Zweites Kapitel

[96] In die enge Stube drangen allmählich graue Lichtstreifen ein, die sich an der Decke fächerartig entfalteten. Die eingeschlossene Luft wurde immer drückender. Alle setzten ihren nächtlichen Schlaf fort, Leonore und Heinrich einander in den Armen liegend, Alzire mit zurückgesunkenem Haupte, auf ihren Höcker gestützt, während Vater Bonnemort für sich allein im Bett von Zacharias und Johannes mit offenem Munde schnarchte. Kein Laut kam aus dem Zimmer, wo Frau Maheu wieder eingeschlafen war, während Estelle im Arm der Mutter lag.

Auf der Kuckucksuhr in der unteren Stube schlug es sechs. Längs der Häuserreihen des Arbeiterdorfes hörte man Türen auf- und zugehen, dann das Klappern der Holzschuhe auf dem Pflaster der Fußsteige: die Sichterinnen begaben sich zur Grube. Dann wurde es wieder still bis sieben Uhr. Um diese Stunde wurden die Fensterläden geöffnet, man hörte gähnen und husten durch die Mauern, eine Kaffeemühle knirschte lange; in der Stube aber wollte noch immer niemand wach werden.

Doch bei einem Geräusch von Maulschellen und einem Geheul, das aus der Ferne kam, richtete Alzire sich plötzlich in die Höhe. Sie merkte sogleich, wie spät es sei, und eilte mit nackten Füßen zum Lager der Mutter, um sie aufzurütteln.

»Mutter, Mutter, es ist spät, und du hast einen Gang zu machen! ... Gib acht, du wirst Estelle erdrücken!«

»Bei Gott!« brummte die Frau und rieb sich die Augen; »man ist so matt, daß man den ganzen Tag schlafen möchte ... Kleide Leonore und Heinrich an, ich nehme sie mit. Hab' acht auf Estelle; ich will sie hierlassen, sie könnte bei diesem Hundewetter krank werden.«

Sie wusch sich in aller Hast, warf einen alten blauen Rock, ihren besten, über und hüllte sich in ein Tuch[97] von grauem Wollstoff, auf das sie gestern erst zwei Flecke gemacht hatte.

»Und Suppe soll ich kochen! Mein Gott, mein Gott! ...« brummte sie von neuem.

Während ihre Mutter, alles beiseiteschiebend, hinunterging, kehrte Alzire in die Stube zurück und nahm Estelle mit, die wieder zu heulen begonnen hatte. Sie war an das Geschrei der Kleinen schon gewöhnt; mit acht Jahren war sie schon klug wie eine Frau, wenn es galt, das Kind zu beruhigen und zu zerstreuen. Sie legte sie sacht in ihr noch warmes Bett und schläferte sie wieder ein, indem sie ihr einen Finger in den Mund steckte. Es war Zeit, denn neuer Lärm brach los. Sie mußte Frieden stiften zwischen Leonore und Heinrich, die endlich erwachten. Diese Kinder vertrugen und halsten sich nur, wenn sie schliefen. Das sechsjährige Mädchen fiel über das Brüderchen her, sobald es erwachte, und prügelte das um zwei Jahre jüngere Knäblein, das die Püffe nicht erwidern konnte. Beide hatten denselben zu groß geratenen, aufgetriebenen Kopf voll struppiger, gelber Haare. Alzire mußte ihre Schwester bei den Füßen zerren und ihr drohen, daß sie sie gründlich verprügeln werde. Dann gab es ein Stampfen und Schreien wegen des Waschens und bei jedem Kleidungsstück, das sie ihnen anlegte. Man ließ die Fensterläden geschlossen, um den Schlaf des Vaters Bonnemort nicht zu stören. Doch er schnarchte fort inmitten des greulichen Lärmes der Kinder.

»Das Frühstück ist fertig. Kommt ihr endlich herunter?« rief Frau Maheu.

