Sechstes Kapitel.

[184] Graf Muffat mit Frau und Tochter war am Abend in Fondettes eingetroffen, wohin Frau Hugon, die hier mit ihrem Sohne Georges allein wohnte, die gräfliche Familie auf acht Tage eingeladen hatte. Das Landhaus, Ende des siebzehnten Jahrhunderts erbaut, erhob sich inmitten einer sehr großen, von Mauern eingeschlossenen Fläche völlig schmucklos. Dagegen war ein prachtvoller, schattiger Garten da und dahinter lagen langgedehnte Teiche mit fließendem Wasser. Der Garten zog sich längs der Landstraße nach Orleans hin und bildete eine angenehme Abwechslung in dieser flachen Landschaft mit ihren bebauten Äckern, die sich in unabsehbarer Ferne verloren.

Um elf Uhr versammelte die ganze Gesellschaft sich zum Frühstück. Madame Hugon küßte die Gräfin mit mütterlicher Zärtlichkeit und sagte:

Ich fühle mich verjüngt, wenn ich dich hier habe. Hast du gut geschlafen in deinem ehemaligen Zimmer?[184]

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich zu Estella und sagte:

Ich hoffe, auch die liebe Kleine hat vortrefflich geruht. Umarme mich, mein Kind.

Man befand sich in dem geräumigen Speisesaale, dessen Fenster auf den Park gingen. Doch nahm die Gesellschaft nur einen Teil der großen Tafel ein, man rückte zusammen, um näher beieinander zu sein. Gräfin Sabine war sehr heiter und schwelgte in Jugenderinnerungen; sie gedachte der Monate, die sie in Fondettes verbracht, der Spaziergänge, und wie sie einmal im Sommer ins Wasser gefallen, und wie sie einst auf dem Kamin einen alten Ritterroman entdeckte, der dann an langen Winterabenden gelesen wurde. Georges, der die Gräfin seit einigen Monaten nicht gesehen, fand sie recht drollig, nur etwas verändert: Estella hingegen war flacher, schweigsamer und linkischer denn je.

Madame Hugon beklagte sich über den Metzger in Orleans, der ihr kein gutes Fleisch liefere; so komme es, daß das Frühstück nur aus Eiern und Koteletten bestehe. Die Gäste hätten es übrigens nur sich selbst zuzuschreiben, wenn die Kost schlecht sei, denn sie seien zu spät im Jahre gekommen. Sie habe sie schon im Juni erwartet, und jetzt sei man im halben September. Das sei gar nicht artig. Dabei wies sie auf die Bäume im Garten, die sich zu entlauben begannen. Der Himmel war leicht bewölkt; in der Ferne senkte ein bläulicher Dunst sich nieder, welcher der Landschaft einen friedlichen und trüben Reiz verlieh.

Ich erwarte Gesellschaft, fuhr sie fort, dann soll es lustiger werden. Zunächst zwei Herren, die Georges eingeladen: Fauchery und Daguenet; die kennen Sie wohl? Dann Herrn von Vandeuvres, der mir seit fünf Jahren seinen Besuch verspricht. Diesmal wird er sich vielleicht doch endlich entschließen.[185]

Und Philipp? fragte Muffat.

Philipp hat Urlaub verlangt, aber Sie werden kaum mehr bei uns sein, wenn er in Fondettes ankommt.

Man brachte den Kaffee. Man sprach von Paris und Steiners Name wurde genannt.

Beiläufig, Steiner, sagte Frau Hugon. Das ist wohl der dicke Herr, den ich eines Abends bei Ihnen sah? Ein Bankier, nicht wahr? Ist das ein häßlicher Mensch! Denken Sie sich, er hat für eine Schauspielerin ein Landgut angekauft in unserer Nachbarschaft, jenseits des Flüßchens Choue, in der Nähe von Gumiéres. Die ganze Gegend ist entrüstet darüber. Wußten Sie was davon?

Nicht das Geringste, entgegnete Muffat. Ach, Steiner hat ein Landgut in der Umgebung gekauft! ...

Georges, der während der Worte seiner Mutter die Nase in seine Tasse gesteckt hatte, blickte bei der Antwort des Grafen erstaunt auf. Warum log er denn so keck? Der Graf blickte mißtrauisch auf den jungen Mann, als er die Bewegung sah. Madame Hugon erzählte weitere Einzelheiten über die Angelegenheit. Das Landgut heiße La Mignotte. Um dahin zu gelangen, müsse man längs der Choue hinauf bis nach Gumiéres gehen und dort über die Brücke. Das verlängere den Weg um zwei Kilometer. Wolle man den Weg abkürzen, durch das Flüßchen waten, so riskiere man ein Bad.

Und wie heißt denn diese Schauspielerin? fragte die Gräfin.

Ach, man hat es mir wohl gesagt, aber ich vergaß es wieder. Georges, du warst ja dabei, als der Gärtner diese Dinge erzählte; wie heißt sie denn?

Georges tat, als ob er nachdenke. Muffat wartete und drehte einen Löffel zwischen den Fingern. Da wandte die Gräfin sich an ihren Gemahl mit der Frage:[186]

Hat dieser Steiner nicht ein Verhältnis mit der Schauspielerin Nana vom Varietétheater?

Richtig, Nana; oh, es ist abscheulich! rief Madame Hugon ärgerlich. Man erwartet in La Mignotte ihre Ankunft. Ich habe all das vom Gärtner erfahren. Nicht wahr, Georges, der Gärtner sagte, man erwarte sie für heute abend?

Der Graf erschreckte überrascht zusammen.

Doch Georges antwortete lebhaft:

Oh, Mama, der Gärtner war nicht gut unterrichtet. Der Kutscher erzählte mir soeben, man erwarte in La Mignotte niemanden vor übermorgen.

Er nahm eine unbefangene Miene an und beobachtete den Eindruck seiner Worte auf den Grafen. Dieser fuhr fort, gleichsam beruhigt, mit dem kleinen Löffel zu spielen. Die Gräfin blickte in die blaue Ferne und schien an dem Gespräch keinen Anteil mehr zu nehmen. Sie lächelte kaum merklich; ein geheimer Gedanke schien sie zu beschäftigen. Estella saß steif auf ihrem Sessel; bei den Geschichten über Nana rührte sie sich nicht; keine Fiber zuckte in ihrem weißen, jungfräulichen Gesichte.

Aber, mein Gott, sagte jetzt Madame Hugon; es ist gar nicht recht, daß ich mich so ereifere. Es muß doch jeder leben ... Wenn wir diese Dame treffen, so werden wir sie nicht grüßen, und die Sache ist abgetan.

Man verließ die Tafel, und Madame Hugon machte der Gräfin nochmals Vorwürfe darüber, daß sie heuer so lange auf sich habe warten lassen. Die Gräfin rechtfertigte sich, indem sie alle Schuld an der Verzögerung ihrem Gatten zuschrieb. Zweimal schon waren die Koffer gepackt, aber am Abend vor der Abreise gab er, dringende Geschäfte vorschützend, Gegenbefehl. Als man glaubte, die Reise sei vollends aufgegeben, entschloß er sich plötzlich zu reisen, Da erzählte die alte Dame, auch Georges habe zweimal seine[187] Ankunft angekündigt, ohne zu kommen; vorgestern abend aber sei er plötzlich eingetroffen, als sie gar nicht mehr auf ihn rechnete.

Die Gesellschaft ging in den Garten, die beiden Herren rechts und links von den Damen und hörten dieses Gespräch stillschweigend mit an.

Es tut aber nichts, sagte Madame Hugon, indem sie einen Kuß auf die blonden Locken ihres Sohnes drückte; es ist recht brav von Zizi, daß er sich hier auf dem Lande mit seiner Mutter einschließt. Der gute Zizi vergißt seine Mama nicht.

Nachmittags war die alte Dame unruhig; bei Georges, der schon nach Tisch über Kopfschmerz geklagt hatte, kam eine heftige Migräne zum Ausbruch. Um vier Uhr sagte er, er müsse hinaufgehen, um sich niederzulegen, dies sei das einzige Mittel gegen das schreckliche Leiden; er wolle bis zum Morgen schlafen; das werde ihn herstellen. Die Mama bestand darauf, daß sie selbst ihn zu Bett bringen wolle. Kaum hatte sie aber das Zimmer verlassen, als er von innen es abschloß. Er wolle ungestört bleiben, rief er ihr nach, und in einem Zuge bis zum nächsten Morgen schlafen. Er ging nicht zu Bett, sondern kleidete sich heiter und wohlgemut wieder an und wartete still. Als zum Essen geläutet wurde, schaute er dem Grafen Muffat nach, bis dieser im Salon verschwand. Zehn Minuten später, als er sicher war, daß ihn niemand sehe, öffnete er ein Fenster, das auf die Hinterseite des Hauses ging, und ließ sich in den Park hinab, dann eilte er querfeldein die Choue entlang, mit leerem Magen und freudig erregter Brust.

Die Nacht brach heran; ein feiner Regen fiel nieder. An diesem Abend sollte Nana in La Mignotte eintreffen. Seitdem Steiner im Mai ihr die Besitzung gekauft, wurde sie von Zeit zu Zeit von einem solchen Verlangen erfaßt,[188] ihr Landhaus zu sehen, daß sie in Tränen ausbrach. Allein Bordenave wollte ihr nicht den allerkürzesten Urlaub bewilligen und verschob die Sache auf den September unter dem Vorwande, er könne für die Dauer der Ausstellung ihre Rolle nicht einen Abend durch eine andere besetzen. Ende August sprach er vom Oktober. Nana geriet in Wut und erklärte, sie werde am 15. September in La Mignotte sein, und um Bordenave die Festigkeit ihres Entschlusses zu zeigen, lud sie in seiner Gegenwart eine Menge Leute zu sich ein.

