Das Gespräch auf der Höhe von Flyeln

[342] So erzählte Olivier.

Ich verhehle es nicht, alles, was er mir gesagt, alles, was ich in Flyeln gesehen hatte, machte großen Eindruck auf mich. Ich bewunderte seinen Mut, seinen wohltätigen Schöpfergeist und bemitleidete sein Los, in solchem Grade verkannt zu werden, als er es war.

Es bedurfte nicht die Überredungsgabe meines Freundes, nicht der zauberischen Schmeichelei in den Bitten der schönen Baronin, um mich zur Verlängerung meines Aufenthalts in dieser herrlichen Oase zu bewegen. Ja, ich muß dies Flyeln eine Oase nennen, eine blühende Insel in den Wüsten der umliegenden Gegend; denn hier, sobald man diesen Boden betritt, wenn man aus den teils sandigen, teils versumpften Landschaften der Umgebung, aus den weiten verwilderten Kieferwäldern, aus den ärmlichen, kotigen, unordentlichen Dörfern voller Baracken und verwahrloster Menschen tritt, wird der Boden plötzlich grüner, der Mensch zusehends menschlicher. Auch hier waren Baracken, sie sind aber saubere Hütten geworden, in denen ich mit Vergnügen am Arm der Baronin Besuche machte; auch hier waren Moräste; man erkennt sie aber nur noch an den langen Gräben und unterirdischen, mit Steinen gefüllten, mit Erde überdeckten Wasserabzügen; auch hier waren Sklaven, die vor dem Oberherrn und noch mehr vor seinen Beamten zitterten und insgeheim beide zu betrügen gewohnt waren; jetzt aber haben sie die aufrechte, gerade Stellung freier Menschen, sie sehen in dem Baron ihresgleichen – aber mit welcher kindlichen Ehrfurcht und Liebe umringen sie jetzt ihn und die Seinigen! – Diese Umänderung im Zeitraum eines halben Jahrzehnts wäre einem Wunder ähnlich, wenn man nicht wüßte, wie klug und fest Olivier dabei zu Werke ging; wie er nur sehr langsam aus der Rolle des gebieterischen Leibherrn zu der des Lehrers, dann des Vaters überging; wie er seine Bauern, hinter welche er[343] die Furcht vor den angedrohten Strafen als Treiber stellte, wie er sie vorwärts lockte und durch ihren groben Eigennutz kirrte; wie er nie auf ihre Erkenntlichkeit, nie auf ihren Verstand, nie auf ihr sittliches oder religiöses Gefühl rechnete, sondern sie anfangs mehr bloß abrichtete, als unterrichtete, und dann auf die Stärke mehrjähriger, gewohnter Einübung zum Bessern und auf die nachwachsende Jugend hoffte. Daher übernahm er und die Baronin, der Pfarrer und Schullehrer die Unterweisung aller; daher kam es auch, daß die Beisitzer des Gerichts, daß die Vorsteher der Gemeinden meistens junge Leute von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren waren; wenigstens erblickte ich keinen der alten Bauern unter ihnen.

Doch alles das gehört nicht hierher. Ich will ja nur das Los meines Freundes erzählen, nicht die Art und Weise, wie er seine Untergeben entwilderte oder seine unwirtbaren Schollen blühend machte.

Als mir Olivier seine Haushaltungsbücher vorlegte und unwiderleglich zeigte, daß er, weit entfernt, bei den vorgenommenen Änderungen an Einkünften zu verlieren, im Gegenteil mehr erhielte, als sein verstorbener Oheim und jeder seiner Vorfahren bezogen hatte, warf er lächelnd das Wort hin: Nun siehst du, Norbert, wo die Narrheit zu Hause ist, ob in Flyeln oder in der königlichen Residenz? Weil ich gewinne, werde ich als ein Verschwender behandelt und muß fremden Menschen, die man mir zur Untersuchung meiner Rechnungen schickt, Einsicht in das Innerste meines Hauswesens gestatten.

Warum beklagst du dich nicht darüber? Es ist eine Ungerechtigkeit, eine Gewalttat!

Meine Beschwerden würden vergeblich sein. Kein Gericht, sondern kurzweg ein Kabinettsbefehl, vom Ministerium veranlaßt, verdammte mich zu dieser Lage. Die Sache ist nicht leicht abzustellen; denn das Ministerium wird keinen Schritt zur Aufhebung tun wollen, weil es damit selber erklären müßte, ungerecht gehandelt zu haben. Die jährlich kommende Untersuchungs-Kommission[344] wird dazu nicht raten, weil sie sonst das Vergnügen einer Lustreise und den Gewinn von Taggeldern, auf meine Kosten gezahlt, verlöre. Daß man mich hier wie einen Gefangenen auf das Gut meiner Vorfahren gebannt hat, ist noch das Erträglichste. – Jetzt, Norbert, ehrlich, wie denkst du von allem?