Sie hatte unten die Fensterläden geöffnet, das Feuer geschürt und Kohle zugelegt. Sie hatte gehofft, daß der Alte nicht alle Suppe verschlungen habe; allein sie fand den Topf leer. Deshalb ließ sie eine Hand voll Nudeln aufkochen, die sie seit drei Tagen in Vorrat gehalten. Man werde sie ohne Butter essen, so wie sie aus dem Wasser kommen, dachte sie; von dem Butterrest, der gestern noch da war, sei wohl nichts geblieben.[98] Zu ihrer Überraschung fand sie aber, daß Katharina, nachdem sie die »Ziegel« zurechtgemacht, noch ein faustgroßes Stückchen übriggelassen hatte. Der Speiseschrank jedoch war leer: nichts, nicht das kleinste Krümchen Brot, kein Knochen zum Abnagen. Was sollten sie anfangen, falls der Krämer Maigrat ihnen den Kredit verweigerte und die Spießbürger in der Piolaine ihr keine hundert Sous gaben? Wenn die Mannsleute und das Mädchen von der Grube zurückkommen, müssen sie doch essen; denn man habe leider noch kein Mittel erfunden, wie man leben könne, ohne zu essen.

»Kommt ihr endlich?« rief sie zornig. »Ich hätte schon fort sein sollen.«

Als Alzire und die kleineren Kinder da waren, verteilte sie die Nudeln auf drei kleine Teller. Sie selbst habe keinen Hunger, sagte sie. Obgleich Katharina den Kaffeesatz von gestern schon einmal aufgegossen hatte, schüttete sie noch mehr Wasser darüber und trank zwei große Gläser von diesem Kaffee, der so dünn war, daß er Rostwasser glich. Es werde ihr schon Leib und Seele zusammenhalten, meinte sie.

»Höre,« sagte sie wiederholt zu Alzire, »du läßt deinen Großvater schlafen und gibst acht, daß Estelle nicht aus dem Bett fällt; wenn sie erwachen und zu stark schreien sollte, hast du da ein Stück Zucker, das du im Wasser löst; davon gibst du ihr einige Löffel voll ... Ich weiß, du bist klug und wirst den Zucker nicht essen.«

»Und die Schule, Mama?«

»Die Schule bleibt für einen andern Tag ... Ich brauche dich heute.«

»Soll ich die Suppe machen, wenn du spät kommst?«

»Die Suppe, die Suppe ... Warte damit, bis ich komme.«

Mit der Altklugheit eines verkrüppelten Mädchens begabt, wußte Alzire sehr gut die Suppe zu bereiten. Sie schien indes die Mutter zu verstehen und drang nicht weiter in sie. Jetzt war das ganze Arbeiterdorf[99] erwacht; die Kinder gingen scharenweise zur Schule, man hörte das Geklapper ihrer Überschuhe. Es schlug acht Uhr; bei den Levaque, den linksseitigen Nachbarn, wurde das Gespräch immer lauter. Der Werktag der Frauen begann; sie standen bei ihren Kaffeetöpfen, die Fäuste auf die Hüften gestemmt, die Zungen in ewiger Bewegung wie Mühlsteine. Ein welker Kopf mit dicken Lippen und platter Nase erschien draußen am Fenster und rief:

»Hör' einmal, es gibt was Neues!«

»Nein, nein, später!« erwiderte Frau Maheu. »Ich habe einen Gang zu machen.«

In der Angst, dem Anerbieten, ein Glas heißen Kaffee zu nehmen, nicht widerstehen zu können, trieb sie Leonore und Heinrich zur Eile an und brach mit ihnen auf. Vater Bonnemort oben schlief weiter; sein gleichmäßiges Schnarchen hallte durch das Haus.

Draußen sah Frau Maheu mit Überraschung, daß der Wind aufgehört hatte. Plötzliches Tauwetter war eingetreten; der Himmel war fahl, auf den Mauern lag eine grünliche, klebrige Feuchtigkeit, die Straßen waren mit Schmutz bedeckt, der dieser Kohlengegend eigentümlich war, schwarz wie flüssiger Ruß, dick und zäh, daß die Schuhe darin steckenblieben. Sie mußte sogleich Leonore ohrfeigen, die sich den Spaß machte, mit ihren Schuhen den Schlamm aufzuheben wie mit der Spitze einer Schaufel. Als sie aus dem Dorfe waren, gingen sie längs des Kohlenlagers und Kanals dahin und, um den Weg abzukürzen, quer durch Feldwege zwischen allerlei wüstem Terrain, das mit alten, moosbedeckten Planken eingefriedet war. Es folgten Schuppen, langgestreckte Fabrikgebäude, hohe Schlote, die Ruß spien und diese ganze wüste Landschaft, diese Fabrikumgebung, besudelten. Hinter einem Pappeldickicht sah man die Ruinen des alten, verlassenen Réquillartschachtes mit dem eingestürzten Aufzugsturm, dessen roh gezimmertes Gebälk allein aufrecht geblieben war. Frau[100] Maheu wandte sich jetzt rechts und betrat die Heerstraße.