Auch dem Grafen Muffat, der bisher bei ihr kein Gehör gefunden, bezeichnete sie den 15. September als den Tag, an welchem sie in La Mignotte eintreffen werde, wo sie dann auch gegen ihn sich artiger zeigen wolle. Am 12. September kam ihr der Gedanke, sie wolle sofort mit Zoé dahin abreisen. Denn es könne leicht geschehen, daß Bordenave irgendein Mittel ausfindig mache, um sie zurückzuhalten. Es machte ihr Spaß, ihm zuvorzukommen, indem sie ihm ein Krankheitszeugnis ihres Arztes sandte. Sie hatte den Einfall, zwei Tage früher als bestimmt war, in La Mignotte einzutreffen, um daselbst ungestört zwei Tage zuzubringen. Sie ließ durch Zoé in aller Eile die Koffer packen, schob die Zofe in eine Droschke und fuhr auf den Bahnhof. Hier schrieb sie im Büfett einige Zeilen an Steiner und bat ihn, erst übermorgen zu kommen, wenn er sie recht frisch und heiter antreffen wolle. Dann schrieb sie einen zweiten Brief an ihre Tante Lerat, in dem sie diese aufforderte, ihr sofort den kleinen Ludwig zu bringen. Der Landaufenthalt würde dem lieben Kleinen wohltun. Sie würden sich unter den schattigen Bäumen vortrefflich unterhalten. Von Paris bis Orleans sprach sie von nichts anderem. In einer plötzlichen Krise mütterlicher Zärtlichkeit mengte sie Blumen, Vögel und ihr Kind durcheinander.[189]

La Mignotte lag noch drei Meilen von Orleans entfernt. Nana verlor eine volle Stunde, bis es ihr gelang, einen Wagen zu mieten. Es war dies eine große, baufällige Kalesche, die knarrend und ächzend sich nur mit großer Bedächtigkeit fortbewegte. Sie überschüttete den Kutscher, einen kleinen schweigsamen Greis, mit Fragen. Ob er häufig bei La Mignotte vorbeikomme? Die Besitzung liege wohl dort hinter jenem Berge, wie? Ob es viele Bäume gebe? Ob das Haus nicht schon aus der Ferne sichtbar sei? Der Alte brummte etwas Unverständliches – das war die Antwort. Nana hüpfte im Wagen voll Ungeduld, während Zoé, verdrießlich darüber, daß sie Paris so rasch verlassen, steif und schweigsam dasaß. Plötzlich hielt der Wagen. Nana, in der Meinung, daß sie am Ziele ihrer Reise sei, steckte den Kopf zum Wagenschlag hinaus und rief:

He, sind wir angekommen?

Statt aller Antwort hieb der Kutscher auf sein Pferd ein, das nur mühsam einen Hügel erklomm. Nana betrachtete mit Entzücken die unendliche Ebene, über die ein grauer, umwölkter Himmel sich wölbte.

Schau, Zoé, das viele Gras! Ist das etwa Getreide? Mein Gott, wie schön.

Man sieht wohl, daß Madame nicht vom Lande sind, sagte Zoé mit geringschätziger Miene. Ich habe das Landleben genug kennen gelernt, als ich bei dem Zahnarzt diente, der in Bougival ein Landhaus besaß. Übrigens ist's kalt heute abend; es ist feucht in dieser Gegend.

Jetzt fuhr man unter Bäumen. Nana sog den Duft des Laubwerkes mit der naiven Gier eines Hündchens ein. Plötzlich sah sie bei einer Biegung des Weges durch die Baumäste das Stück eines Hausdaches. Da wird es sein, dachte sie. Sie ließ sich mit dem Kutscher wieder in ein Gespräch ein, der noch immer »Nein« sagte.[190]

Als sie die andere Seite des Hügels hinabfuhren, streckte er die Peitsche aus und brummte:

Da unten.

Sie erhob sich und neigte sich mit dem ganzen Körper zum Wagenschlag hinaus.

Wo denn, wo denn? rief sie bleich vor Aufregung, weil sie noch immer nichts sah.

Endlich entdeckte sie ein Stück von der Mauer. Dann gab es ein Schreien und ein Hüpfen, sie war überglücklich.

Zoé, ich sehe es schon, rief sie. Schau du zur andren Seite hinaus. Ach, auf dem Dache ist eine Terrasse. Da unten wieder ein Treibhaus. Aber, das ist ja recht, recht groß. Oh, wie glücklich bin ich. Schau doch, Zoé, schau.

Jetzt hielt der Wagen vor dem Gitter. Eine Tür wurde geöffnet, der Gärtner, ein langer, hagerer Mensch, erschien, mit der Mütze in der Hand. Nana mußte sich Zwang auferlegen, um ihre Würde zu bewahren und nicht hineinzulaufen. Sie hörte den Gärtner an, der in geschwätziger Rede sie um Verzeihung bat, daß noch nicht alles in Ordnung sei. Er habe erst heute morgen ihren Brief erhalten. Sie ließ ihn stehen und eilte so rasch ins Haus, daß Zoé ihr kaum zu folgen vermochte. Am Ende der Allee blieb sie stehen, um das Haus mit einem Blicke zu umfassen. Es war ein großer Pavillon in italienischem Stil, daneben ein zweites kleines Gebäude. Ein reicher Engländer hatte das Landhaus erbaut, nachdem er zwei Jahre in Neapel zugebracht, und war seiner auch bald überdrüssig geworden.

Ich will Madame das Haus zeigen, sagte der Gärtner.

Doch Nana war ihm schon vorausgeeilt. Sie rief ihm zu, er möge sich nicht weiter stören lassen, sie werde alles allein besichtigen, das sei ihr lieber. Ohne den Hut abzulegen, lief sie durch die Wohnräume, indem sie Zoé zurief, ihr zu folgen und ihr von einem Ende des Ganges zum andern[191] allerlei Bemerkungen zuwarf. Sie erfüllte die leeren, seit Monaten unbewohnten Räume mit ihrem Gelächter und ihren Zurufen. Der Vorraum – meinte sie – sei ein wenig feucht, doch das schade nichts, man schlafe ja nicht darin. Sehr schick sei der Salon mit seinen auf einen Rasenplatz sich öffnenden Fenstern; nur sei die rote Einrichtung abscheulich, die müsse durch eine andere ersetzt werden. Und der prächtige Speisesaal! – Welche Feste könne man in Paris geben, wenn man solche Speisesäle habe. Im ersten Stockwerk angekommen, erinnerte sie sich, die Küche nicht gesehen zu haben. Sie lief wieder hinab und rief mit lauten Rufen Zoé herbei, damit sie den schönen Spülstein und den riesigen Herd bewundere, an dem man einen Hammel braten könne. Jetzt eilte sie wieder in das Stockwerk hinauf, und da war sie vor allem von ihrem Schlafzimmer entzückt, das ein Tapezierer aus Orelans mit zart rosafarbener Leinwand im Stile Louis XVI. überzogen hatte. Ah, da muß gut ruhen sein. Ein Nestchen für ein Pensionatmädchen. Dann folgten mehrere Gastzimmer und Speicher, wo man das Gepäck bequem unterbringen konnte. Zoé ging geduldig hinter ihrer Herrin her und betrachtete alle diese Dinge sehr kühl. Plötzlich sah sie Nana auf der Höhe der steilen Leiter, die vor den Speichern stand, verschwinden. Ah, dafür dankte sie; sie hatte keine Lust, sich die Beine zu brechen. Doch jetzt vernahm sie eine ferne Stimme, die durch eine Kaminröhre zu kommen schien.

Zoé, Zoé, wo bist du? Komm doch herauf! Oh, du hast keine Idee! Das ist feenhaft!

Zoé ging murrend hinauf. Sie fand Madame auf dem Dache, auf eine aus Ziegeln erbaute Rampe gestützt und das Tal betrachtend, das zu ihren Füßen sich ausbreitete. Der Gesichtskreis war unendlich, aber in graue Dünste getaucht; ein heftiger Wind peitschte einen feinen Regen vor sich[192] her. Nana mußte mit beiden Händen ihren Hut halten, damit der Wind ihr ihn nicht entführe, während ihre Röcke geräuschvoll im Winde flatterten.

Ach nein, sagte Zoé, indem sie sofort wieder die Nase zurückzog, Madame werden ja davongeweht. Ist das ein Hundewetter.

Madame hörte nichts. Sie neigte sich über die Rampe und betrachtete die Besitzung. Es waren sechs bis acht Morgen Landes, alles von einer Mauer eingeschlossen. Der Anblick des Gemüsegartens nahm sie völlig gefangen. Sie rannte hinunter, trieb Zoé vor sich her und rief:

Kohlhäupter so groß wie mein Kopf. Und Salat, Zwiebeln, kurz alles. Komm rasch.

Der Regen wurde heftiger. Sie öffnete ihren Sonnenschirm von weißer Seide und lief so durch die Alleen.

Madame werden sich krank machen, rief Zoé, die ruhig auf den Stufen der Halle zurückgeblieben war.

Doch Madame wollte alles sehen. Bei jeder neuen Entdeckung brach sie in Rufe der Bewunderung aus.

Zoé, Spinat. So komm doch ... Oh, Artischocken! Wie drollig, die Artischocken blühen also! Was ist denn das? ... Das kenne ich nicht! Komm, Zoé, vielleicht kennst du es?

Die Zofe rührte sich nicht. Madame scheint von einer wahren Wut ergriffen zu sein. Jetzt floß der Regen in Strömen. Der kleine weiße Seidenschirm war ganz schwarz geworden und bot ihr keinen Schutz, so daß von ihren Röcken das Wasser floß. Das störte sie nicht. Sie besichtigte den Gemüsegarten, den Obstgarten, blieb vor jedem Baume stehen, neigte sich über jedes Gemüsebeet. Dann lief sie zum Brunnen, um auch dahinein einen Blick zu tun, hob einen Korb von der Erde, um zu sehen, was es darunter gebe und verlor sich schließlich in der Betrachtung einer großen Eidechse. Sie wurde von dem Verlangen verzehrt,[193] überall zu sein, alldies sofort in Besitz zu nehmen, diese Herrlichkeiten, von denen sie geträumt hatte, zur Zeit, da sie als arme Arbeiterin das Pariser Pflaster trat. Der Regen floß jetzt mit verdoppelter Stärke; sie fühlte ihn nicht und war nur darüber betrübt, daß der Abend hereinbrach. Sie sah nichts mehr und betastete nur mehr die Dinge. Plötzlich entdeckte sie bei dem Zwielichte der Dämmerung einen Erdbeerenstrauch. Sie brach in ein wahrhaft kindliches Freudengeschrei aus.

Erdbeeren, Erdbeeren sind da! Ich rieche sie. Zoé, rasch einen Teller. Komm Erdbeeren pflücken.

Und jetzt hockte Nana auf dem kotigen Boden, dem heftigsten Regenguß preisgegeben, und pflückte Erdbeeren.

Zoé brachte keinen Teller. Als Nana sich erhob, erschrak sie, denn sie sah einen Schatten vorbeihuschen.

Ein Tier, rief sie.

Doch das Entsetzen hielt sie jetzt mitten in der Allee festgebannt. Es war ein Mann, und sie hatte ihn erkannt.

Wie, du bist es, Junge? Was machst du da, Junge.

Mein Gott, ich bin gekommen, sagte Georges, und bin nun da.

Sie war ganz verblüfft.

Du hast also meine Ankunft vom Gärtner erfahren? Oh, das arme Kind. Wie naß es geworden ist.

Ach, das will ich dir erklären. Der Regen hat mich unterwegs erwischt; auch wollte ich, um mir den Weg abzukürzen, nicht bis Gumiéres heraufkommen, sondern zog es vor, durch die Choue zu waten, wobei ich in einen Tümpel fiel.