Ich gestehe dir, Olivier, ich kam mit Vorurteil und Trauer zu dir; ich werde dich mit den angenehmsten Erinnerungen verlassen! Man hat dich überall für einen Wahnsinnigen ausgegeben; der bist du nicht, sondern ich stimme deinem ehemaligen Administrator bei: du bist nur ein edler, wunderlicher Sonderling.

Sonderling? Nun ja, es ist der rechte Name für diejenigen, welche sich von dem Schlendrian und dem Unwesen des Zeitalters absondern. Diogenes von Sinope galt auch für einen Toren; Cato, der Censor bei den Römern, für einen Pedanten; Colombus wurde auf den Straßen Madrids für einen Narren angesehen; Olavides der Inquisition übergeben; Rousseau von den Bernern aus seinem Asyl vertrieben, so wie Pestalozzi von vielen seiner Landsleute zu den Halbnarren gezählt wurde, weil er mit Bettlern und deren Kindern lieber, als mit der gepuderten Haarbeutelwelt umging. Und daß ihr mich einen Sonderling heißet, mich, der ich doch nur mein von Gott empfangenes Recht, vernünftig und naturgemäß zu denken, zu sprechen und zu handeln, und nichts anderes, geltend mache – ist das nicht ein herber Vorwurf gegen euch selbst?

Nein, Olivier, kein Vorwurf, weder gegen die Welt, noch gegen dich! Niemand wehrt dir, vernünftig und natürlich zu denken und zu handeln; aber schone auch du die Rechte anderer, nach ihren gegenwärtigen Begriffen, Gewohnheiten und selbst nach ihren Vorurteilen zu denken, zu sprechen, zu handeln, bis sie oder ihre Kinder einst weiser sind. Nicht alle Menschen können Philosophen sein!

Habe ich ihrer nicht geschont? habe ich sie angegriffen?[345]

Allerdings, Freund! wenn du mir es zu sagen erlaubst. Indem du deine Sitten den allgemeinen Sitten zu grell gegenüberstelltest, brachst du den Frieden mit denen, unter welchen du lebtest, und bewirktest du nur die Hälfte des Guten, was du wirken konntest, ja nicht einmal die Hälfte. Christus nahm Judäas Sitte an, ließ sich sogar zu Judäas Vorurteilen herab, um mächtiger zu wirken. Was liegt am Ende an einer lächerlichen Mode, was daran, ob man einen steifen Zopf oder kurz geschnittene Haare, einen Bart oder ein glattes Kinn trägt? Du kennst die Bedeutung des Sie im Deutschen, des vous im Französischen. Nun ja, ich gebe zu, es sei töricht, eine Person in der Mehrzahl anzureden; aber was schadet dies zuletzt? Redeten nicht auch Griechen und Römer von sich in der Mehrzahl? Du kennst die Bedeutung des Sie im Deutschen und des Du. Warst du nun nicht der angreifende Teil, als du dich über die herrschenden unschuldigen Gebrauch wegsetztest und ohne Rücksicht auf die bisherigen Begriffe vom Anstand jedem das Du aufdrängtest? Wer sich der Welt gegenüberstellt, dem steht sie gegenüber. Könntest du dich darüber wundern?

Ich wundere mich keineswegs, weil ich das erwartete. Führe mir nicht das Beispiel von Christus an, nach der Weise derer, die alle ihre Trägheit und Schalkheit mit frommer Miene hinter verdrehten Schriftstellern der Bibel verstecken. Der Göttliche hatte mit seinen Zeitgenossen Höheres zu tun, als ich, darum schwieg er zu den mindern Torheiten; ich aber habe es mit diesen allein zu tun und will wenigstens mich nicht zwingen lassen, Barbareien zu loben, zu entschuldigen, oder gar mitzumachen. So viel Recht wird dem Menschen auf Erden unter Menschen doch wohl noch gestattet sein, daß er Gebrauch von seinem schlichten Verstande mache?

