Gruben entdeckt hatte, studierte er sie und stellte die Punkte fest, wo das Rettungswerk versucht werden müsse. Diese Arbeit erhitzte ihn allmählich; trotz seiner spöttischen Gleichgültigkeit für Menschen und Dinge wurde er von einem fieberhaften Eifer ergriffen. Als man in Réquillart hinabzusteigen versuchte, ergaben sich die ersten Schwierigkeiten; man mußte die Hindernisse wegräumen, welche die Mündung des Schachtes verlegten, die Schlehen- und Hagedornsträucher ausrotten, die schadhaften Leitern ausbessern. Dann begann die Einfahrt.[511] Der Ingenieur, der mit zehn Arbeitern hinabstieg, ließ sie mit ihren eisernen Geräten an gewisse Stellen der Ader klopfen, die er ihnen bezeichnete; und in der tiefen Stille drückte jeder ein Ohr an die Wand und horchte, ob auf das Klopfen keine Erwiderung käme; doch vergebens durcheilte man alle Galerien, kein Echo antwortete. Die Verlegenheit wuchs: an welcher Stelle sollte die Schicht angegriffen werden? Wem sollte man sich zu nähern suchen? Schien doch niemand da zu sein. Sie suchten indes hartnäckig weiter mit wachsender Sorge.

Vom ersten Tage an erschien Frau Maheu schon am ersten Morgen zu Réquillart. Sie setzte sich am Eingang des Schachtes auf einen Balken und rührte sich nicht bis zum Abend. Wenn ein Mann heraufstieg, erhob sie sich und befragte ihn mit den Augen: Nichts? Nein, nichts. Sie setzte sich wieder und wartete weiter ohne ein Wort, mit hartem, verschlossenem Gesichte. Auch Johannes hatte, als er sein Versteck aufgestöbert sah, herumzuschleichen begonnen mit der Verstörtheit eines Raubtieres, dessen Beute durch Spürhunde verraten ist. Er dachte an den kleinen Soldaten, der unter dem Felsen lag; er fürchtete, man könne den Schläfer dort in seiner Ruhe stören. Allein jener Teil der Grube war überschwemmt, und die Nachforschungen richteten sich mehr nach links, zur Westgalerie. Anfänglich war auch Philomene gekommen, um Zacharias zu begleiten, der mit zur Rettungsmannschaft gehörte; dann fand sie es langweilig, ohne Grund und ohne Nutzen zu frieren; sie blieb zu Hause und verbrachte ihre Tage lässig und gleichgültig, hustend vom Morgen bis zum Abend. Zacharias hingegen hatte keine Ruhe mehr; er würde die Erde gegessen haben, um seine Schwester wiederzufinden. In seinen Träumen sah und hörte er sie, durch den Hunger ganz abgemagert, die Kehle zerrissen von unausgesetzten, verzweifelten Hilferufen. Zweimal hatte er ohne Wahl und Regel nachgraben wollen, indem er behauptete, da müsse es sein, er fühle es. Der Ingenieur[512] ließ ihn nicht mehr hinabsteigen; er entfernte sich nicht von diesem Schacht, aus dem er verjagt worden; er hatte nicht die Ruhe, neben seiner Mutter sitzend zu warten; ein Bedürfnis zu handeln trieb ihn unablässig umher.

So war der dritte Tag herangekommen. Negrel war verzweifelt und beschloß, am Abend die Rettungsarbeit einzustellen. Als er mittags nach dem Imbiß mit seinen Leuten zurückkehrte, um einen letzten Versuch zu machen, sah er zu seiner großen Überraschung Zacharias ganz rot, gestikulierend und schreiend, aus der Grube hervorkommen.

»Sie ist unten, sie hat mir geantwortet!« schrie er. »Kommt! Kommt!«

Er war trotz der Abwehr des Wächters die Leitern hinabgeschlüpft und versicherte, daß man unten im ersten Gang der Wilhelmader gepocht habe.