Nana hatte plötzlich die Erdbeeren vergessen; sie war von Mitleid bewegt. Der arme Zizi ist in einen Tümpel gefallen. Sie zog ihn ins Haus und sagte, sie werde sofort ein großes Feuer anzünden lassen.[194]

Er hielt sie einen Augenblick zurück und flüsterte:

Ich habe mich verborgen, weil ich ausgezankt zu werden fürchtete, wie in Paris, wenn ich kam, ohne erwartet zu werden.

Sie lachte, ohne zu antworten, und küßte ihn auf die Stirne. Bis heute hatte sie ihn als Kind behandelt und seine Erklärungen nicht ernst genommen. Jetzt war die Gelegenheit gekommen, ihn aufzunehmen. Sie wollte durchaus, daß das Feuer in ihrem Zimmer angezündet werde; dort werde es gemütlicher sein. Zoé, an allerlei Begegnungen gewöhnt, war bei Georges Anblick nicht überrascht. Der Gärtner hingegen, der Holz herbeigebracht hatte, war höchlich verwundert, als er einen von Wasser triefenden Herrn sah, dem er die Tür nicht geöffnet hatte. Man entließ den Gärtner, da man seiner heute nicht mehr bedurfte. Das Zimmer war durch eine Lampe beleuchtet; im Kamin brannte ein großes Feuer.

Der Kleine wird ja nie trocken werden und sich einen tüchtigen Schnupfen holen, sagte Nana mitleidig, als sie Georges zusammenschauern sah.

Und keine Männerhose im ganzen Hause. Sie wollte eben den Gärtner zurückrufen, da kam ihr ein Gedanke. Zoé, mit dem Auspacken der Koffer beschäftigt, brachte ihrer Herrin frische Wäsche zum Wechseln: ein Hemd, Röcke, einen Frisiermantel.

Das ist ja vortrefflich, rief Nana, Zizi wird alles dies anlegen. Du hast doch keinen Abscheu vor meiner Wäsche, wie? Wenn deine Kleider trocken werden, wirst du sie wieder anziehen und wirst rasch nach Hause laufen, damit Mama dich nicht auszankt. Eile dich; inzwischen will auch ich in meinem Kabinett die Wäsche wechseln.

Als sie zehn Minuten später im Schlafrock zurückkehrte, faltete sie entzückt die Hände und rief:[195]

Oh, der liebe Fratz. Wie herzig ist er als kleine Frau.

Er hatte ganz einfach ein langes Nachthemd angezogen, ein gesticktes Beinkleid und einen langen Batistfrisiermantel mit Spitzen. Mit seinen nackten, weißen Armen und seinen blonden Locken, die ihm durchnäßt in den Nacken fielen, glich er völlig einem Mädchen.

Er ist so schlank wie ich, sagte Nana, indem sie ihn um die Taille nahm. Zoé, schau doch, wie prächtig ihm das steht. Wie für ihn gemacht, ausgenommen das Leibchen, das etwas zu weit ist; er hat freilich vorne nicht so viel wie ich, der arme Zizi.

Ja, das fehlt mir ein wenig, meinte Georges lächelnd.

Alle drei kamen allmählich in eine heitere Stimmung. Nana knöpfte ihm den Schlafrock von oben bis hinunter zu aus Schicklichkeit, wie sie sagte. Dann drehte sie ihn hin und her wie eine Puppe, gab ihm zarte Stöße und bauschte ihm rückwärts die Röcke auf. Dabei fragte sie ihn aus, ob er sich wohl fühle, ob ihm schon wärmer sei. Ah, freilich fühlte er sich wohl! Nichts ist so warm wie ein Frauenhemd. Wenn es möglich wäre, trüge er nie ein anderes. Er war glücklich in diesem feinen, schmiegsamen Linnen, das so lieblich duftete und in welchem er gewissermaßen das warme Leben Nanas fühlte.

Inzwischen hatte Zoé die nassen Kleider in die Küche geschafft, um sie dort bei einem großen Feuer rasch trocknen zu lassen. Georges, der in einem Sessel ausgestreckt lag, wagte jetzt ein Geständnis:

Sag' einmal, du ißt nichts? Ich muß dir bekennen, daß ich fast vor Hunger umkomme; ich habe nicht zu Mittag gegessen.

Nana wurde ernstlich erzürnt über ihn. Das ist doch dumm, mit leerem Magen der Mama durchzugehen und in einen Tümpel zu fallen. Indes knurrte auch ihr der Magen;[196] freilich müsse man essen, aber man werde sich begnügen müssen mit dem, was man finde. Dann schoben sie ein Tischchen vor den Kamin und hielten die drolligste unvorbereitete Mahlzeit. Zoé lief zum Gärtner, der eine Kohlsuppe bereitet hatte für den Fall, daß Madame nicht in Orleans essen werde; Madame hatte nämlich vergessen, in ihrem Briefe ihm aufzutragen, was er bereiten solle. Glücklicherweise war der Keller wohl gefüllt. Man hatte also Kohlsuppe mit einem Endchen Wurst. Nana durchstöberte ihre Taschen und fand noch allerlei Mundvorrat, den sie aus Paris mitgebracht hatte: eine kleine Leberpastete, Orangen, Bonbons. Sie aßen wie die Vielfraße mit dem Appetit ihrer zwanzig Jahre als Kameraden, die sich voreinander nicht schämten. Nana nannte Georges »meine Liebe«; das schien ihr zärtlicher und vertraulicher. Zum Nachtisch leerten sie mit demselben Löffel einen Topf Eingemachtes, den sie auf einem Schrank entdeckt hatten.

Ach, meine Liebe, sagte Nana, den Tisch wegschiebend, seit zehn Jahren habe ich nicht so gut gespeist.

Es war indessen spät geworden, und sie wollte den Kleinen nach Hause schicken aus Besorgnis, daß er tüchtig ausgezankt werden könne. Er meinte, es sei noch Zeit. Auch wollten die Kleider nur langsam trocknen; Zoé sagte, sie brauchten noch eine Stunde dazu; und da sie vor Ermüdung fast umfiel, schickten sie sie zu Bette. Sie waren nun allein in dem stillen Hause.

Es war ein milder Abend. Das Feuer im Kamin verglühte langsam; es war sehr heiß in diesem großen, blauen Zimmer, wo Zoé das Bett bereitet hatte, bevor sie hinaufging. Nana, fast erdrückt von der Hitze, erhob sich, um das Fenster zu öffnen. Sie stieß einen Ruf der Überraschung aus.

Welch ein herrlicher Abend! rief sie. Schau, meine Liebe.[197]

Georges trat nun gleichfalls ans Fenster und nahm Nana um die Taille, wobei er das Haupt auf ihre Schulter stützte. Das Wetter hatte plötzlich umgeschlagen. Ein klarer Himmel wölbte sich über der Erde. Die volle Mondscheibe tauchte die Landschaft in ein Meer von goldenem Lichte. Eine überwältigende Ruhe herrschte über dem Tale, das sich auf die unendliche Ebene öffnete, wo einzelne Bäume ihre dunklen Schatten in den unbeweglichen See des Lichtes warfen. Nana wurde allmählich weich gestimmt, sie fühlte sich wieder als Kind. Solche Nächte hatte sie geträumt zu einer Zeit, die ihrem Gedächtnisse fast entschwunden war. Alles, was sie gesehen und erlebt, seitdem sie in Orleans die Eisenbahn verlassen: diese unermeßliche Landschaft, dieser duftige Pflanzenwuchs, dieses Haus, diese Gemüse- und Obstgärten, all das versetzte sie in einen solchen Taumel, daß es ihr schien, als habe sie Paris seit zwanzig Jahren verlassen. Ihr Leben von gestern schien in weite Fernen gerückt. Unbekannte Empfindungen erfüllten ihre Brust. Georges bedeckte ihren Nacken mit tausend Küssen, wodurch ihre Verwirrung nur noch gesteigert wurde. Mit zögernder Hand suchte sie ihn abzuhalten, wie wir ein Kind abhalten, dessen Zärtlichkeiten uns ermüden. Sie ermahnte ihn wiederholt, nach Hause zu gehen. Er sagte nicht »Nein«, versprach vielmehr, sich bald zu entfernen.

Unter dem Fenster begann ein Rotkehlchen zu singen und schwieg dann wieder still.

Warte, sagte Georges; es scheut das Lampenlicht, ich will die Lampe auslöschen. Wir werden sie dann wieder anzünden, fügte er hinzu, als er Nana wieder um die Taille faßte.

Während der Kleine sich eng an sie schmiegte und unten das Rotkehlchen sang, verlor Nana sich in Erinnerungen. Einst hätte sie ihr Herz hingegeben für eine so sternenhelle[198] Nacht, Vogelgesang und einen Mann, erfüllt von Liebe und Zärtlichkeit. Mein Gott! Sie hätte weinen mögen, so gut und schön fand sie es. Gewiß, sie war zu einem ehrbaren Leben geboren. Sie stieß Georges zurück, der allmählich kühner geworden war.

Nein, laß mich ... Ich will nicht ... Es wäre ab scheulich in deinem Alter ... Ich will deine Mama sein und bleiben, hörst du?

Ein Gefühl der Scham erfaßte sie; sie wurde rot, obgleich sie niemand sah. Das Zimmer hinter ihr lag in tiefem Dunkel, während draußen die stille, friedliche Nacht sich über die Erde lagerte. Niemals hatte sie eine solche Scham empfunden ... Allmählich fühlte sie ihre Kräfte schwinden, obgleich die Verkleidung dieses Jünglings sie fast zum Lachen reizte. Es war, als ob eine Freundin mit ihr Scherz treiben werde.

Ach, es ist schlimm, es ist schlimm! stammelte sie nach einer letzten Regung des Widerstandes.

Dann sank sie wie eine Jungfrau in die Arme dieses Kindes ... Das Haus schlief in dieser stillen, schönen Nacht ...

Als am nächsten Morgen in Fondettes die Frühstücksglocke geläutet wurde, da war die Tafel im Speisesaal nicht mehr groß. Der erste Wagen hatte Fauchery und Daguenet gebracht, nach ihnen kam mit dem nächsten Zug Graf Vandeuvres. Als letzter bei dem Frühstückstisch erschien Georges. Er war ein wenig bleich, die Augen umflort. Es gehe ihm besser, meinte er, doch fühle er noch die Nachwirkung des Anfalls. Seine Mutter strich ihm die schlecht geordneten Haare zurecht; er wich zurück, gleichsam verwirrt durch diese mütterliche Liebkosung. Bei Tische neckte sie den Grafen Vandeuvres, der nach fünf Jahren sich endlich doch entschlossen habe zu kommen.