Freund, wie mir es scheint, hat man dir dies Recht nicht streitig machen wollen; wohl aber das Recht, durch unbehutsame Mitteilung deiner Überzeugungen, zumal wenn sie im offenen Streit mit der noch bestehenden Ordnung sind, gefährliche[346] Verwirrungen zu veranlassen. Du selbst hast anfangs in Flyeln bei deinen Leibeigenen den gestrengen Grundherrn gespielt, hast sie nur nach und nach, je nachdem sie dazu vorbereitet waren, und nicht plötzlich, zur Freiheit geführt. Du wußtest wohl, daß es verderblich sein würde, Kindern ein Messer in die ungeübte Hand zu geben, das in geübten Händen das nützlichste Werkzeug ist. Was würdest du gesagt haben, wenn einer deiner Leibeigenen plötzlich seinen Genossen die Sprache der Wahrheit von den ewigen Grundrechten der Menschheit, von der Barbarei und Ruchlosigkeit des Feudalwesens, von der natürlichen Gleichheit der Menschen geführt hätte? Würde dieser Reformator nicht alle deine edeln Entwürfe zerstört haben?

Allerdings, Norbert! aber ich hoffe, das Beispiel geht nicht mich und mein Tun an. Ich habe nie gegen die bestehende Ordnung geredet, auch wenn sie schlecht war, sondern ich gab Gott, was Gottes und dem Kaiser, was des Kaisers ist. Ich redete nur gegen solche bestehende Mißbräuche und Vorurteile, die nicht durch bürgerliche oder Staatsverträge geheiligt sind. Gegen euer Undeutsch, gegen eure Maskeraden und heuchlerischen Komplimente, gegen euern unnatürlichen Luxus, gegen eure weibischen, hölzernen Verunstaltungen durch welsche Moden, gegen eure Begriffe von Ehre und Schande, von Verdienst und Belohnung habe ich geredet, und zwar nur verteidigungsweise für meine Person, wenn ihr Europäer mich nötigen wolltet, meine Rückkehr zur Vernunft zu verdammen, und mich zwingen wolltet, eurer Verkehrtheit zu gefallen, von der Natur wieder abtrünnig zu werden.

Aber, Freund Olivier! Deine Urteile über stehende Heere, über den Geburtsadel, über die unterdrückten Rechte der Nationen, über ...

O Popoi, Freund Norbert! Diese Sätze sind, Gott Lob, in Europa als tote Wahrheiten allgemein anerkannt. Man nennt sie in Thesi und in der Theorie richtig, in der Praxis irrig, und zwar aus triftigen Gründen. Ich habe nichts dagegen; ich selbst, wäre[347] ich Fürst oder Minister, würde mich wohl hüten, ehe ich ein philosophisches Volk hätte, Platos Republik einzuführen. Allein ich habe diese Sätze unter Freunden, unter meinesgleichen ausgesprochen, nicht sie dem Pöbel, zur Empörung, gepredigt. Ich tat, was heute Millionen in Schrift und mündlichem Worte tun. Ihr müßtet der halben Bevölkerung Europas den Kopf abschlagen, wenn ihr wolltet, daß solche Sachen nicht gedacht und gesprochen würden. Eben daß man sie in der einen Hälfte des Volkes denkt und spricht, dadurch allein dringen sie auch in die andere Hälfte über, und ist einmal die Mehrheit vom Bessern überzeugt, dann macht sich alles leicht von selbst, ohne Staatsumwälzung und Blutbad, auf dem natürlichen Wege der verbesserten Gesetzgebung. Wahrlich, nicht deswegen hielt man mich für wahnsinnig, lieber Norbert, nicht deswegen verbannte man mich aus der übrigen Welt! Niemand hätte etwas dagegen gehabt, wenn ich, als Baron, gegen die Ungerechtigkeit, Barbarei, Torheit und Schädlichkeit deklamiert haben würde, welche mit dem Institut des bevorrechteten Erbadels verbunden sind; niemand hätte etwas dagegen gehabt, wenn ich bei meinen Deklamationen eine Gräfin oder Baronin geheiratet haben würde. – Es treiben's viele so. Aber daß ich folgerecht handelte, obgleich niemand dadurch beschädigt wurde; daß ich die Liebe eines schönen und tugendhaften Bettlerkindes dem Vorurteil meiner ahnenstolzen Sippschaft vorzog; daß ich, ein Baron, ein von der Landstraße weggenommenes uneheliches Kind zur Gemahlin wählte – das war ein Verbrechen. Norbert, siehe Malchen noch einmal an – dann tritt vor meinen pergamentenen Stammbaum, und dann verdamme mich!