»Wart', schmutziges Schwein, ich werde dich lehren Kugeln machen!« rief sie.

Dies galt Heinrich, der eine Handvoll Schmutz aufgehoben hatte, den er knetete. Die beiden Kinder, von der Mutter gleichmäßig gezüchtigt, hielten nun Ordnung und begnügten sich, nach den runden Löchern zu schielen, die ihre Tritte im Schmutz zurückließen. So trotteten sie dahin, schon müde von den Anstrengungen, die sie machen mußten, um ihre Schuhe aus dem klebrigen Schmutz zu heben.

Die Straße nach Marchiennes zog sich zwischen rötlichen Feldern zwei Meilen lang dahin, geradeaus wie ein in Wagenschmiere getränktes Band. Auf der andern Seite schlängelte sich der Weg durch Montsou, das auf dem Rücken einer breiten Erhöhung lag. Diese Straßen im Norden, wie mit der Schnur zwischen den Industriestädten gezogen, in sanften Krümmungen und leichten Steigungen sich hinziehend, wurden nach und nach gebaut, gleichsam um aus dem Bezirk eine einzige Arbeiterstadt zu machen. Kleine Häuschen, aus Ziegeln erbaut und zur Aufheiterung der reizlosen Umgebung bemalt – die einen gelb, die andern blau, wieder andere schwarz, die letzteren ohne Zweifel deshalb, um sogleich bei dem schließlich doch unvermeidlichen Schwarz anzulangen –, schlängelten sich rechts und links den Abhang hinunter. Einige größere, zweistöckige Häuser, Wohnungen von Fabrikleitern, unterbrachen die gedrängte Zeile schmaler Häuserfronten. Eine Kirche, gleichfalls aus Ziegeln erbaut, glich einem neuartigen Hochofen mit ihrem viereckigen Turm, den der fliegende Kohlenstaub schon dunkel gefärbt hatte. Zwischen den Zuckerfabriken, Seilereien und Mühlen waren Tanzböden, Schenken, Bierstuben; auf tausend Häuser kamen fünfhundert Schenken.

Als sie sich dem gesellschaftlichen Werkhofe näherten – einem umfangreichen Komplex von Magazinen[101] und Arbeitsstätten –, entschloß sich Frau Maheu, die Kinder rechts und links bei der Hand zu nehmen. Jenseits des Werkplatzes stand die Behausung des Direktors, Herrn Hennebeau; es war eine Art Schweizerhaus, geräumig, nach der Straße hin durch ein Gitter abgeschlossen, mit einem Gärtchen davor, in dem einige Bäume ein kümmerliches Dasein fristeten. Eben hielt ein Wagen vor dem Tore; ein mit Orden geschmückter Herr und eine in einen Pelzmantel gehüllte Dame stiegen aus. Sie waren aus Paris zu Besuch gekommen und hatten in Marchiennes die Eisenbahn verlassen. Frau Hennebeau, die in dem Halbdunkel des Flurs erschien, stieß einen Ruf der Überraschung und der Freude aus.

»Vorwärts, ihr Schlafmützen!« brummte Frau Maheu und zog die beiden Kleinen mit sich fort, die sich im Straßenschmutz vergafften.

Vor dem Laden Maigrats war sie in großer Aufregung. Maigrat wohnte neben dem Direktor; bloß eine Mauer trennte das Haus des Direktors von dem Häuschen Maigrats. Dieser hatte auch ein Magazin, ein langes Gebäude, das sich in einem Laden ohne Fenster unmittelbar auf die Straße öffnete. Er hielt alles feil, Gewürze, Würste, Fleisch, Früchte, Brot, Bier, Küchengeräte. Als ehemaliger Aufseher im Voreuxschachte hatte er mit einer kleinen Kantine den Anfang gemacht; dank dem Schutze seiner Vorgesetzten hatte sein Handel zugenommen und nach und nach alle Kleinkrämer in Montsou erdrückt. Er monopolisierte den Handel, die bedeutende Kundschaft der Arbeiterdörfer gestattete ihm, wohlfeiler zu verkaufen und größere Kredite zu gewähren. Übrigens war er ganz in der Hand der Gesellschaft geblieben, die ihm sein Häuschen und sein Magazin erbaut hatte.