»Wir sind dort zweimal vorübergekommen«, bemerkte Negrel ungläubig. »Doch wir wollen sehen.«

Frau Maheu hatte sich erhoben, und man mußte sie gewaltsam hindern hinabzusteigen. Sie wartete am Rande des Schachtes und blickte starr in die Finsternis.

Unten führte Negrel selbst drei Schläge in größeren Abständen, dann drückte er sein Ohr an die Kohlenwand und gebot den Arbeitern tiefstes Schweigen. Er vernahm keinerlei Geräusch und schüttelte den Kopf; augenscheinlich hatte der arme Junge geträumt. Zacharias wurde wütend und pochte seinerseits an die Wand; dann horchte er, seine Augen glänzten, ein freudiges Beben schüttelte seine Glieder. Jetzt machten die anderen Arbeiter den Versuch; alle vernahmen sehr deutlich die von fern kommende Antwort. Der Ingenieur war erstaunt; er drückte noch einmal das Ohr an die Wand und vernahm schließlich ein Geräusch, ein kaum hörbares gleichmäßiges Pochen, den wohlbekannten Hilferuf der Bergleute, den sie klopfen, wenn sie in Gefahr sind. Die Kohle vermittelt den Ton sehr weit,[513] mit der Klarheit des Kristalls. Ein Aufseher schätzte die Dicke des Blocks, der sie von den verunglückten Kameraden trennte, auf nicht weniger als fünfzig Meter. Und doch brach helle Freude aus unter den Arbeitern, als könnten sie ihnen schon die Hände reichen. Negrel mußte augenblicklich die Arbeiten in Angriff nehmen.

Als Zacharias oben seine Mutter erblickte, sanken sie sich in die Arme.

»Freut euch nicht zu früh«, sagte grausam Frau Pierron, die aus Neugier einen Spaziergang nach der Grube gemacht hatte. »Wenn Katharina doch nicht unten wäre, würdet ihr euch nachher grämen.«

Das war richtig, Katharina war vielleicht anderswo.

»Laß mich in Frieden!« schrie Zacharias wütend. »Sie ist da, ich weiß es.«

Frau Maheu hatte sich wieder gesetzt und wartete stumm mit unbeweglichem Gesicht.

Als die Nachricht in Montsou eintraf, liefen die Leute herbei. Man sah nichts, aber man blieb doch da; man mußte die Neugierigen in angemessener Entfernung halten. Unten wurde Tag und Nacht gearbeitet. Aus Besorgnis, daß man auf ein Hindernis stoßen könne, hatte der Ingenieur drei Wege in absteigender Richtung durch die Ader schlagen lassen, die nach dem Punkte liefen, wo man die eingeschlossenen Arbeiter vermutete. Ein einziger Häuer konnte in dem engen Schlauch die Kohle schlagen; alle zwei Stunden ward er abgelöst; die Kohle ward in Körben hinausbefördert, die von Hand zu Hand gingen, durch eine Kette von Menschen, die sich immer verlängerte. Anfänglich ging die Arbeit sehr rasch: man kam an einem Tage sechs Meter weit.

Zacharias hatte die Erlaubnis erhalten, mit zu der auserlesenen Mannschaft zu gehören, welche die Gänge anlegte, ein Ehrenposten, um den man sich stritt. Er wurde böse, als man nach den vorschriftsmäßigen zwei Stunden schwerer Arbeit ihn ablösen wollte. Er erbettelte von den Kameraden ihren Anteil an der Arbeit[514] und weigerte sich, die Spitzhacke aus der Hand zu legen. Sein Weg war den anderen bald voraus; er bearbeitete die Kohle mit einem solchen Feuereifer, daß man seinen fauchenden Atem hörte, der aus einer unterirdischen Schmiedeesse zu kommen schien. Als er schwarz und beschmutzt, von Müdigkeit betäubt, hervorkroch, sank er zu Boden; man mußte ihn in eine Decke hüllen. Dann stieg er – noch wankend – wieder hinab, und der Kampf begann von neuem, die schweren, dumpfen Schläge, die unterdrückten Klagen, ein siegreiches Kämpfen. Das schlimmste war, daß die Kohle jetzt hart wurde; zweimal zerbrach er die Geräte in seiner Verzweiflung, nicht rasch genug vorwärts zu kommen. Er litt auch durch die Hitze, die mit jedem Meter, um den er vorrückte, zunahm und unerträglich wurde in der Tiefe dieses engen Schlundes, wo es keine Luftströmung gab. Wohl war ein Handventilator in Tätigkeit gesetzt worden; allein die Lüftung wollte nicht recht gelingen; dreimal wurden ohnmächtige Häuer herausgeholt, die zu ersticken drohten.