Er ging auf diesen Ton ein und erzählte, er habe gestern[199] im Klub Unsummen verloren und sei nun in die Provinz gekommen, um mit dieser Lebensweise zu brechen.

Es muß ja reizende Frauen in dieser Gegend geben, meinte er. Vielleicht finden Sie mir eine reiche Erbin.

Madame Hugon dankte sodann den Herren Fauchery und Daguenet dafür, daß sie der Einladung ihres Sohnes gefolgt waren. In diesem Augenblick trat zu ihrer freudigen Überraschung der Marquis Chouard ein, den ein dritter Wagen gebracht hatte.

Ah, rief sie aus, die Herren haben sich ja ein Stelldichein bei mir gegeben. Was geht denn vor? Seit Jahren habe ich mich vergebens bemüht, Sie bei mir zu versammeln. Doch es soll mir nur angenehm sein.

Man legte noch ein Gedeck auf. Fauchery kam neben die Gräfin Sabine zu sitzen, die ihn durch ihre lebhafte Heiterkeit überraschte, um so mehr, als er sie im Salon ihres Palais in der Miromesnil – Straße sehr schweigsam und ernst gesehen hatte. Daguenet saß zur Linken Estellas und fühlte sich sehr unbehaglich in der Nachbarschaft der spitzen Ellbogen dieses hageren, stummen Mädchens. Muffat und Chouard hatten heimlich einen Blick ausgetauscht. Indessen spann Vandeuvres den Scherz über seine Heiratspläne weiter; da von den Damen der Umgebung die Rede war, sagte Madame Hugon:

Wissen Sie, daß ich eine neue Nachbarin habe? Sie werden sie wohl kennen, Graf Vandeuvres, es ist die Schauspielerin Nana.

Der Graf tat sehr überrascht.

Wie, rief er, Nanas Besitzung liegt hier in der Nähe?

Auch Fauchery und Daguenet schienen erstaunt zu sein. Der Marquis nagte an einem Huhn und schien nicht zu wissen, wovon die Rede sei.

Jawohl, fuhr Madame Hugon fort, diese Person ist gestern[200] abend in La Mignotte eingetroffen. Ich habe dies heute morgen von meinem Gärtner erfahren.

Bei dieser Nachricht vermochten die Herren ihre Überraschung nicht zu verbergen. Sie hoben sämtlich den Kopf. Wie, Nana ist angekommen? Sie erwarteten sie ja erst für den folgenden Tag ... Georges allein blieb ruhig und blickte unverwandt in sein Glas. Schon seit Beginn des Frühstücks schien er mit offenen Augen zu schlafen.

Leidest du noch immer, mein Zizi? fragte die Mutter, die ihren Sohn nicht aus den Augen ließ.

Er schreckte zusammen und erwiderte errötend, er fühle sich wohler, und behielt seine träumerische, schlaffe Miene gleich einem Mädchen, das in der verflossenen Nacht zuviel getanzt hatte.

Was hast du da am Halse? rief Madame Hugon plötzlich aus. Das ist ja ganz rot.

Er geriet in Verwirrung und stammelte etwas wie »er wisse nicht, er habe nichts am Halse«. Dann schob er den Hemdkragen hinauf und stammelte:

Ach ja, ein Käfer hat mich gestochen.

Der Marquis hatte einen Seitenblick auf den kleinen roten Fleck am Halse Georges geworfen. Auch Muffat schaute Georges an. Das Frühstück ging zu Ende; die Gesellschaft besprach allerlei kleine Ausflüge, die man unternehmen wolle. Fauchery war immer erstaunter über die laute Heiterkeit der Gräfin Sabine. Als er ihr einen Teller mit Obst hinreichte, berührten sich ihre Hände und sie heftete einen so tiefen Blick auf ihn, daß er wieder an jene vertrauliche Mitteilung denken mußte, die der Kapitän eines Abends nach einem lustigen Abendessen ihm gemacht hatte. Auch war sie nicht mehr dieselbe; irgendein geheimnisvoller Zug drückte sich schärfer bei ihr aus. Ihr Kleid aus grauer Seide, das sich weich um ihre Schultern legte, verriet[201] eine gewisse Lässigkeit in ihrer feinen und nervösen Eleganz.

Nach aufgehobener Tafel blieb Daguenet zurück, um mit Fauchery sich über Estella lustig zu machen, die er einen »Besenstiel« nannte. Doch schlug er einen ernsteren Ton an, als er von dem Journalisten erfuhr, daß die junge Komtesse eine Mitgift von viermalhunderttausend Franken habe.

Und die Mutter? fragte Fauchery. Sehr schick ...

Ach die ... Da wäre ich auch dabei ... Aber das geht nicht.

Wer weiß ...? Wir werden ja sehen.

An diesem Tage konnte man nicht ausgehen, denn es regnete noch in Strömen. Georges beeilte sich zu verschwinden. Er schloß sich in seinem Zimmer ein. Jeder einzelne dieser Herren war im klaren darüber, was sie hierhergeführt, doch vermieden sie jede Erklärung. Vandeuvres, der in der letzten Zeit sehr arg im Spiel gerupft worden war, hatte in der Tat die Absicht, jetzt einige Zeit auf dem Lande zuzubringen, und rechnete auf irgendeine befreundete Nachbarin, um sich nicht allzu sehr zu langweilen. Fauchery dem jetzt die vielbeschäftigte Rosa einige freie Zeit ließ, trug sich mit dem Gedanken, inzwischen mit Nana wieder anzuknüpfen und ihr seine Dienste für einen zweiten Feuilletonartikel anzubieten. Daguenet rechnete darauf, daß neben Steiner auch für ihn einige Zärtlichkeitsbrocken abfallen würden. Was den Marquis Chouard betrifft, so wartete er seine Zeit ab. Unter allen diesen Herren, welche den Spuren Venus' folgten, war Graf Muffat derjenige, der von Verlangen, Furcht und Zorn am meisten gequält wurde. Er hatte eine formelle Zusage von ihr. Aber warum war sie zwei Tage früher abgereist? Er war entschlossen, noch am nämlichen Abend, nach dem Essen, nach La Mignotte zu gehen.[202]

Kaum hatte er am Abend den Park verlassen, als auch Georges sich auf den Weg nach La Mignotte machte. Er ließ den Grafen auf der Straße nach Gumiéres vorausgehen und durchwatete seinerseits die Choue. So kam es, daß er vor dem Grafen bei Nana eintraf. Zwei schwere Tränen standen ihm in den Augen. Ach, er begriff recht wohl: dieser Alte, der nach La Mignotte unterwegs ist, kommt zu einem Stelldichein. Nana, ganz bestürzt über die Eifersuchtsszene und über die Wendung, welche die Dinge nahmen, schloß ihn in ihre Arme und tröstete ihn, so gut es ging. Nein, sagte sie; er täusche sich; sie erwarte niemanden; wenn der Graf kommt, so ist das nicht ihre Schuld. Es ist töricht vom Kleinchen, sich unnützerweise solchen Kummer zu machen. Sie schwur bei ihrem Kinde, daß sie niemanden liebe als ihren kleinen Zizi. Dabei küßte sie ihn und trocknete ihm die Tränen.

Du wirst sehen, sagte sie. Alles ist dein ... Steiner ist angekommen. Er ist oben. Den kann ich nicht hinauswerfen, das weißt du.

Ja, ich weiß; ich spreche auch nicht von ihm.

Ich habe ihn ins hintere Zimmer gesteckt und ihm gesagt, ich sei krank. Dort ist er jetzt mit dem Auspacken seiner Koffer beschäftigt. Da dich niemand hat ankommen sehen, versteck dich in meinem Zimmer und erwarte mich dort.

Georges fiel ihr um den Hals. Es ist also wahr, sie liebte ihn ein wenig? Also, wie gestern ... Sie werden die Lampe auslöschen und bis zum Morgen im Dunkel bleiben. Jetzt ertönte die Klingel, er eilte in ihr Zimmer. Hier zog er die Schuhe aus, um kein Geräusch zu machen und wartete geduldig, verborgen hinter einem Vorhang.

Nana empfing den Grafen einigermaßen verwirrt noch unter dem Eindruck der eben geschilderten Szene. Sie hatte ihm allerdings eine Zusage gemacht und sie war auch entschlossen,[203] ihr Versprechen zu halten, denn sie nahm diesen Mann ernst. Allein die Vorgänge von gestern, die sie nicht voraussehen konnte, änderten vieles. Die Reise, dieses Haus und der Kleine, der unerwartet und ganz durchnäßt gekommen war; sie fand dies alles so schön und gut, und es wäre hübsch, diese Lebensweise fortzusetzen ... Um so schlimmer für den Grafen ... Seit drei Monaten läßt sie ihn warten und spielt die ehrbare Frau, um seine Leidenschaft noch mehr aufzustacheln. Er möge noch weiter warten oder seinen Weg gehen, wenn es ihm nicht beliebt. Sie wolle lieber alle ziehen lassen, als Georges betrügen. Der Graf hatte feierlich Platz genommen mit der Miene eines Nachbars vom Lande, der zu Besuch kommt. Bloß seine Hände zitterten ... In dieser sanguinischen, bisher jungfräulich gebliebenen Natur hatte das Verlangen, aufgestachelt durch das berechnende Vorgehen Nanas, auf die Dauer furchtbare Verheerungen verursacht. Dieser so ernste Mann, dieser Kämmerer, der mit würdiger Miene die Salons der Tuilerien durchschritt, zerriß Nacht für Nacht in seiner Pein die Kissen seines Bettes. Jetzt aber war er entschlossen, ein Ende zu machen. Unterwegs hatte er in der friedlichen Abenddämmerung den Vorsatz gefaßt, rücksichtslos vorzugehen. Kaum waren die ersten Worte ausgetauscht, als er Nana bei den Händen ergriff.

Nein, nein! Nehmen Sie sich in acht! sagte sie lächelnd, ohne sich zu erzürnen.

Er preßte die Zähne zusammen und faßte sie wieder. Sie wehrte sich; doch er wurde zudringlich und erklärte ihr rund heraus, er sei gekommen, um bei ihr die Nacht zuzubringen. Sie lächelte noch immer, hielt ihn aber zurück. Sie duzte ihn, um ihre Weigerung zu mildern.

Verhalte dich ruhig, mein Lieber ... Ich kann wahrhaftig nicht. Steiner ist oben.[204]

Doch er war wahnsinnig. Nie hatte sie einen Mann in einem ähnlichen Zustande gesehen. Sie wurde von Furcht ergriffen; sie legte ihm die Hand auf den Mund, um seine Schreie zu ersticken. Sie dämpfte die Stimme und bat ihn, zu schweigen und sie zu lassen. Jetzt kam Steiner herab. Als der Bankier eintrat, hörte er, wie Nana, die nachlässig im Sessel zurückgelehnt saß, ausrief:

Ja, ich schwärme für das Landleben.