»Ich bin wieder da, Herr Maigrat«, sagte die Maheu untertänig, als sie ihn auf der Türschwelle erblickte.

Er schaute sie an, ohne zu antworten. Er war dick, von kühler Höflichkeit und bildete sich etwas darauf[102] ein, seinen einmal gefaßten Entschluß niemals zu ändern.

»Sie können mich unmöglich abweisen wie gestern«, fuhr die Maheu fort. »Wir müssen Brot zu essen haben von jetzt bis Samstag ... Allerdings schulden wir Ihnen sechzig Franken seit zwei Jahren ...«

Sie erklärte die Sache in kurzen, mühsam vorgebrachten Sätzen. Es war eine alte Schuld, die sie während des letzten Ausstandes gemacht hatten. Zwanzigmal hatten sie versprochen, die Schuld zu begleichen, aber sie konnten es nicht; sie waren nicht imstande, ihm zwei Franken alle vierzehn Tage zu geben. Überdies sei vorgestern ein Unglück dazwischengekommen: sie habe einem Schuhmacher, der ihnen mit der Pfändung drohte, zwanzig Franken bezahlen müssen. Darum seien sie jetzt ohne einen Sou; wäre dieser Zwischenfall nicht gewesen, sie hätten bis Sonnabend zu essen gehabt.

Maigrat, der die Arme auf dem dicken Bauche gekreuzt hielt, antwortete auf jede neue Bitte mit einem stummen Nein.

»Nur zwei Brote, Herr Maigrat. Ich bin ja vernünftig und verlange keinen Kaffee ... Nur zwei Brote zu drei Pfund täglich ...«

»Nein!« schrie er endlich mit voller Kraft.

Jetzt war sein Weib zum Vorschein gekommen, ein gebrechliches Geschöpf, das seine Tage über dem Geschäftsbuche hockend zubrachte und nicht aufzublicken wagte. Sie verschwand sogleich wieder, als sie das unglückliche Weib flehentliche Blicke auf sie richten sah. Man erzählte, daß ihre Ehe sehr unglücklich sei, da ihr Mann es mit der Treue nicht genau nehme.

Frau Maheu, welche die Augen noch immer bittend zu Maigrat erhob, fühlte sich belästigt durch die Art, wie er sie mit seinen kalten, klaren Äuglein musterte und gleichsam abschätzte. Sie ging weiter und zerrte Leonore und Heinrich mit sich, die aus dem Straßenschmutz Nußschalen aufgelesen hatten, deren Inneres sie untersuchten.[103]

»Das wird Ihnen kein Glück bringen, Herr Maigrat; merken Sie sich's!«

Jetzt blieben ihr nur die Bürgersleute in der Piolaine. Wenn diese nicht hundert Sous hergaben, konnten sich alle hinlegen und verrecken. Sie wandte sich links und schlug den Weg nach Joiselle ein. Hier stand das Haus der Grubenverwaltung – in dem Winkel, den die Straße bildete –, ein wahrer Palast, aus Ziegeln erbaut, wo die großen Herren aus Paris, Fürsten, Generale und Minister, alljährlich im Herbst große Essen gaben. Unterwegs sann Frau Maheu darüber nach, wie sie die hundert Sous verwenden werde: sie wollte zunächst Brot kaufen, dann Kaffee, ein Viertelpfund Butter, einen Scheffel Kartoffeln für die Frühsuppe und zum Abendbrot, endlich vielleicht ein wenig Fleischkäse, denn der Vater müsse Fleisch bekommen.

Der Pfarrer von Montsou, der Abbé Joire, kam eben vorüber und hob seine Soutane in die Höhe, um sie im Straßenkot nicht zu beschmutzen. Er war von milder Gemütsart und tat, als kümmere er sich um nichts, damit er weder die Arbeiter noch ihre Herren gegen sich erzürne.

»Guten Tag, Herr Pfarrer!« grüßte die Maheu.