Negrel lebte bei seinen Arbeitern in der Grube. Man brachte ihm seine Mahlzeiten; zuweilen schlief er zwei Stunden auf einem Bund Stroh, in seinen Mantel gehüllt. Der Mut wurde aufrechterhalten durch das Flehen der Unglücklichen da unten, durch den immer deutlicher vernehmbaren Anruf, den sie an die Kohlenwand schlugen, damit man sich beeile. Das Pochen tönte jetzt sehr hell, mit musikalischer Klangfülle. Es gab den Arbeitern die Richtung; bei diesem kristallhellen Geräusche drangen sie vor, wie man in den Schlachten bei Kanonendonner vorrückt. Jedesmal, wenn ein Häuer abgelöst wurde, stieg Negrel hinab, klopfte an die Wand und preßte sein Ohr daran; und jedesmal – bis jetzt – war rasch und dringlich die Antwort gekommen. Er hatte keinen Zweifel mehr; man bewegte sich in der rechten Richtung; aber welche verhängnisvolle Langsamkeit! Man werde gewiß nicht rechtzeitig ankommen. Wohl hatte man in zwei Tagen dreizehn[515] Meter geschlagen; allein am dritten Tage waren es nur fünf Meter, am vierten Tage nur drei. Die Kohle wurde immer dichter und härter, so daß man jetzt kaum zwei Meter bewältigte. An neunten Tage war man – nach übermenschlichen Anstrengungen – zweiunddreißig Meter tief eingedrungen, und man berechnete, daß man noch zwanzig Meter zu schlagen habe. Für die Gefangenen begann der zwölfte Tag, zwölfmal vierundzwanzig Stunden ohne Brot, ohne Feuer, in Finsternis! Dieser entsetzliche Gedanke trieb allen die Tränen in die Augen und verlieh den ermattenden Armen neue Kraft. Die fernen Schläge wurden seit gestern schwächer; man zitterte, daß sie ganz aufhören könnten.

Frau Maheu erschien jeden Tag, um sich an der Mündung des Schachtes niederzusetzen. Sie brachte auf ihrem Arm Estelle mit, die nicht vom Morgen bis zum Abend allein bleiben konnte. Stunde um Stunde verfolgte sie so die Arbeit, teilte Hoffnungen und die Entmutigung der Arbeiter. In den harrenden Gruppen und weit umher bis nach Montsou herrschte fieberhafte Erwartung. Alle Herzen des Landes schlugen dort unten unter der Erde.

Als man am neunten Tage zur Frühstücksstunde Zacharias rief, um ihn ablösen zu lassen, antwortete er nicht. Er war wie wahnsinnig und hieb unter fortwährenden Flüchen auf die Wand ein. Negrel, der einen Augenblick den Gang verlassen hatte, konnte ihn nicht zum Gehorsam bringen; es waren nur noch ein Aufseher mit drei Bergleuten da. Ohne Zweifel hatte Zacharias, weil er ein schlechtes Licht hatte und wütend war über den flackernden Schein, der ihn in der Arbeit hinderte, die Unklugheit begangen, seine Lampe zu öffnen. Man hatte es streng verboten, um schlagende Wetter zu verhüten; das Gas lagerte dicht in diesen engen luftlosen Schläuchen. Plötzlich gab es einen Schlag, eine Feuergarbe schoß aus dem Schlauch hervor, wie aus dem Rohr einer Kanone. Alles flammte; die Luft entzündete sich wie Schießpulver, von einem Ende der[516] Galerien bis zum andern. Der Flammenstrom riß den Aufseher und die drei Arbeiter mit sich fort, fuhr durch den Schlund empor und brach mit großer Gewalt hervor, Steine und Balkentrümmer weit umherstreuend. Die neugierig harrenden Leute ergriffen die Flucht; Frau Maheu erhob sich, das entsetzt aufschreiende Kind an ihre Brust drückend.