Sie unterbrach sich und wandte den Kopf dem Eintretenden zu.

Mein Lieber, sagte sie, Graf Muffat hat auf seinem Spaziergang unser Haus beleuchtet gesehen und ist gekommen, um uns willkommen zu heißen.

Die Herren reichten einander die Hände. Muffat hielt sich im Schatten und schwieg. Steiner schien ärgerlich zu sein. Man sprach von Geschäften; Steiner erzählte von einer Verwirrung auf der Börse. Nach Verlauf einer Viertelstunde verabschiedete sich der Graf, Nana gab ihm bis zur Tür das Geleite. Er verlangte ein Stelldichein für die nächste Nacht, sie verweigerte es ihm. Steiner ging bald auf sein Zimmer, um sich zu Bett zu legen und brummte über die ewigen Launen der Frauen. Endlich war sie die beiden Alten los geworden ... Nana fand Georges, geduldig hinter seinem Vorhang wartend. Im Zimmer herrschte völlige Dunkelheit. Er zog sie neben sich auf den Boden nieder, wo sie sich damit unterhielten, daß sie sich umherwälzten und ihr Gelächter unter Küssen erstickten, wenn sie mit den nackten Füßen an die Möbel anstießen. In der Ferne, auf dem Wege von Gumières, schritt Graf Muffat, den Hut in der Hand haltend, die brennende Stirn in der Abendkühle erfrischend.

Das Leben war schön in den folgenden Tagen. Nana fand in den Armen des Kleinen ihre fünfzehn Jahre wieder.[205] Die Blume der Liebe, verwelkt durch die Gewohnheit und den Widerwillen gegen die Männer, erschloß sich wieder unter den Liebkosungen dieses Knaben. Ein plötzliches Erröten stieg zuweilen in ihr auf, eine Bewegung, von der ihr ganzer Körper erbebte, ein Bedürfnis, zu lachen und zu weinen, eine jungfräuliche Unruhe, durchkreuzt vom Verlangen, dessen sie sich dann schämte. Niemals hatte sie Ähnliches empfunden. Das Landleben hatte sie völlig zärtlich gestimmt. Als sie noch klein war, träumte sie lange davon, auf einer Wiese zu leben mit einer Ziege, weil sie eines Tages auf der grasbewachsenen Böschung der Stadtbefestigungen eine Ziege gesehen hatte, die an der Leine weidete. Jetzt besaß sie ein ganzes Landgut; ihre kühnsten Erwartungen waren übertroffen; ein Übermaß von Glück und Zufriedenheit schwellte ihre Brust. Die Empfindungen der Backfischzeit durchströmten sie; wenn sie des Abends, betäubt durch den im Freien verlebten Tag und von dem Dufte der Blumen und Gräser ihr Zimmer aufsuchte und dort ihren Zizi hinter seinem Vorhang wiederfand, kam ihr das Ganze vor wie der heimliche Streich einer ihre Ferien genießenden Pensionärin, die eine Liebschaft mit einem kleinen Vetter unterhält, der ihr zum Gatten bestimmt ist, dabei fortwährend in Furcht schwebt, daß ihre Eltern dahinter kommen, die das beglückende Tasten, die wollüstigen Schauer eines ersten Fehltrittes genießt.

Nana hatte in diesen Tagen die Gefühle einer Empfindsamen. Sie betrachtete stundenlang den Mond. In einer Nacht, als alles schlief, bekam sie Lust, mit Georges in den Garten hinabzusteigen. Da gingen sie, einander umschlungen haltend, lange spazieren und legten sich schließlich in das Gras nieder, wo der Morgentau sie benetzte. Ein anderes Mal – sie waren im Zimmer – fiel sie plötzlich dem Kleinen weinend um den Hals und stammelte, sie fürchte[206] zu sterben. Oft sang sie leise ein Lied vor sich hin, das sie von Frau Lerat gelernt hatte, ein Lied von Blumen und Vögeln, sie war davon bis zu Tränen gerührt, zog Georges stürmisch an sich und forderte Liebesschwüre von ihm. Kurz, sie war ganz dumm, wie sie selbst zugab, wenn sie beide wie gute Kameraden Zigaretten rauchend am Bettrande saßen und mit den nackten Füßen auf dem Holze trommelten.

Nana war vollends selig, als Ludwig eintraf. Ihr Anfall von mütterlicher Zärtlichkeit grenzte an Wahnsinn. Sie führte ihren Sohn in die Sonne hinaus, wälzte sich mit ihm im Grase, nachdem sie ihn wie einen jungen Prinzen angekleidet hatte. Sie wollte, daß er in dem an das ihrige stoßende Zimmer schlafe, wo Madame Lerat, sehr entzückt vom Landleben, schnarchte, sobald sie auf dem Rücken lag. Ludwig genierte Georges nicht im geringsten. Im Gegenteil: Nana sagte, sie habe nun zwei Kinder. In ihrer Zärtlichkeitsanwandlung war Raum für alle beide. In der Nacht stand sie zehnmal von Georges' Seite auf, um nachzusehen, ob Ludwig regelmäßig atme. Wenn sie zurückkehrte, überhäufte sie ihren Zizi mit den Beweisen mütterlicher Zärtlichkeit und er, der Jungverdorbene, fühlte sich sehr wohl, von den Armen dieses großen Mädchens gewiegt zu werden. Von dieser Lebensweise waren beide dermaßen entzückt, daß sie ihm ernstlich den Vorschlag machte, das Land nicht mehr zu verlassen. Sie würden alle anderen fortschicken und zu dreien leben: sie, er und das Kind.

Sie schmiedeten tausend Pläne, bis der Morgen kam, und achteten gar nicht auf das mächtige Schnarchen der Madame Lerat.

Dieses schöne Leben dauerte fast eine Woche. Graf Muffat kam jeden Abend und kehrte unverrichteter Dinge trostlos wieder zurück. Eines Abends wurde er gar nicht[207] empfangen; man sagte ihm, Steiner sei nach Paris zurückgekehrt und Madame sei leidend. Nana sträubte sich immer mehr gegen den Gedanken, Georges zu betrügen, diesen unschuldigen Knaben, der ein solches Vertrauen zu ihr habe. Sie werde sich für die letzte unter den letzten halten ... Zoé, die stillschweigend und voll Verachtung dieses Abenteuer mit ansah, dachte, Madame sei verrückt geworden.

Am sechsten Tage fiel eine Schar von Besuchern mitten in diese Idylle hinein. Nana hatte eine Menge Leute eingeladen in der Meinung, es werde niemand kommen. Sie war daher auch recht verdrießlich, als an einem Nachmittag ein voller Omnibus vor dem Tore von La Mignotte hielt.

Da sind wir, rief Mignon, der zuerst dem Wagen entstieg und dann seine beiden Söhne Henri und Charles herunterholte.

Jetzt erschien Labordette, der einer endlosen Reihe von Damen vom Wagen half: Lucy Stewart, Karoline Héquet, Tatan Néné, Maria Blond. Nana dachte, es seien alle da, als La Faloise zum Vorschein kam, um Gaga herauszuheben und dann ihre Tochter Amélie. Zusammen elf Personen. Es war schwer, alle diese Leute unterzubringen. In La Mignotte waren fünf Gastzimmer, deren eines schon von Madame Lerat und Ludwig besetzt war. Das größte der freien Zimmer wurde Gaga und La Faloise eingeräumt. Amélie sollte auf einem Feldbett in Nanas Toilettezimmer schlafen. Mignon und seine beiden Söhne erhielten das dritte Zimmer, Labordette das vierte. Es war noch ein Zimmer da; hier schlug man vier Betten auf, für Lucy Stewart, Karoline Héquet, Tatan und Maria. Steiner sollte auf dem Diwan im Salon schlafen. Als alle untergebracht waren, zeigte Nana – die anfänglich wütend gewesen – sich entzückt in ihrer Rolle als Schloßherrin. Die Damen beglückwünschten sie zu ihrer Besitzung.[208]

Dann erzählten sie ihr, alle zugleich redend, die neuesten Pariser Geschichten.

Was hat Bordenave zu meiner Flucht gesagt?

Er hatte es nicht zu arg getrieben. Nachdem er anfangs gebrüllt, daß er sie durch Gendarmen werde zurückbringen lassen, hatte er ganz einfach am Abend ihre Rolle durch eine andere besetzt und die kleine Violaine, die jetzt die »Blonde Venus« darstellt, hatte keinen üblen Erfolg erzielt. Diese Nachricht machte Nana nachdenklich ...

Es war erst vier Uhr. Man schlug vor, einen Spaziergang zu machen.

Als ihr ankamt, rief Nana, war ich eben im Begriff, Erdäpfel auszuheben.

Da wollten alle Erdäpfel ausheben, ohne auch nur die Kleider zu wechseln. Das war einmal ein rechter Spaß. Der Gärtner und seine beiden Gehilfen befanden sich schon auf dem Felde. Die Damen knieten auf dem Boden, wühlten mit ihren ringgeschmückten Fingern die Erde auf und stießen ein Freudengeschrei aus, wenn sie eine recht große Kartoffel entdeckten. Es war eine prächtige Unterhaltung. Tatan Néné feierte hierbei ihre höchsten Triumphe. Sie hatte in ihrer Jugend sich so viel mit dem Einsammeln von Erdäpfeln beschäftigt, daß sie auf die andren geringschätzig herabsehen und ihnen Ratschläge erteilen konnte, wie sie es zu machen hätten. Die Herren strengten sich weniger an. Mignon, der hier den Biedermann spielte, benützte den Landaufenthalt dazu, die Erziehung seiner Söhne zu ergänzen. Er hielt ihnen Vorträge über Parmentier und dessen Verdienste um die Einführung des Kartoffelbaues.

Das Essen am Abend war von einer ausgelassenen Heiterkeit. Es wurde nur so verschlungen. Nana, die sich in angeregter Stimmung befand, zankte sich mit ihrem »Haushofmeister«, einem jungen Menschen, der beim Bischof von[209] Orleans gedient hatte. Beim Kaffee rauchten die Damen. Ein förmlicher Hochzeitslärm tönte zu den offenen Fenstern hinaus und verlor sich im Abenddunkel. Die von der Feldarbeit heimkehrenden Bauern blieben von Zeit zu Zeit stehen und betrachteten mit erstaunter Miene das hellerleuchtete Haus.

Es ist dumm, daß ihr übermorgen schon nach Paris zurückkehrt, rief Nana, aber wir wollen bis dahin schon einiges veranstalten.