Er lächelte den Kindern zu und ließ die Maheu mitten in der Straße stehen, ohne sich aufzuhalten. Die Maheu war jeder Religion bar; aber sie hatte sich plötzlich eingebildet, dieser Priester werde ihr etwas geben.

Sie setzte also ihren Weg in dem schwarzen, teigigen Schmutz fort. Zwei Kilometer hatte sie noch zurückzulegen. Erstaunt über diese weite Wanderung ließen sich die Kinder immer mehr schleppen. Rechts und links vom Wege lagen noch immer wüste Plätze, von moosbedeckten Planken eingeschlossen, und rauchgeschwärzte Fabrikgebäude, von hohen Schloten starrend. Im Freien dehnten sich dann die flachen Felder endlos aus, einem Meer von braunen Schollen gleich, in dem kein Baum sein Geäst ausbreitete, bis zur violetten Linie des Waldes von Vandame.[104]

»Mutter, trage mich!«

Sie trug sie abwechselnd. Es gab Pfützen auf der Straße; sie hob ihre Röcke in die Höhe aus Furcht, allzu schmutzig anzukommen. Dreimal war sie nahe daran, auf dem glitschigen Pflaster zu fallen. Als sie endlich vor der Auffahrt des Hauses anlangten, stürzten sich zwei riesige Hunde mit so wütendem Gebell auf sie, daß die Kleinen entsetzt aufschrien. Der Kutscher mußte eine Peitsche nehmen und die Hunde zurückjagen.

»Laßt eure Holzschuhe draußen und tretet ein«, sagte Honorine.

Die Mutter und die Kinder standen unbeweglich in dem Speisezimmer, betäubt durch die plötzliche Hitze, sehr verlegen unter den Blicken des alten Herrn und der alten Dame, die in ihren Lehnsesseln ausgestreckt lagen.

»Meine Tochter, walte deines Amtes«, sprach die alte Dame.

Die Grégoire betrauten Cäcilie damit, die Almosen auszuteilen. Dies paßte zu ihren Begriffen von einer guten Erziehung. Man mußte mildtätig sein; sie sagten selbst, ihr Haus sei das Haus des lieben Gottes. Sie schmeichelten sich übrigens, die Wohltätigkeit mit Klugheit zu üben; denn es plagte sie die ewige Angst, betrogen zu werden und das Laster zu unterstützen. Darum schenkten sie niemals Geld, niemals! Nicht zehn Sous, nicht zwei Sous; denn es sei bekannt, daß ein armer Mensch, sobald er zwei Sous besitze, sie vertrinke. Ihr Almosen bestand stets in Naturalien, besonders in warmen Kleidern, die zur Winterszeit an die armen Kinder verteilt wurden.

»Oh, die armen Kleinen!« rief Cäcilie; »wie bleich sie von der Kälte sind! ... Honorine, hole das Bündel aus dem Schrank!«

Auch die Mägde betrachteten die Unglücklichen mit Erbarmen und mit der Unruhe von Mädchen, die wegen ihres Mittagessens keine Sorge haben. Während das[105] Stubenmädchen hinaufging, vergaß sich die Köchin, stellte den Rest des Kuchens wieder auf den Tisch und stand mit hängenden Armen da.

»Ich habe gerade noch zwei wollene Kleider und zwei Tücher«, sagte Cäcilie. »Sie werden sehen, wie gut warm die armen Kleinen gekleidet sein werden.«

Endlich fand die Maheu die Sprache wieder.

»Vielen Dank, mein Fräulein«, stammelte sie. »Sie alle sind sehr gütig ...«

Tränen füllten ihre Augen; sie glaubte sich der hundert Sous sicher und dachte nur an die Art und Weise, wie sie diese erbitten könnte, wenn man sie ihr nicht anbot. Die Kammerfrau kam nicht sogleich zurück; es trat ein Augenblick verlegenen Schweigens ein. Die Kleinen hingen an den Röcken der Mutter und machten große Augen zum Kuchen hinüber.

»Sie haben nur diese zwei?« fragte Frau Grégoire, um das Stillschweigen zu brechen.

»Oh, Madame, ich habe sieben.«

Herr Grégoire, der sich wieder in seine Zeitung vertieft hatte, fuhr entrüstet auf.

»Sieben Kinder! Aber warum denn, lieber Gott!«

»Das ist unklug«, murmelte die alte Dame.