Als Negrel und die Arbeiter zurückkehrten, wurden sie von Zorn ergriffen. Sie stampften die Erde, wie eine Stiefmutter, die in wahnsinniger Laune der Grausamkeit ihre Kinder tötet. Man opferte sich auf, um Kameraden zur Hilfe zu eilen, und nun mußte man noch mehr Leute verlieren! Nach drei Stunden mühseliger und gefahrvoller Arbeit konnte man endlich eindringen und die Opfer herausschaffen. Weder der Aufseher noch die Arbeiter waren tot; doch waren ihre Leiber mit furchtbaren Wunden bedeckt, die einen abscheulichen Geruch von verbranntem Fleisch verbreiteten. Sie hatten Feuer getrunken, das ihnen die Kehlen verbrannte, stießen ein unablässiges Geschrei aus und flehten, man möge ihnen den Tod geben. Einer der drei Arbeiter war jener Mann, der während des Streiks die Pumpe zu Gaston-Marie mit seiner Hacke in Trümmer geschlagen hatte; die anderen hatten zerschundene Hände, weil sie Ziegelstücke nach den Soldaten geschleudert hatten. Die bleiche, bebende Menge entblößte das Haupt, als die Verunglückten vorübergetragen wurden.

Frau Maheu wartete aufrecht stehend. Endlich kam Zacharias' Leiche zum Vorschein; die Kleider waren verbrannt, der Körper unkenntlich. Der Kopf war nicht mehr da; er war infolge der Explosion verschwunden. Als man diese schaudererregenden Reste auf eine Tragbahre gelegt hatte, folgte die Maheu mechanisch, mit glühenden, tränenleeren Augen. Sie hielt die schlafende Estelle in den Armen und ging – eine Schmerzensgestalt mit fliegenden Haaren – davon. Als der traurige Zug im Dorf ankam, war Philomene wie vom Donner gerührt;[517] ihre Augen verwandelten sich in einen unversieglichen Tränenquell, und dies brachte ihr Erleichterung. Doch schon war die Mutter nach Réquillart zurückgekehrt; sie hatte dem Sohne das Geleit gegeben und kam jetzt zurück, um die Tochter zu erwarten.

Dann vergingen noch drei Tage. Unter unerhörten Schwierigkeiten hatte man das Rettungswerk wieder aufgenommen; die Rettungswege waren gücklicherweise durch die schlagenden Wetter nicht eingestürzt; aber es herrschte darin eine so schlechte heiße Luft, daß man noch weitere Ventilatoren hatte aufstellen müssen. Alle zwanzig Minuten wurden die Häuer abgelöst. Die Arbeit machte Fortschritte, man war kaum noch zwei Meter von den Kameraden getrennt. Allein man arbeitete jetzt mit schwerem Herzen und hieb nur auf die Kohle los, um an ihr Rache zu nehmen; denn das Klopfen hatte aufgehört, das helle Pochen war nicht mehr zu vernehmen. Es war der zwölfte Arbeitstag und der fünfzehnte nach der Katastrophe; seit dem Morgen war Totenstille eingetreten.