Man beschloß, übermorgen, an einem Sonntag, die Ruinen der alten Abtei von Chamont, die ungefähr sieben Kilometer entfernt lagen, zu besuchen. Fünf Wagen aus Orleans sollten die ganze Gesellschaft nach dem Frühstück abholen und gegen 7 Uhr abends zum Essen wieder nach La Mignotte bringen. Es versprach, reizend zu werden.

Wie allabendlich, kam auch heute Graf Muffat das Flüßchen entlang nach La Mignotte. Er war erstaunt über die helle Beleuchtung und die geräuschvolle Heiterkeit. Die Stimme Mignons erkennend, begriff er die Sachlage und entfernte sich wütend über dieses neue Hindernis und entschlossen, irgendeinen Gewaltstreich zu begehen. Georges, der durch eine kleine Hinterpforte, zu der er den Schlüssel besaß, das Haus betrat, stieg ruhig zum Zimmer Nanas hinauf, indem er längs der Mauern vorbeihuschte. Doch es wurde Mitternacht, bis sie kam. Sie war tüchtig benebelt sie immer sehr verliebt. Sie wollte durchaus, daß er sie und noch mütterlicher gestimmt als sonst. Der Wein machte nach der Abtei von Chamont begleite. Er weigerte sich aus Furcht, dabei gesehen zu werden. Das wäre ein scheußlicher Skandal. Darüber brach sie in Tränen aus, und es gelang ihm nur mit vieler Mühe, ihren Verzweiflungsanfall zu beschwichtigen, indem er ihr versprach, mit von der Partie zu sein.[210]

Du liebst mich also? stammelte sie. Wiederhole mir, daß du mich sehr liebst. Sag', mein Wölfchen, wenn ich stürbe, würde das dich sehr betrüben?

In Fondettes war durch Nanas Nachbarschaft das ganze Haus in Aufregung gebracht. Jeden Morgen, beim Frühstück, kam Madame Hugon unwillkürlich auf diese Frau zu sprechen, indem sie erzählte, was der Gärtner ihr berichtete und dabei jene Art von Unruhe empfand, welche diese Mädchen den würdigsten Frauen einflößen. Sie, sonst so duldsam, war ganz aufgeregt und außer Fassung, erfüllt von dem unbestimmten Vorgefühl eines Unglücks, das am Abend sie erschreckte, als ob die Gegend durch irgendein reißendes Tier, das einer Menagerie entkommen, unsicher gemacht sei. Sie begann denn auch ihre Gäste auszuzanken, indem sie dieselben beschuldigte, daß sie sämtlich um La Mignotte umherstrichen. Den Grafen Vandeuvres hatte man auf der Landstraße mit einer Dame gesehen, die offenes Haar trug, ohne Hut, und die sehr heiter gestimmt schien. Er wies die Zumutung zurück, dies sei Nana gewesen. Es war in der Tat Lucy, die ihn ein Stück Weges begleitete und ihm lachend erzählte, wie sie ihren dritten Prinzen vor die Tür gesetzt habe. Auch der Marquis Chouard ging täglich aus; er sagte, der Arzt habe ihm dies verordnet. Gegen Daguenet und Fauchery zeigte sich Madame Hugon geradezu ungerecht. Besonders der erstere verließ das Haus gar nicht, er schien darauf verzichtet zu haben, die Bekanntschaft mit Nana zu pflegen, und legte Estella gegenüber eine achtungsvolle Verehrung an den Tag. Auch Fauchery blieb in Gesellschaft der gräflichen Damen Muffat. Ein einziges Mal war er auf einem Feldpfade Herrn Mignon begegnet, der die Arme voll Blumen hatte und seinen Söhnen eine botanische Vorlesung hielt. Die beiden Männer reichten einander die Hände und teilten einander wechselseitig Nachrichten[211] über Rosa mit, die sich vortrefflich befand. Sie hatte heute beiden geschrieben und sie gebeten, noch einige Zeit das Landleben, die gute Luft zu genießen. Madame Hugon verschonte unter allen ihren Gästen bloß den Grafen Muffat und Georges.

Der Graf, der vorgab, daß er in Orleans wichtige Geschäfte habe, konnte doch unmöglich dieser Dirne nachlaufen; Georges hingegen wurde jeden Abend von solch furchtbaren Migräneanfällen geplagt, daß er tagsüber ruhen mußte.

Indessen war Fauchery zum ständigen Ritter der Gräfin Sabine geworden, jedesmal, wenn der Graf sich nachmittags entfernte. Wenn man sich in den Park begab, trug er ihren Feldsessel und ihren Schirm. Er unterhielt sie mit den wunderlichen Einfällen eines kleinen Journalisten und brachte sie allmählich zu jener Vertraulichkeit, die das Landleben so sehr begünstigt. Durch die Gesellschaft dieses jungen Mannes, dessen geräuschvolle Scherze und Spöttereien sie nicht bloßstellen konnten, gleichsam in eine Jugend zurückversetzt, schien sie ohne viel Bedenken sich er geben zu haben. Zuweilen suchten sich, wenn sie sich eine Sekunde allein befanden, hinter einem Strauche verborgen, ihre Blicke; sie hielten mitten im Lachen plötzlich inne und wurden ernst, als hätten sie einander begriffen.

Am nächsten Freitag mußte man zum Frühstück ein neues Gedeck auflegen. Herr Theophile Venot, den Madame Hugon im verflossenen Winter bei der Gräfin Muffat eingeladen zu haben sich erinnerte, war plötzlich angekommen. Er krümmte den Rücken und zeigte die Manieren eines unbedeutenden, gutmütigen Menschen, der gar nicht merkt, welche Ehrfurcht seine Umgebung ihm entgegenbringt. Wenn es ihm beim Nachtisch gelungen war, sich vollständig in Vergessenheit zu bringen, so saß er da und kaute Zuckerstückchen,[212] wobei er Daguenet beobachtete, der Estella mit Erdbeeren aufwartete und dann wieder Fauchery zuhörte, der die Gräfin Sabine mit irgendeiner Anekdote unterhielt. Sobald man ihn ansah, lächelte Herr Venot gutmütig. Nach aufgehobener Tafel nahm er den Arm des Grafen und ging mit diesem in den Park. Es war bekannt, daß er auf Muffat, seitdem dieser seine Mutter verloren, einen großen Einfluß besaß. Seltsame Gerüchte waren über die Herrschaft im Umlauf, die der vormalige Advokat im gräflichen Hause Muffat übte. Fauchery, ohne Zweifel gestört durch die Anwesenheit Venots, erzählte Daguenet und Georges allerlei Geschichten über den Ursprung von Venots Vermögen. Es stamme aus einem großen Prozeß, den er einmal für die Jesuiten zu führen hatte. Seither hatte dieser feine Herr sich mit Haut und Haar den Pfaffen verschrieben. Die jungen Leute spotteten über den kleinen Greis und fanden, daß er ein dummes Gesicht habe. Ein unergründlicher Venot, ein riesenstarker Venot, der im Dunkeln für die Klerisei arbeitet, war ihnen ein komischer Begriff. Doch sie schwiegen, als sie den Grafen am Arm Venots zurückkehren sahen, sehr bleich, mit geröteten Augen, als ob er geweint habe.

Sie werden miteinander von der Hölle gesprochen haben, brummte Fauchery.

Die Gräfin Sabine, welche diese Worte gehört hatte, wandte langsam den Kopf, und sie versenkten ihre Blicke ineinander, wie um einander lange zu prüfen, ehe sie den ersten Schritt wagten.

Gewöhnlich suchte die Gesellschaft nach dem Essen eine Terrasse auf, welche die ganze Ebene beherrschte. Am Sonntag nachmittag herrschte ein köstlich heiteres Wetter. Gegen 10 Uhr hatte man Regen befürchtet, allein der Himmel bedeckte sich mit einem milchweißen Nebel, der im Sonnenlichte einem Goldstaube glich. Madame Hugon[213] machte den Vorschlag, man solle in der Richtung auf Gumières bis zum Choueflüßchen eine Fußpromenade machen. Sie war trotz ihrer sechzig Jahre noch sehr rüstig und eine Freundin solcher Fußpartien. So kam die Gesellschaft, die den Vorschlag mit Freuden aufgenommen hatte, in ziemlicher Unordnung bei der Brücke an, die über das Flüßchen gelegt war. Fauchery und Daguenet mit den Damen Muffat bildeten die Vorhut; ihnen folgte der Graf und der Marquis an der Seite der Madame Hugon. Vandeuvres, sehr gelangweilt und bedächtig seine Zigarre rauchend, bildete den Schluß des Zuges. Venot ging lächelnd von einer Gruppe zur andren, gleichsam um alles zu hören.

Der arme Georges ist in Orleans, sagte Madame Hugon wiederholt. Er will den alten Doktor Tavernier, der keine Krankenbesuche mehr macht, wegen seiner Migräne zu Rate ziehen. Er hat sich schon um 7 Uhr, als noch alles im Hause schlief, auf den Weg gemacht. Die kleine Reise wird ihn vielleicht zerstreuen. Sie unterbrach sich plötzlich und rief:

Warum bleiben denn alle auf der Brücke stehen?

In der Tat waren die Vorausgegangenen am Brückenkopfe stehen geblieben, als ob irgendein Hindernis im Wege stehe, obgleich die Bahn völlig frei war.

Vorwärts! rief Graf Vandeuvres.

Sie rührten sich nicht, sondern blickten starr nach einem herannahenden Gegenstande, den die andern noch nicht sehen konnten, weil der von dichtbelaubten Pappeln eingesäumte Weg hier eine Biegung machte. Man hörte indes das immer näher kommende Geräusch von Wagenrädern, untermischt von Gelächter und Peitschenknall. Plötzlich tauchten fünf Wagen auf, von denen die weißen, blauen und rosa Toiletten der Insassen weithin schimmerten.

Was ist das? fragte Madame Hugon überrascht. Dann[214] erriet sie allmählich und murmelte, entrüstet über diese Begegnung:

Oh, dieses Weib! Gehen wir! ...

Doch es war nicht mehr Zeit zu entkommen. Die fünf Wagen, die Nana und ihre Gäste zur Abtei von Chamont brachten, hatten die kleine hölzerne Brücke erreicht. Fauchery, Daguenet und die Damen Muffat mußten die Brücke wieder verlassen und nahmen mit den übrigen längs der Straße Aufstellung. Es war ein fröhlicher Zug. Das Gelächter in den Wagen hatte aufgehört, die Insassen der Fahrzeuge wandten neugierig die Köpfe zur Seite, man betrachtete einander gegenseitig in dieser Stille, die durch nichts als den gleichmäßigen Trab der Pferde unterbrochen war. Im ersten Wagen saßen Maria Blond und Tatan Néné, stolz zurückgelehnt wie Herzoginnen, voll Verachtung auf diese ehrbaren Frauen herabblickend, die zu Fuße gingen. Dann kam Gaga, die allein eine Bank einnahm und neben der La Faloise so vollständig verschwand, daß man nichts als seine Nase sah. Jetzt folgten Karoline Héquet mit Labordette, Lucy Stewart mit Mignon und seinen Söhnen und zuletzt in einer Viktoria, Steiner mit Nana, die den armen Zizi, der auf einem Klappsitz ihr gegenüber saß, gleichsam zwischen den Knien hielt.