Die Maheu machte eine unbestimmte Gebärde der Entschuldigung. Mein Gott, das kommt von selbst, man denkt gar nicht daran. Und dann: wenn die Kinder einmal größer werden, helfen sie miterwerben und das Haus erhalten. Auch könnten sie ganz gut leben, wenn der Großvater nicht wäre, der schon kaum mehr arbeiten könne, und wenn von den vielen Kindern nicht nur erst drei soweit wären, zur Grube zu gehen, zwei Söhne und die älteste Tochter. Man müsse eben auch die Kleinen ernähren, die noch nichts leisten.

»Arbeiten Sie schon lange in der Grube?« fragte Frau Grégoire weiter.

Ein stummes Lachen erhellte das bleiche Antlitz der Maheu.[106]

»O ja, o ja ... Ich bin bis zu meinem zwanzigsten Jahre eingefahren. Als ich mein zweites Kind bekam, sagte der Arzt, ich werde zugrunde gehen, wenn ich noch länger in der Grube arbeite. Es schien mir die Knochen zu verderben. Übrigens heiratete ich damals und hatte in meiner Haushaltung genug zu tun ... Aber die Familie meines Mannes arbeitet seit Ewigkeiten in der Grube; der Großvater des Großvaters war schon dabei; er war mit bei dem ersten Spatenstich im Réquillartschacht.«

Herr Grégoire betrachtete sinnend diese Frau und ihre bedauernswerten Kinder mit ihrem wachsbleichen Fleisch, sah ihre farblosen Haare, die Entartung, in der sie verkümmerten, von Blutlosigkeit verzehrt, die traurige Häßlichkeit der Hungerleider. Es war wieder still geworden in dem Gemach; man hörte nur die Kohle knistern, von der Gasqualm aufstieg. Das warme Zimmer hatte jene schwere Luft, in der die spießbürgerliche Wohlhabenheit, schlummert.

»Wo bleibt sie denn solange?« rief Cäcilie ungeduldig. »Melanie, geh hinauf und sag' ihr, das Bündel liege im Schranke unten links.«

Herr Grégoire schloß inzwischen laut die Betrachtungen, welche der Anblick dieser Elenden in ihm angeregt hatte.

»Es gibt viel Ungemach hienieden, das ist wahr; allein, gute Frau, es muß auch gesagt werden, daß die Arbeiter nicht sehr vernünftig leben ... Anstatt einen Spargroschen beiseitezulegen wie unsere Bauern, trinken die Grubenarbeiter, machen Schulden und haben schließlich kein Brot für Weib und Kinder.«

»Der gnädige Herr hat recht«, antwortete Frau Maheu ernst. »Man geht nicht immer den richtigen Weg. Das sage ich immer den Taugenichtsen, wenn sie sich beklagen ... Ich habe es noch gut getroffen, mein Mann trinkt nicht. Dennoch geschieht es an lustigen Sonntagen, daß er über den Durst trinkt. Das ist aber auch alles. Das ist von ihm um so löblicher, als er vor unserer[107] Heirat soff wie ein Schwein – mit Respekt sei es gesagt ... Trotz seiner vernünftigen Lebensführung kommen wir zu nichts. Es gibt Tage – wie heute wieder –, wo Sie alle unsere Schubfächer umkehren können, ohne einen Heller darin zu finden.«

Sie wollte ihnen die Sache mit den hundert Sous beibringen und fuhr fort, mit ihrer weichen Stimme von der verhängnisvollen Schuld zu sprechen, anfänglich schüchtern, dann immer breiter und drängender. Sie bezahlten längere Zeit regelmäßig ihre Halbmonatsraten; aber eines Tages blieb man damit im Rückstand, und dann war's aus, sie konnten den Rückstand nicht mehr aufholen. Das Loch wurde immer größer; die Männer waren von einer Arbeit angewidert, die ihnen nicht so viel einbrachte, daß sie ihre Schulden bezahlen konnten. Es war alles vergebens, man saß im Dreck bis an sein Lebensende. Man müsse übrigens alles begreifen: ein Grubenarbeiter muß einen Schoppen trinken, um den Kohlenstaub hinunterzuspülen. Damit fängt er an, und wenn dann der Jammer kommt, sitzt er Tag und Nacht im Wirtshaus. Möglich auch – und dies soll gegen niemand eine Anklage sein –, daß die Arbeiter nicht genug erwerben.