Der neuerliche Unglücksfall verdoppelte die Neugier der Bevölkerung von Montsou; die Spießbürger veranstalteten Ausflüge mit solchem Eifer, daß die Grégoire sich entschlossen, den übrigen zu folgen. Man vereinbarte einen Auflug, und es wurde bestimmt, daß sie in Wagen nach dem Schacht fahren sollten, während Frau Hennebeau die Damen Luzie und Johanna Deneulin mitbringen sollte. Herr Deneulin sollte ihnen seinen Werkplatz zeigen, dann wollte man über Réquillart zurückkehren, wo sie von Negrel erfahren würden, wieweit die Galerien gediehen seien, und ob er noch immer Hoffnung habe. Am Abend werde man zusammen speisen.

Als gegen drei Uhr die Grégoire und ihre Tochter bei der eingestürzten Grube den Wagen verließen, fanden sie Frau Hennebeau, die schon angekommen war. Sie trug eine marineblaue Toilette und schützte sich mit einem Schirm gegen die bleiche Februarsonne. Der[518] Himmel war klar, das Wetter mild wie im Frühjahr. Herr Hennebeau war in Gesellschaft des Herrn Deneulin; er hörte mit zerstreutem Sinn die Erklärungen, die der letztere ihm über die großen Anstrengungen gab, die man hatte machen müssen, um den Kanal einzudämmen. Johanna, die stets ein Zeichenalbum mit sich führte, entwarf eine Skizze, entzückt von dem furchtbar-schönen Motiv; während Luzie, die auf einem zertrümmerten Karren neben ihr saß, gleichfalls Rufe wohlgefälligen Erstaunens ausstieß. Der Damm war noch unfertig und ließ durch zahlreiche Risse Wasser durchsickern, das sich schäumend in die ungeheure Grube ergoß. Indes leerte sich der Krater allmählich; das Wasser wurde von der Erde eingesogen; es sank immer mehr, so daß das furchtbare Durcheinander am Boden der Grube sichtbar wurde.

»Es lohnt wahrlich nicht die Mühe, sich das anzusehen!« rief Grégoire enttäuscht.

Cäcilie, rosig in ihrer blühenden Gesundheit, war glücklich, die reine Luft einzuatmen; sie scherzte in ihrem Frohsinn, während Frau Hennebeau angewidert war.

»Es ist wirklich nicht hübsch«, sagte sie.

Die beiden Ingenieure lachten. Sie suchten die Besucher zu interessieren, führten sie überall umher und erklärten ihnen die Arbeit der Pumpe und der Ramme. Doch die Damen wurden unruhig; sie schauerten, als sie erfuhren, daß die Pumpen vielleicht sechs, sieben Jahre zu arbeiten hätten, ehe die Grube wieder in betriebsfähigen Zustand gebracht werden könne. Nein, sie wollten lieber an anderes denken; diese Verwüstung verursache nur schlechte Träume.

»Brechen wir auf«, sagte Frau Hennebeau und lenkte ihre Schritte zu dem Wagen.

Johanna und Luzie widersprachen. Wie, so schnell? Die Zeichnung war noch nicht fertig. Sie wollten bleiben; der Vater werde sie am Abend zum Essen begleiten.[519] Herr Hennebeau nahm allein mit seiner Frau in dem Wagen Platz.

»Gut, fahren Sie voraus«, sagte Herr Grégoire. »Wir folgen Ihnen bald; wir haben einen kurzen Besuch im Arbeiterdorfe zu machen, hoffen aber gleichzeitig mit Ihnen in Réquillart einzutreffen.«

Er stieg hinter Frau und Tochter ein; und während der andere Wagen längs des Kanals dahinfuhr, erklomm der ihre langsam den Hügel des Arbeiterdorfes.