Diese letzte ist es, nicht wahr? fragte die Gräfin ruhig Herrn Fauchery, indem sie tat, als ob sie Nana nicht erkenne.

Die Viktoria streifte sie fast, sie aber rührte sich nicht. Die beiden Frauen hatten einen langen Blick getauscht. Die Herren benahmen sich gebührend: Fauchery und Daguenet erkannten niemanden und blieben völlig kalt. Der Marquis drehte verlegen einen Grashalm zwischen den Fingern; er war voll Angst, daß eine dieser Damen ihm einen bösen Streich spielen könne. Bloß Vandeuvres, der sich etwas abseits[215] hielt, wagte es, Lucy mit einem Augenblinzeln zu grüßen, die ihm im Vorbeifahren zugelächelt hatte.

Nehmen Sie sich in acht, flüsterte Venot dem Grafen Muffat zu.

Dieser folgte verstört der Erscheinung Nanas, die vor ihm floh. Seine Gattin hatte langsam den Kopf gewendet und beobachtete ihn. Da blickte er zur Erde, wie um den Galopp der Pferde nicht zu sehen, die ihm Leib und Seele davonführten. Er hatte Georges zwischen den Knien Nanas sitzen gesehen und begriff ... Er hätte in seinem Schmerz aufschreien mögen. Ein Kind. Die Erkenntnis, daß sie ein Kind ihm vorgezogen, brach ihn vollends. Steiner war ihm gleichgültig, aber dieses Kind ...

Madame Hugon hatte ihren Sohn nicht gleich erkannt. Dieser hatte, als er die Situation übersah, nicht übel Lust, in den Fluß zu springen, allein Nanas Knie hielten ihn fest. Starr und bleich fuhr er über die Brücke. Er wagte es nicht aufzublicken ... Vielleicht würde man auch ihn nicht sehen.

Oh, mein Gott! sagte plötzlich die alte Dame, das ist ja Georges, der mit ihr fährt ...

Die Wagen waren vorübergefahren inmitten des Unbehagens, das entsteht, wenn Leute, die einander kennen, sich nicht grüßen. Diese kurze, peinliche Begegnung schien eine Ewigkeit gedauert zu haben. Dann kamen die Wagen wieder in rascheren Lauf; die bunten Kleider flatterten lustig in der Luft, die Heiterkeit kehrte bald wieder. Nana schaute zurück und sah, daß die Spaziergänger nach kurzem Zögern kehrtmachten, ohne die Brücke zu überschreiten. Madame Hugon schritt am Arme des Grafen Muffat einher, stillschweigend und traurig, daß niemand wagte, ihr ein tröstendes Wort zu sagen.

Haben Sie Fauchery gesehen? rief Nana der im nächsten[216] Wagen sitzenden Lucy zu. Ist das ein Lumpenkerl! Er soll mir sein Benehmen entgelten ... Und Paul, dieser Bursche, mit dem ich so gut gewesen, nicht den leisesten Wink ... Das sind mir nette Leute.

Steiner bemerkte, die Herren hätten sich gebührend benommen. Darüber machte Nana ihrem Verehrer eine abscheuliche Szene. So! sie verdiene also nicht einmal einen Gruß! ... Der erste beste Lümmel dürfe sie beschimpfen ... Schönen Dank. Steiner sei nicht besser als die übrigen ... Eine Frau müsse man immer, unter allen Umständen grüßen, meinte sie.

Wer ist denn die große Dame? fragte Lucy laut schreiend, um das Geräusch der Räder zu übertönen.

Es ist die Gräfin Muffat, erwiderte Steiner.

Ich dachte mir's, bemerkte Nana. Gräfin hin, Gräfin her, – diese Dame taugt nicht viel. Sie wissen, ich habe einen Blick dafür ... Ich kenne sie jetzt, diese Gräfin, als ob ich sie gemacht hätte ... Wollen Sie wetten, daß sie die Geliebte dieses Scheusals Fauchery ist? Ich sage Ihnen: sie ist es. Wir haben das gleich weg, wir Frauen ...

Steiner zuckte die Achseln. Seit dem vorhergehenden Abend war er sehr verstimmt. Er hatte Briefe erhalten, die ihn am nächsten Tage abberiefen; auch fand er es wenig amüsant, in La Mignotte seine Nächte auf dem Diwan des Salons zuzubringen.

Das arme Kleinchen! rief Nana dann plötzlich aus, als sie Georges verstört dasitzen sah.

Glauben Sie, daß Mama mich erkannt hat? stammelte der Knabe.

Bestimmt, sie hat ja auch aufgeschrien ... Es ist meine Schuld ... Er wollte nicht mit; ich habe ihn gezwungen ... Hör', Zizi, soll ich deiner Mama schreiben? Sie hat ein sehr würdiges Aussehen. Ich will ihr schreiben, daß ich dich[217] nie gesehen, daß Steiner dich mitgebracht hat, und zwar heute zum erstenmal.

Nein, nicht schreiben, sagte Georges. Ich will die Sache schon selber schlichten, und wenn man viele Geschichten macht, so kehre ich gar nicht mehr zurück.

Er wurde sehr nachdenklich; er suchte nach Ausflüchten für den Abend. Die Wagen rollten auf einem endlos scheinenden, geraden Wege dahin, der mit schönen Bäumen besetzt war. Die Landschaft schwamm im silbergrauen Lichte eines Septembermorgens. Die Damen fuhren fort, einander allerlei Bemerkungen zuzurufen. Zuweilen richteten sie sich im Wagen auf, um besser zu sehen, und standen eine Weile, auf die Schultern ihres Nachbars gestützt, bis ein Stoß des Wagens sie wieder auf ihren Sitz niederwarf. Karoline Héquet war in ein tiefes Gespräch mit Labordette verwickelt. Sie stimmten in der Ansicht überein, daß Nana, ehe drei Monate herum seien, die Besitzung verkaufen werde, und Karoline riet Labordette, das Landgut unter der Hand preiswert zu erwerben. Vor ihnen fuhren Gaga, ihre Tochter und La Faloise, der vergebliche Anstrengungen machte, Gagas dicken Hals mit seinen Küssen zu erreichen, und sich darum begnügte, ihre Schulter zu küssen. Amélie wurde dieses Spieles müde und bat ihre Mutter, ein Ende zu machen. Im anderen Wagen saß Mignon mit seinen Söhnen und Lucy. Um vor Lucy zu prahlen, ließ Mignon seine Söhne Fabeln von La Fontaine rezitieren. Henri war darin sehr geschickt, er sagte seine Fabeln in einem Zuge her, ohne auch nur ein einziges Mal zu stocken. Voraus fuhren Tatan Néné und Maria Blond. Diese hatte sich die Zeit damit vertrieben, der dicken Tatan die dümmsten Geschichten einzureden, zum Beispiel, daß man in Paris aus Safran und Leim Eier mache; doch fand sie schließlich die Dummheit Tatans gar zu langweilig. Die Gesellschaft begann[218] den Weg zu lang zu finden; die Frage: »Sind wir nicht bald am Ziel?« pflanzte sich von Wagen zu Wagen. Nana befragte ihren Kutscher, er hob sich dann im Wagen und schrie den andern zu:

Noch ein Viertelstündchen. Die Kirche, die ihr da unten hinter den Bäumen seht ...

Dann fuhr sie fort:

Man sagt, die Besitzerin von Schloß Chamont sei eine Dame aus der Zeit Napoleons I ... Sie soll eine lustige Person gewesen sein, wie mir der Gärtner Josef erzählte, der es von den bischöflichen Dienstleuten weiß. Jetzt ist sie fromm und steckt immer bei den Pfaffen.

Wie heißt sie? fragte Lucy.

Madame d'Anglars, ich habe sie gekannt, rief Gaga.

Die ganze Gesellschaft richtete sich in den Wagen auf, um Gaga zu betrachten. Gaga hatte die d'Anglars gekannt. Boshafte Fragen flogen hin und her, aber dennoch wurde Gaga bewundert.

Jawohl, ich habe sie gekannt, obwohl ich damals sehr jung war. Man erzählte, daß sie bei sich zu Hause ekelhaft sei, allein, wenn sie in ihrem Wagen fuhr: sehr schick. Und Geschichten waren über sie im Umlauf, Geschichten von einem Schmutz, einer Ungeheuerlichkeit! ... Kein Wunder, wenn sie ein Schloß besitzt; im Handumdrehen hat sie einen Mann kahl gemacht. Ah, Irma d'Anglars lebt noch! Nun, sie muß ihre neunzig Jahre alt sein.

Die Damen wurden plötzlich ernst. Neunzig Jahre! Keine von ihnen, meinte Lucy, sei so gebaut, um dieses Alter zu erreichen. Nana erklärte übrigens, sie wolle keine alten Knochen tragen. Man war am Ziel; das Gespräch mußte abgebrochen werden. Lucy allein sprach noch mit Nana, um diese zu überreden, daß sie am folgenden Tage mit ihren Gästen nach Paris zurückkehre. Die Ausstellung werde[219] bald geschlossen; die Damen müßten sich beeilen, nach Paris zurückzukehren, wo die Saison alle Erwartungen übertroffen habe. Allein Nana weigerte sich; sie verabscheue Paris, sagte sie, und werde nicht sobald wieder das Pariser Pflaster betreten.

Nicht wahr, wir bleiben, Kleiner? sagte sie, indem sie unbekümmert um Steiner Georges' Knie drückte.

Die Wagen hielten. Die überraschte Gesellschaft stieg an einem verlassenen Orte am Fuße eines Abhanges aus. Einer der Kutscher mußte ihnen mit der Spitze seiner Peitsche die hinter Baumgruppen verborgenen Ruinen der alten Abtei von Chamont zeigen. Die Enttäuschung war allgemein. Die Damen fanden die Sache höchst langweilig: einige mit Moos überzogene Steinhaufen und ein halber Turm. Das lohnte wahrlich nicht die Mühe, einen Weg von zwei Meilen zu machen. Dann zeigte ihnen der Kutscher das Schloß, dessen Park in der Nähe der Abtei begann. Er riet ihnen, einen Fußpfad längs der Parkmauer einzuschlagen und so die Runde um das Schloß zu machen; das würde einen sehr schönen Spaziergang geben. Die Wagen würden die Gesellschaft im Dorfe erwarten.

