Die neue Zeit

[9] Tout bouge – on dirait, des horizons en marche.

E. V.


Anders ist unsere Zeit, anders das Empfinden dieses unsres Augenblickes in der Ewigkeit, als das Lebensgefühl all unserer Ahnen. Unbewegt und alterslos ist nur die ewige Erde geblieben, das dunkle Feld, auf dem der eintönige Schein der Jahreszeiten Blüte und Welken in regelmäßigem Reigen abteilt, unveränderlich nur das Wirken der Elemente und das rastlose Überschwingen vom Tag zur Nacht. Aber anders ist ihr geistiges Antlitz geworden, alles das, was dem Werke des Menschen unterliegt. Ist anders geworden, um wieder anders zu werden. Immer schneller scheint sich dieser Wandel der kulturellen Phänomene zu vollziehen, nie war die Spanne von hundert Jahren so groß, so inhaltsreich wie die bis zur Schwelle dieser unserer Tage. Städte sind jäh aufgewachsen, so groß und verwirrend, so undurchdringlich und so endlos, wie es einst nur die Urwälder waren, die nun schwinden und bebautes Land werden. Immer mehr gewinnt das menschliche Werk die Grandiosität und das Elementare, das einst nur Geheimnis der Natur war. Der Blitz ist in ihren Händen und der Schutz vor den Plötzlichkeiten des Wetters; Länder, die einst auseinanderklafften, sind zusammengeschmiedet durch den eisernen Reifen, den man der Meerenge überwölbte; Meere sind wieder vereinigt, die sich seit Jahrtausenden vergeblich suchten; in der Luft baut sich nun ein neuer Weg von Land zu Land. Alles ist anders geworden.


»Tout a changé: les ténèbres et les flambeaux,

Les droits et les devoirs ont fait d'autres faisceaux,

Du sol jusqu'au soleil, une neuve énergie

Diverge un sang torride en la vie élargie. –[9]

Des usines de fonte ouvrent, sous le ciel bleu,

Des cratères en flamme et des fleuves en feu;

Des rapides vaisseaux, sans rameurs et sans voiles,

La nuit sur les flots bleus, étonnent les étoiles;

Tout peuple reveillé, se forge une autre loi,

Autre est le crime, autre l'orgueil, autre est l'exploit.«


Anders ist das Verhältnis des Einzelnen zum Einzelnen, des Einzelnen zur Gesamtheit geworden, schwerer und wieder leichter das Netz der sozialen Gesetze, schwerer und wieder leichter unser ganzes Leben.

Aber noch ein Größeres ist geschehen. Nicht nur die wirklichen Formen, die vergänglichen Tatsächlichkeiten des Lebens sind verwandelt, wir wohnen nicht nur in andern Städten, andern Häusern, gehen in andern Kleidern, sondern auch das Unendliche über uns, das scheinbar Unerschütterliche ist anders geworden als für Eltern und Voreltern. Wo sich Tatsächliches ändert, ändert sich auch das Relative. Die elementarsten Formen unseres Begreifens, Raum und Zeit, sind verschoben. Anders ist der Raum geworden, denn wir messen ihn mit neuen Geschwindigkeiten. Wege, die unsere Vorväter noch in Tagen machten, führt nun eine einzige rasche Stunde; zu warmen blühenden Ländern, die einst getrennt waren durch langwierige Mühsale und Reisen, trägt uns eine einzige flüchtige Nacht. Die abenteuerlichen Wälder der Tropen mit ihren fremden Sternenhimmeln, die zu sehen die Früheren mit einem Jahre ihres Lebens bezahlten, sind uns plötzlich nahe und erreichbar. Anders messen wir mit diesen anderen Geschwindigkeiten das Leben. Siegreicher wird die Zeit über den Raum. Andere Distanzen hat auch der Blick gelernt, der in kalten Sternbildern plötzlich versteinerte Formen der Urlandschaften erkennt, tausendfach[10] stärker scheint die menschliche Stimme zu sein, seit sie über Tausende Kilometer hin freundschaftliche Gespräche führen kann. Anders empfinden wir die Umspannung der Erde in diesem neuen Verhältnis der Kräfte, und neu wird auch für uns der Rhythmus des Lebens, seit sein Takt heller und schleuniger schlägt. Mehr und doch weniger wird uns die Spanne von Frühling zu Frühling, mehr und weniger die einzelne Stunde, mehr und weniger unser ganzes Leben.

Und mit neuen Gefühlen müssen wir darum auch diese neue Zeit begreifen. Denn wir empfinden alle, daß wir nicht mit den alten Vorvätermaßen das Neue messen dürfen, nicht mit verbrauchtem Gefühl das Neue erleben, daß wir uns ein anderes Distanzgefühl, ein anderes Zeitgefühl, ein anderes Raumgefühl entdecken müssen, daß wir zu diesem nervösen, fiebernden Takt rings um uns eine neue Musik finden müssen. Dieses neugeborene menschliche Bedingtsein heischt eine andere Moral, das neue Beisammensein eine neue Schönheit, das neue Untereinandersein eine neue Ethik. Und dieses andere Gegenüberstehen einer anderen erneuten Welt, einem anderen Unbekannten, will eine neue Religion, einen neuen Gott. Dumpf quillt in uns allen ein neues Weltgefühl.