Sie wollten den Ausflug mit einer milden Handlung beschließen. Der Tod Zacharias' hatte sie mit tiefem Mitleid für die unglückliche Familie Maheu erfüllt, von der in der ganzen Gegend gesprochen wurde. Sie beklagten nicht den Vater, diesen Räuber, diesen Soldatentöter, den man niedergeschlagen hatte wie einen Wolf. Nur das Schicksal der Mutter rührte sie, dieser armen Frau, die ihren Sohn nach dem Gatten verlor, und deren Tochter, in der Grube verschüttet, vielleicht auch schon eine Leiche war; außerdem sprach man von einem siechen Großvater, von einem Sohn, dem ein Einsturz die Beine zerschlagen, und von einer Tochter, die während des Streiks verhungert war. Hatte auch die Familie ihr Unglück zum Teil verdient, so hatten sie doch beschlossen, Mildtätigkeit und Versöhnlichkeit zu bekunden, indem sie selbst ein Almosen brachten. Unter einer Bank ihres Wagens lagen zwei sorgfältig eingehüllte Pakete.

Ein altes Weib zeigte dem Kutscher das Haus der Maheu, Nummer 16 im zweiten Block. Doch als die Grégoire mit ihren Paketen den Wagen verlassen hatten, klopften sie vergebens an; schließlich bearbeiteten sie die Tür mit ihren Fäusten, ohne eine Antwort zu bekommen; das Haus hallte trübselig wider wie eine durch den Tod geleerte, längst verlassene Wohnstätte.

»Es ist niemand da«, sagte Cäcilie enttäuscht. »Das ist aber ärgerlich! Was sollen wir mit all dem Zeug anfangen?«[520]

Plötzlich öffnete sich die Tür des Nachbarhauses, und die Levaque erschien.

»Ach, bitte tausendmal um Vergebung, gnädiger Herr und gnädige Frau! ... Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein! ... Sie suchen die Nachbarin? Sie ist nicht zu Haus; sie ist in Réquillart ...«

In reichlichem Wortschwall erzählte sie ihnen die Geschichte, wiederholte ihnen, daß man sich gegenseitig unterstützen müsse, daß sie Leonore und Heinrich bei sich behalte, um der Mutter zu ermöglichen, in Réquillart das Ergebnis der Rettungsarbeiten abzuwarten. Ihre Blicke waren auf die Pakete gefallen, und sie begann von ihrer armen, verwitweten Tochter zu sprechen, ihr eigenes Elend zu schildern, wobei ihre Augen habgierig leuchteten. Dann murmelte sie mit zögernder Miene:

»Ich habe den Schlüssel. Wenn die Herrschaften durchaus hineingehen wollen ... Der Großvater ist da!«

Die Grégoire sahen sie erstaunt an. Wie? Der Großvater wäre da? Es hat doch niemand geantwortet! Schlief er denn? Als die Levaque sich entschlossen hatte, die Tür zu öffnen, standen sie verblüfft auf der Schwelle.

Bonnemort saß allein da, mit weit offenen, starren Augen, vor dem kalten Kamin an seinen Stuhl gefesselt. Die Stube schien jetzt größer, weil die Möbel aus gefirnißtem weichen Holz und die Kuckucksuhr, die den Wohnraum einst belebt hatten, nicht mehr da waren; und an den Wänden mit dem grünlichen, rohen Bewurf war nichts geblieben als die Bildnisse des Kaisers und der Kaiserin, deren rote Lippen wohlwollend lächelten. Der Alte rührte sich nicht und zuckte nicht einmal mit den Wimpern, als durch die offene Tür das helle Tageslicht hereinfiel; er verharrte auf seinem Platz mit toter Miene, als habe er alle die Leute nicht gesehen. Zu seinen Füßen stand eine mit Asche gefüllte Schüssel.

»Achten Sie nicht darauf, wenn er nicht höflich ist«, bemerkte die Levaque in verbindlichem Ton. »Es scheint[521] in seinem Kopf nicht alles richtig zu sein. Seit vierzehn Tagen redet er nicht mehr.«

Plötzlich wurde Bonnemort von einer Erschütterung ergriffen; es war ein tiefes Röcheln, das aus dem Leibe zu kommen schien; und er spie in die Schüssel seinen dicken, schwarzen Speichel. Die Asche war davon durchtränkt. Dann versank er wieder in seine Unbeweglichkeit; er rührte sich nur von Zeit zu Zeit, um zu speien.