»Ich glaubte,« sprach Frau Grégoire, »daß die Gesellschaft euch Wohnung und Heizung gibt.«

Frau Maheu schielte nach der Kohle, die im Kamin brannte.

»Ja, ja, man gibt uns Kohle; sie ist nicht sehr gut, aber sie brennt doch ... Was die Wohnung betrifft, so haben wir dafür nur sechs Franken monatlich zu entrichten; das scheint sehr wenig, und dennoch fällt es uns schwer, sie zu bezahlen ... Wenn man mich heute in Stücke schnitte, brächte man nicht zwei Sous aus mir heraus. Wo nichts ist, da ist nichts.«

Der Herr und die Dame schwiegen, behaglich in ihren Lehnsesseln liegend und allmählich gelangweilt und verdrießlich gemacht durch das Auskramen dieser Jammergeschichten. Sie fürchtete sie verletzt zu haben und[108] fügte mit der ruhigen Miene einer praktischen Frau hinzu:

»Ach, ich sage es nicht, um mich zu beklagen. Die Lage ist einmal so, man muß sich damit abfinden, um so mehr, als wir uns vergebens dagegen wehren würden; es würde uns doch nichts helfen. Es bleibt das beste, sein Leben ehrlich zu verbringen dort, wohin der liebe Gott uns gestellt hat. Nicht wahr, gnädiger Herr und gnädige Frau?«

Herr Grégoire stimmte ihr lebhaft zu.

»Liebe Frau,« sagte er, »mit solchen Gesinnungen ist man über jedes Unglück erhaben.«

Honorine und Melanie brachten endlich das Bündel. Cäcilie öffnete es und holte zwei Kleider hervor; sie legte noch Tücher dazu, auch Strümpfe und Fäustlinge. All dies wird vorzüglich passen, meinte sie. Sie beeilte sich und ließ die ausgewählten Kleidungsstücke durch die Mägde rasch einpacken. Ihre Klavierlehrerin war gekommen, und darum schob sie die Grubenarbeiterin mit ihren zwei Kindern zur Tür.

»Wir sind ganz mittellos«, stammelte Frau Maheu; »wenn wir wenigstens ein Hundertsousstück hätten ...«

Sie blieb mitten im Satze stecken, denn die Maheu waren stolz und bettelten nicht. Cäcilie blickte unruhig auf ihren Vater; doch dieser schlug die Bitte rundweg ab mit einer Miene, als erfülle er eine Pflicht.

»Nein, das liegt nicht in unsern Gewohnheiten. Wir können nicht.«

Das Mädchen, von dem verstörten Gesichte der Mutter bewegt, wollte die Kinder wenigstens erfreuen. Diese schauten noch immer starr auf den Kuchen; sie brach zwei Stücke davon ab und gab sie ihnen.

»Hier, das ist für euch.«

Dann nahm sie die Kuchenstücke wieder zurück und wickelte sie in ein altes Zeitungsblatt, indem sie sagte:

»Teilt das zu Haus mit euren Geschwistern.«

Unter den zärtlichen Blicken ihrer Eltern schob sie die Kinder zur Tür hinaus. Die armen Kleinen, die kein[109] Brot hatten, gingen von dannen, respektvoll den Kuchen in ihren kalten Händchen heimtragend.

Die Maheu zog ihre Kinder auf dem Straßenpflaster fort; sie sah weder die wüsten Felder noch den schwarzen Schmutz oder den fahlen Himmel, der sich um sie zu drehen schien. Als sie wieder durch Montsou kam, trat sie entschlossen bei Maigrat ein, den sie so eindringlich mit ihren Bitten bestürmte, daß sie schließlich zwei Brote, Kaffee, Butter und sogar ein Hundertsousstück mitnahm; denn der Mann lieh auch Geld aus auf Wochen. Nicht sie wollte er, sondern Katharina; sie begriff, als er ihr sagte, sie möge ihre Tochter wegen des Einkaufs senden. Man werde schon sehen, dachte sie. Sie setzte im stillen hinzu, Katharina werde ihm Maulschellen versetzen, wenn er ihr zu nahe kommen sollte.

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 96-110.
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