Mit solchen Dokumenten für dein Recht, lieber Olivier! bist du freilich ein furchtbarer Advokat. Ich denke aber, der Adel hätte dir am Ende diese Sünde gegen seinen Stand wohl hingehen lassen und dich allenfalls als eine Ausnahme von der Regel betrachtet. – Du weißt, man denkt heutigen Tages in solchen Dingen schon viel duldsamer; der Adel ist nicht mehr wie ...[348]

Das glaubst du? O mein Freund, täusche dich nicht über unsere Kaste, in der nicht nur die Physiognomien und Vorrechte, sondern auch die Begriffe und Vorurteile der Familien erblich, und durch Vererbung auf viele Generationen unausrottbar geworden sind! Der Adel hat die eigentlich fixe Idee, von Geburt aus von besserem Teige zu sein als die übrige Menschheit, und wenn er auch der Gewalt der Revolutionen unterliegen muß: seine fixe Idee bleibt obenauf. Sahst du nicht den ausgewanderten Adel Frankreichs im Elend? Seinen Dünkel verlor er nicht, auch als er seine Schuhe selbst flicken, seine Hemden selbst waschen mußte. Siehe die jungen, im Elend geborenen oder erzogenen französischen Edelleute jetzt wieder in Frankreich! Was treiben sie? Statt mit ihrem Schicksal ausgesöhnt zu sein, klagen sie, weil sie mit Leuten von bürgerlicher Abkunft so viele, ja alle Rechte teilen sollen. Dafür arbeiten sie gegen die Verfassung, bis es keine Verfassung mehr ist, und eine neue Revolution sie abermals ausstößt.

Hier, mein lieber Advokat, läßt du dich auf einer Schwäche ertappen, die ich zu benutzen viel zu großmütig bin! Was beweisen Menschen jenes Landes für oder wider Menschen unseres Landes? Wer würde aus den Begriffen der indianischen Häuptlinge mit ihren knöchernen Nasenringen eine Anklage gegen unsern hiesigen Adel machen wollen? – Lassen wir das! Aber versteh' mich wohl! Ich möchte dich mit der übrigen Welt aussöhnen. Ein kleines Opfer von dir, eine geringe Nachgiebigkeit in unbedeutenden Äußerlichkeiten, und, glaube es mir, man wird dir alle deine Meinungen, selbst deine Paradoxien verzeihen. Und wir sind schuldig, Opfer zu bringen. Nur dadurch erkaufen wir Vertrauen. Und nur im Besitze des öffentlichen Vertrauens können wir öffentlich wirken. –

Du verlangst ein kleines Opfer von mir, Norbert! Ich kenne es schon. Du forderst, als Kleinigkeiten, nichts weniger, als mich selbst mit allen meinen Überzeugungen, Grundsätzen und daraus hervorgehenden Pflichten zu opfern. Aber wenn ich[349] nun meine Überzeugungen und Grundsätze aufgeopfert habe, das heißt, mein ganzes Wesen, was tauge ich dann noch in der Welt? Womit soll ich dann Gutes wirken?

Noch mit vielem! Siehe andere weise Männer, sie stiften, ohne mit der Welt zu zerfallen, unsägliches Gute! Warum könntest du es nicht? Was kannst du, selbst durch dein Beispiel, aber allein stehend, wirken, wenn dich, wie es jetzt geschieht, deine Umgebung verkennt und glaubt, du habest Schaden an deinem Verstande genommen?

Die Frage verdient eine Antwort, denn sie ist von allen deinen Fragen die wichtigste. Zuerst gedenke meiner Befugnis als Mensch, daß ich, wenigstens in meinem Hause, auf meinem Boden, meiner besseren Überzeugung gemäß, essen, trinken, mich kleiden, reden und handeln darf, wenn ich damit nur keine fremden Rechte verletze. Da ich nun die Albernheiten und Abgeschmacktheiten, Künsteleien, Unnatürlichkeiten und Verzerrungen der jetzigen europäischen Menschheit, wie sie sich eben aus dem Schlamm alter Barbarei hervorwindet, lächerlich, schädlich, unnatürlich, verächtlich finde, soll ich, trotz aller Neigung, alles Berufes und aller Pflicht zum Wahren und Gerechten, keinen Gebrauch von jener Befugnis machen? Selbst nicht auf die Gefahr hin, daß ich von unseren Barbaren, den Kunst- und Gewohnheitstieren, die es nun einmal nicht besser verstehen, ausgelacht werde? Soll der Weltumsegler, wenn die Wilden Indiens ihm Menschenfleisch zum Schmause vorsetzen, sein Grausen überwinden und die scheußliche Sitte mitmachen, damit ihn die Indianer nicht auslachen? – So viel, Norbert, was meine Person unmittelbar und allein berührt!