Verwirrt und angeekelt rangen die Grégoire nach einigen freundlichen und ermutigenden Worten.

»Seid Ihr erkältet, mein Lieber?« sagte der Vater.

Der Alte blickte starr auf die Wand und wandte nicht den Kopf. Es trat wieder tiefe Stille ein.

»Man sollte Euch einen Brusttee kochen«, fügte die Mutter hinzu.

Er bewahrte seine lautlose Starrheit.

»Papa,« flüsterte Cäcilie, »man hat uns ja erzählt, daß er krank sei; aber wir haben nicht mehr daran gedacht ...«

Sie unterbrach sich sehr verlegen. Nachdem sie einen Topf mit Rindfleisch und zwei Flaschen Wein auf den Tisch gestellt hatte, öffnete sie das zweite Paket und zog ein Paar riesiger Schuhe hervor. Es war das für den Großvater bestimmte Geschenk, und sie hielt ganz verwirrt einen Schuh in jeder Hand, während sie die geschwollenen Füße des armen Mannes betrachtete, der wohl nie wieder gehen sollte.

»Die Schuhe kommen etwas spät, nicht wahr, Alter?« bemerkte Herr Grégoire, um die Unterhaltung ein wenig zu beleben; »aber das schadet nichts; besser spät als nie.«

Bonnemort hörte nicht und antwortete nicht; sein furchtbares Gesicht behielt die Kälte und Härte eines Steines.

Da stellte Cäcilie leise die Schuhe neben die Wand. Doch sie hatte vergebens Vorsicht geübt, die Nägel klangen hell auf den Fliesen. Das plumpe Schuhwerk in der kahlen Stube war ein Gegenstand der Verlegenheit.[522]

»Ach, der dankt nicht!« rief die Levaque mit einem Blick voll Begehrlichkeit nach den Schuhen. »Es ist geradeso gut, wie wenn sie einer Ente Brillen schenkten.«

In diesem Ton fortfahrend, bearbeitete sie die Grégoire, um sie in ihre Behausung zu locken, wo sie sie milder zu stimmen hoffte. Endlich ersann sie einen Vorwand; sie rühmte Leonore und Heinrich als artige, niedliche, kluge Kinder, die auf alle Fragen gescheit wie die Engel zu antworten wüßten. Sie würden alles sagen, was der gnädige Herr und die gnädige Frau zu wissen wünschten.

»Kommst du einen Augenblick hinüber, Mädel?« fragte der Vater, der froh war hinauszukommen.

»Ja, ich folge euch sogleich«, antwortete Cäcilie.

Sie blieb mit Bonnemort allein. Was die Zitternde hier festbannte, war der Umstand, daß sie den Alten wiederzuerkennen glaubte. Wo hatte sie dies viereckige, fahle, von der Kohle besprenkelte Gesicht schon gesehen? Plötzlich erinnerte sie sich; sie sah eine heulende Volksmenge, die sie umgab; sie fühlte kalte Hände, die ihr den Hals preßten. Er war es; sie erkannte den Mann, sie betrachtete die auf den Knien ruhenden Hände, die Riesenfäuste des hockenden Arbeiters, dessen ganze Kraft in den Handknöcheln lag. Bonnemort schien allmählich zu erwachen; er bemerkte sie und betrachtete sie mit finsterer Miene. Eine Flamme stieg in seine Wangen empor; ein nervöser Ruck verzerrte seinen Mund, aus dem ein dünner Faden schwarzen Speichels floß. Zueinander hingezogen, verharrten sie regungslos, sie blühend, frisch und wohlgenährt in der langen Trägheit und dem gesättigten Wohlergehen ihres Geschlechts; er vom Wasser aufgedunsen, in der jämmerlichen Scheußlichkeit eines gequälten Tieres, verderbt vom Vater auf den Sohn durch ein Jahrhundert Arbeit und Hunger ...