Der Vorschlag wurde angenommen.

Irma wohnt da recht hübsch, rief Gaga, indem sie vor einem Gitter in einer Ecke des Parkes stehen blieb.

Die andern traten auch hinzu und betrachteten das große Schloß, mit dem das Parkgitter versperrt war. Dann folgten sie dem Fußpfade längs der Parkmauer und bewunderten immer wieder die Bäume, deren hohe, reichbelaubte Äste in einer dichten grünen Wölbung die Mauer überragten. Nach ungefähr drei Minuten befanden sie sich vor einem andern Gitter; durch dieses sah man einen breiten Rasenplatz, in dessen Mitte zwei hundertjährige Eichen ihre breiten Schatten warfen. Nach weiteren drei Minuten standen[220] sie vor einem neuen Gitter, das die Aussicht auf eine riesige Allee gewährte; es war ein Gang voll dunkler Schatten, aus dessen Hintergrunde die Sonnenscheibe wie ein heller Stern hervorglänzte. Sie standen eine Weile in stummer Bewunderung und ließen dann Ausrufe der Überraschung hören. Sie waren, von Neid erfüllt, mit der Absicht gekommen, sich lustig zu machen, aber was sie sahen, flößte ihnen Achtung ein.

Diese Irma hatte es zu was gebracht.

Auf dem weiteren Wege lösten Baumgruppen, Hecken von Schlingpflanzen, welche die Mauer bekleideten, und kleine Pavillons einander ab. Die Damen, müde von der ewigen Runde, wollten auch das Schloß sehen, nicht nur Bäume und Sträucher. Aber die Mauer nahm kein Ende und trotz der Müdigkeit harrten sie aus. Sie bewunderten die Größe dieser Besitzung. Bei einer plötzlichen Krümmung – man befand sich eben auf dem freien Platz des Dorfes – war die Mauer zu Ende und das Schloß wurde im Hintergrunde eines Ehrenhofes sichtbar.

Alle blieben stehen, festgebannt von dem Anblick der breiten Treppen, der zwanzig Fenster Front und der Größe des einst von Heinrich IV. bewohnten Schlosses, wo man noch sein Schlafzimmer zeigte mit dem großen Bett und den Vorhängen von genuesischem Samt.

Nana seufzte tief auf.

Mein Gott, ist das herrlich, murmelte sie still vor sich hin.

Jetzt ging eine Bewegung durch die Gesellschaft. Vor der Kirche erschien eine Dame und Gaga erklärte, dies sei Irma. Sie erkenne sie genau; trotz ihrer Jahre habe sie noch immer ihre gerade, stolze Haltung, den Glanz ihrer Augen. Man kam von der Vesper; Madame blieb eine Weile unter dem Kirchenportal stehen. Sie trug eine Seidenrobe in der mattbraunen Farbe der welken Blätter; das Gesicht[221] war ernst und würdig wie das einer alten Marquise, die den Schrecken der Revolution entronnen ist. Sie ging, gefolgt von einem Lakai, langsam über den Platz. Die Ortsleute grüßten sie ehrfurchtsvoll; ein Greis küßte ihr die Hand, ein armes Weib wollte sich ihr zu Füßen werfen, sie war mächtig wie eine Königin, reich an Jahren und Ehren. So stieg sie die Stufen der Treppe ihres Schlosses empor und verschwand.

So weit bringt man es, wenn man Ordnung hält, sagte Mignon seinen Söhnen in salbungsvollem Tone.

Nun machte jeder seine Bemerkung über die Dame. Labordette fand, daß sie sehr gut erhalten sei. Maria Blond sagte eine Unanständigkeit, worüber Lucy böse wurde. Man müsse das Alter respektieren, sagte sie. Alle stimmten darin überein, daß man es mit einer ungewöhnlichen Erscheinung zu tun habe. Man stieg wieder in den Wagen. Auf dem Rückwege war Nana sehr schweigsam. Zweimal hatte sie den Kopf zurückgewandt, um einen letzten und allerletzten Blick auf das Schloß zu werfen. Eingelullt durch das regelmäßige Rollen der Wagen vergaß sie Steiner an ihrer Seite und Georges, der vor ihr saß. In der Dämmerung des Abends sah sie eine Erscheinung: Madam d'Anglars, würdig und verehrt, reich an Jahren und Ehren. Abends kehrte Georges zum Essen nach Fondettes zurück. Nana, die ein immer zerstreuteres und seltsameres Benehmen angenommen hatte, sandte ihn nach Hause, damit er seine Mama um Verzeihung bitte. Das gebührte sich, sagte sie in einer plötzlichen Anwandlung von Familiensinn. Sie beschwor ihn sogar, daß er diese Nacht nicht mehr zurückkehren möge. Sie sei ermüdet, und er habe die Pflicht zu gehorchen. Georges, der diese Moralpredigt sehr langweilig fand, erschien gesenkten Hauptes und mit schwerem Herzen vor seiner Mutter. Glücklicherweise war sein Bruder Philipp[222] angekommen, ein großer, munterer Soldat. Dadurch entfiel die Szene, die Georges befürchtet hatte. Madame Hugon beschränkte sich darauf, ihn mit tränenerfüllten Augen stumm zu betrachten, während Philipp, als er erfuhr, um was es sich handle, drohte, daß er ihn bei den Ohren nehmen werde, wenn er es wagen sollte, sich noch einmal bei jenem Weibe zu zeigen. Georges fühlte sich erleichtert bei dieser Wendung der Dinge und dachte, er werde am folgenden Tage gegen zwei Uhr einen Sprung zu Nana machen, um mit ihr die Stelldichein für die Folge zu regeln.

Die Gäste in Fondettes waren indes beim Essen ziemlich zerstreut. Vandeuvres hatte schon seine Abreise angekündigt. Er faßte den Plan, Lucy nach Paris zu entführen; er fand den Gedanken drollig, ein Mädchen zu entführen, das er seit zehn Jahren täglich sah, ohne besonderes Verlangen nach ihm zu tragen. Der Marquis Chouard, dessen Nase fortwährend im Glase steckte, dachte an Gagas Tochter. Er erinnerte sich, daß er einst Lili auf den Knien gewiegt hatte. Die Kinder wachsen so schnell ... Die Kleine ist ordentlich stark geworden. Graf Muffat saß mit gerötetem Gesicht, in Gedanken versunken, da. Er hatte Georges lange angeblickt. Nach aufgehobener Tafel ging er, ein leichtes Fieber vorschützend, in sein Zimmer, um sich daselbst einzuschließen. Herr Venot eilte ihm nach, und es gab eine Szene im Zimmer. Der Graf warf sich auf sein Bett und verbarg schluchzend sein Haupt in den Kissen. Venot tröstete ihn milden Tones, nannte ihn seinen teuren Bruder und riet ihm, die göttliche Gnade anzurufen. Muffat röchelte vor Schmerz und hörte Venot nicht. Plötzlich sprang er vom Bett auf und rief:

Ich gehe zu ihr, ich ertrag's nicht länger ...

Gut, sagte der Greis; ich werde Sie begleiten.

Als sie das Haus verließen, konnte man zwei Schatten[223] im Dunkel der Allee verschwinden sehen. Fauchery und die Gräfin überließen jetzt allabendlich Daguenet gänzlich die Sorge, Estella bei der Bereitung des Tees behilflich zu sein. Auf der Landstraße eilte der Graf mit solcher Hast voraus, daß sein Begleiter ihm kaum zu folgen vermochte. Dieser hörte ganz außer Atem nicht auf, dem Grafen die besten Lehren über die Versuchungen des Fleisches zu erteilen.

Muffat antwortete nicht, sondern stürmte in der stillen Nacht vorwärts. Vor La Mignotte angekommen, sagte er einfach:

Gehen Sie, ich vermag nicht länger zu widerstehen.

Nun denn, Gottes Wille geschehe, murmelte Venot. Ihre Sünde wird eine Waffe in seinen Händen sein.

In La Mignotte gab es Streit beim Essen. Nana hatte einen Brief Bordenaves vorgefunden, in dem dieser ihr riet, der Ruhe zu pflegen. Es hatte ganz den Anschein, als ob ihr Fernbleiben ihn nicht zu sehr bekümmere; auch hörte sie, daß die kleine Violaine allabendlich vom Publikum zweimal gerufen werde. Als Mignon in sie drang, mit ihnen am folgenden Tage nach Paris zurückzukehren, wurde sie störrisch und erklärte, von niemandem Ratschläge anzunehmen.

Sie hatte überhaupt bei Tische ein seltsam strenges Benehmen an den Tag gelegt. So erteilte sie ihrer Tante eine derbe Rüge, weil die arme Lerat sich irgendeinen freien Ausdruck erlaubt hatte. Niemand dürfe in ihrem Hause Schweinereien reden, meinte sie; nicht einmal ihre Tante. Dann verblüffte sie die ganze Gesellschaft durch ihre Anwandlungen eines ehrbaren Lebenswandels; sie sprach davon, ihrem Ludwig eine religiöse Erziehung zu geben und auch ihrerseits ein neues Leben zu beginnen. Als die Gäste lachten, verfiel sie in einen lehrhaften Ton und sagte, die Ordnung allein führe zum Wohlstande, und sie habe keine[224] Lust, auf Stroh zu enden. Die Damen stießen Rufe der Überraschung aus und sagten, Nana sei ausgetauscht worden. Sie aber starrte träumerisch in die Luft, wo ihr das Bild einer sehr reichen und sehr verehrten Nana auftauchte.

Man war eben im Begriff, zu Bett zu gehen, als Muffat erschien. Labordette war der erste, der ihn im Garten erblickte. Er begriff, was der Graf wolle, und tat ihm den Gefallen, Steiner abseits zu halten; dann führte er den Grafen bis zu Nanas Zimmer. Labordette benahm sich in solchen Angelegenheiten sehr ge schickt; es schien seine höchste Freude zu sein, andere glücklich zu machen. Nana schien nicht überrascht zu sein, nur zeigte sie sich verdrossen über die Zähigkeit, mit welcher der Graf ihr nachstellte. Man müsse ernst sein im Leben, bemerkte sie salbungsvoll. Die Liebeleien seien eine dumme Geschichte und führten zu nichts. Dann empfand sie Gewissensbisse über die Jugend Zizis; wahrlich, sie hatte sich nicht anständig betragen. Sie wolle nun den besseren Weg betreten und einen Alten nehmen.

Zoé, sagte sie der entzückten Kammerzofe, morgen früh packe die Koffer, wir kehren nach Paris zurück.

Und sie schlief mit Muffat, allerdings ohne Vergnügen.

Quelle:
Zola, Emile: Nana. Berlin, Wien 1923, S. 184-225.
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