Hier schwieg Olivier einen Augenblick, als wollte er etwaige Antworten abwarten, fuhr aber bald fort: Übrigens, Norbert, erinnere dich des Bruchstückes aus der Reise des Pytheas, deines eigenen Geständnisses von der getroffenen und treffenden Wahrheit! Du selbst gibst zu, daß die menschliche Gesellschaft unsers Weltteils weit von den Gesetzen der Natur abgeirrt ist.[350] Ihre alle gesteht, daß wir eben darum unendlich viel zu leiden haben; denn die Verletzungen der ewigen Gesetze Gottes tragen ihre Strafen gegen die Frevler in sich selbst. Keiner von euch leugnet, daß euer gesamter bürgerlicher und häuslicher Zustand, daß eure Verfassungen, Sitten und Lebensweisen höchstens nur ein folgerechtes Beharren im Naturwidrigen sind. Aber wer von euch hat den Heldenmut der Vernunft, zu den einfachen ewigen Ordnungen Gottes zurückzukehren? An diesem Heldenmut fehlt es! Wohlan, mir ist er nicht fremd. Es ist gut, daß einer und einzelne, unbekümmert um Wahn und Gelächter des großen Haufens, ein Beispiel des Guten und Rechten im Leben aufstellen. Es ist gut, daß einzelne aufstehen, die mit dem herrischen Wahne des Zeitalters sich nicht vergleichen, sich ihm nicht fügen, sondern ihm offene Fehde bieten. Denn durch bloße Lehren von Kanzeln, Kathedern und Schaubühnen, durch bloße Philosopheme, durch Lobreden auf Natürlichkeit und Wahrheit, wird nichts getan. Ihr redet, philosophiert und schreibt immerdar, und die Lehrer bleiben selbst immerdar wie sie sind, und die Schüler werden nicht anders. – Darum ist's gut, daß einzelne die Urbilder des Besseren in die Wirklichkeit des Lebens einführen. Allerdings wird man sie anfangs für Unsinnige halten und bemitleiden und bespötteln. Nach und nach gewöhnt sich das Auge der Zeitgenossen aber an die fremdartigen Erscheinungen. Endlich wird gesagt werden: aber der Mann hat doch in vielen Dingen so unrecht nicht. Zuletzt wagen es die Kühnsten, schüchtern in einzelnen Dingen nachzufolgen. – Und, Norbert, wer die Menschheit, oder auch einen kleinen Teil der Menschheit, nur um einen Schritt wieder zur Natur zurückgeführt hat, der hat für die Flüchtigkeit des Lebens genug getan! – Und so, lieber Freund, laß mich gewähren! Viele pflegen den, der recht tut, nur deswegen zu tadeln, weil es sie verdrießt, daß eben er, und nicht sie selbst den Mut haben, das Rechte zu tun. – Weil ich ohne Luxus und mit Verbannung des Fremdartigen trinke und speise; weil ich mich bequemer[351] und dem Auge gefälliger kleide; weil ich dem männlichen Bart seine Ehre widerfahren lasse; weil ich den Vorrechten und Vorurteilen meiner Kaste entsage, und nicht mehr, als ich wert bin, gelten will; weil ich mich durch Vermählung mit einem Mädchen von niedriger und unehelicher Abkunft nicht zu beflecken glaube; weil ich keine Ehre durch einen Zweikampf herstellen, und kein Zeichen meiner wirklichen oder vermeintlichen Verdienste auf der Brust zur Schau tragen mag; weil ich Leibeigene zu meinen freien Mitmenschen und Freunden mache; weil ich die Lüge verachte, die Wahrheit ohne Furcht bekenne: darum werde ich noch im neunzehnten Jahrhundert wie ein Narr behandelt, ungeachtet ich der Vernunft gemäß lebe, mich gegen bestehende Verfassungen und Gesetze nicht verging, niemandem Leids zufügte, manchem Gutes erwies, nie das wahrhaft Sittliche und Anständige verletze. – Hier, Norbert, hast du meine Antwort auf deine Frage! Nun laß uns davon abbrechen!

Wir brachen ab. Ich umarmte den edlen Sonderling, und sagte ihm nur lächelnd: Wir haben ein altes Sprichwort: Allzu scharf macht schartig.

Nach einigen Tagen verließ ich ihn. Die Erinnerungen an Flyeln werden zu den angenehmsten meines Lebens gehören. Ich will es auch nicht verhehlen, daß, wenn die ganze Welt in den Wahnsinn meines Oliviers verfallen wollte, ich mit Freuden einer der ersten Wahnsinnigen werden würde. Wir haben seitdem unsern Briefwechsel wieder aufgenommen, und ich habe ein Gelübde getan, von Zeit zu Zeit nach dem glücklichen Flyeln zu wallfahrten.[352]

Quelle:
Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen. Frankfurt a.M. 11980, S. 342-353.
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