Als die Grégoire, überrascht, Cäcilie nicht kommen zu sehen, nach zehn Minuten zurückkehrten, brachen sie[523] in furchtbares Geschrei aus. Cäcilie lag auf der Erde, mit blauem Gesicht, erwürgt; an ihrem Halse waren die roten Spuren einer Faust zu sehen. Bonnemort war neben ihr zu Boden gesunken und konnte sich nicht erheben. Noch waren seine Hände gekrümmt; er betrachtete die Menschen mit stumpfer Miene und weit offenen Augen. Im Sturze hatte er seine Schüssel zerschlagen; die Asche war verschüttet, und der Schmutz des schwarzen Speichels hatte die ganze Stube bespritzt. Das mitgebrachte Paar plumper Schuhe stand unberührt an der Wand.

Es ist niemals gelungen, den Sachverhalt dieses schrecklichen Ereignisses genau festzustellen. Warum hatte Cäcilie sich ihm genähert? Wie hatte der an seinen Stuhl gefesselte Bonnemort sie am Halse fassen können? Augenscheinlich mußte er, als er sie einmal festhielt, in blinder Wut sie immer stärker gewürgt, ihr Schreien erstickt haben und mit ihr zu Boden gestürzt sein, bis sie den Geist aufgab. Kein Geräusch, keine Klage war durch die dünne Scheidewand des Nachbarhauses gedrungen. Man mußte an einen plötzlichen Wahnsinnsanfall glauben, an unerklärliche Mordgier beim Anblick dieses Mädchens. Eine solche Wildheit mußte verblüffen bei diesem siechen Greise, der bisher als rechtschaffener Mensch gelebt, als fügsames Tier, allen revolutionären Gedanken fremd. Welches Rachegelüst – ihm selbst unbekannt – war aus seinem Innern in seinen Schädel emporgestiegen? Im Entsetzen über diese Schauertat gelangte man zu dem Schluß, daß ein unbewußtes Verbrechen geschehen, das Verbrechen eines Irrsinnigen.

Die Grégoire lagen schluchzend, vom Schmerz erstickt, am Boden vor ihrer angebeteten Tochter, dieser so lang ersehnten Tochter, die sie mit allem Guten überhäuft hatten, zu deren Bett sie auf Fußspitzen geschlichen waren, um sie schlafen zu sehen. Mit ihr sank auch ihr eigenes Dasein in Trümmer; wozu fortan noch leben, ohne Cäcilie?[524]

Die Levaque schrie außer sich:

»Der alte Lump! Was hat er da angerichtet? Wer hätte das vermuten können? ... Und die Maheu wollte heute abend gar nicht heimkehren. Soll ich sie holen?«

Die Eltern der Ermordeten antworteten nicht; sie waren vernichtet.

»Ja, es wird besser sein ... Ich gehe sie holen.«

Doch bevor sie hinausging, warf die Levaque ihre Blicke auf die Schuhe. Das Dorf war in Aufregung geraten, die Menge drängte sich schon vor dem Hause; wie leicht könnten die Schuhe gestohlen werden. Auch war bei den Maheu kein Mann mehr, um sie zu tragen. Vorsichtig trug sie die Schuhe weg; sie mußten Bouteloup genau passen.

Das Ehepaar Hennebeau wartete in Réquillart mit Negrel lange auf die Grégoire. Der Ingenieur war aus der Grube heraufgekommen und erzählte Einzelheiten: man hoffe noch am Abend des nämlichen Tages die Verbindung mit den Eingeschlossenen herzustellen, aber man werde sicherlich nur Leichen finden, denn die Totenstille dauere fort. Hinter dem Ingenieur saß die Maheu auf einem Balken und hörte mit bleichem Gesicht seine Mitteilungen an, als die Levaque ankam und ihr die Missetat des Alten erzählte. Sie machte nur eine gereizte und ungeduldige Bewegung, doch folgte sie der Levaque.

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 508-525.
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Stifter, Adalbert

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

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