Ein Neues aber will in neue Worte geprägt sein. Eine andere Zeit will andere Dichter, Dichter, deren Anschauungen an ihren Raumverhältnissen entstanden sind, Dichter, die, um dieses neue Verhältnis auszudrücken, mitschwingen in diesem fiebernden Kreislauf des Lebens. Aber die meisten unserer Dichter sind zag. Sie fühlen den Mißton ihrer eigenen Stimme mit dem der Wirklichkeiten, fühlen sich noch nicht eins, noch nicht selbstverständlich in dem neuen Organismus, sie ahnen dumpf, daß ihre Sprache noch[11] nicht die unserer Lebensstunde ist. Wie Fremde, wie Verschlagene stehen sie in den großen Städten. Schreckhaft und fremdartig sind ihnen die großen rauschenden Ströme der neuen Gefühle. Willig nehmen sie all den Luxus und allen Komfort des modernen Lebens hin, gern nützen sie die Bequemlichkeit der Technik und der Organisation aus, aber poetisch lehnen sie alle diese Phänomene ab, weil sie sie nicht bewältigen können. Sie schrecken vor der Aufgabe zurück, eine Umwertung des Poetischen vorzunehmen, das dichterisch Neue in den neuen Dingen zu empfinden. Und so gehen sie abseits. Sie flüchten vor dem Wirklichen, vor dem Zeitgenössischen zu dem Ewigen zurück, zu dem, was unberührt blieb vom ewigen Wandel, besingen die Sterne, den Frühling, das ewig gleiche Rauschen der Quellen, den Mythos der Liebe, flüchten zu den alten Symbolen, den alten Göttern. Nicht aus dem Augenblick, aus der feurig fließenden Masse greifen und formen sie das Ewige, sondern graben seine Symbole immer noch aus der kühlen Erde der Vergangenheit, wie alte griechische Statuen. Sie sind darum nicht wertlos, aber sie geben im besten Fall ein Wichtiges, nie ein Notwendiges.

Denn ein Dichter, der unserer Zeit notwendig sein will, kann nur derjenige werden, der selbst wieder alles in dieser Zeit als notwendig und darum als schön empfindet. Einer, dessen ganzes dichterisches und menschliches Bemühen es wäre, einen Gleichtakt des eigenen Gefühles mit den zeitgenössischen Gefühlen zu erstreben, den Rhythmus seines Gedichtes nichts anderes sein zu lassen, als Nachhall vom Rhythmus der lebendigen Dinge, das Tempo sich lehren zu lassen vom Takt unserer Tage und in seine zuckenden Adern das Blut unserer Zeit einströmen zu lassen. Er muß darum den alten Idealen nicht fremd sein, wenn er neue[12] zu schaffen sucht, denn jeder wahre Fortschritt ruht auf tiefstem Verständnis der Vergangenheit. Der Fortschritt muß für ihn im Sinne Guyaus die Fähigkeit sein, »le pouvoir lorsqu'on est arrivé à un état supérieur d'éprouver les sensations et les émotions nouvelles, sans cesser d'être encore accessible à ce que contenaient de grand ou de beau ses précédants émotions«. Groß kann ein Dichter in unserer Zeit nur werden, wenn er sie in seinen Gefühlen als groß begreift. Was seine Zeit beschäftigt, muß ihn beschäftigen, ihr soziales Problem muß seine persönliche Angelegenheit werden. In einem solchen Dichter würden die späteren Generationen dann erkennen, wie der Mensch aus der Vergangenheit her sich den Übergang zu ihr erkämpft hat, wie man in jener schon verloschenen Minute um die seelische Identität des eigenen Gefühles mit dem Weltgefühle gerungen hat. Und selbst wenn die großen Werke eines solchen Dichters im einzelnen schon zersplittert sind, seine Gedichte veraltet, seine Bilder verblaßt, bleibt noch das Wertvollere, das Unsichtbare seiner Absicht, die Melodie, der Atem, der Rhythmus seiner Zeit, gleichsam in graphischem Bilde bewahrt. Solche Dichter, die der zukünftigen Generation Wegweiser werden, sind im tieferen Sinne auch die Bedeutungsvollsten der eigenen Epoche. Und darum ist es heute an der Zeit, von Emile Verhaeren zu reden, dem Größten und vielleicht dem Einzigen der Modernen, die das bewußte Gefühl des Zeitgenössischen dichterisch empfunden, dichterisch gestaltet haben, dem Ersten, der mit unvergleichlicher Begeisterung und unvergleichlicher Kunst unsere Zeit zum Gedichte versteinert hat.

Im Werke Verhaerens spiegelt sich unsere Epoche. Die neuen Landschaften sind darin, die finsteren Silhouetten der großen Städte, die drohende Brandung[13] der demokratischen Masse, die unterirdischen Schächte der Bergwerke, die letzten schweren Schatten der schweigsamen sterbenden Klöster. Alle geistigen Gewalten unserer Zeit, ihre Ideologie ist hier Gedicht geworden, die neuen sozialen Ideen, der Kampf des Industrialismus mit dem Agrariertum, die vampirische Gewalt, die das Landvolk von den gesunden Feldern in die brennenden Steinbrüche der Großstadt lockt, die Tragik der Auswanderer, die finanziellen Krisen, die blendenden Resultate der Wissenschaft, die Synthesen der Philosophie, die Errungenschaften der Technik, die neuen Farben der Impressionisten. Alle Manifestationen der Neuzeit sind hier im Dichterischen, im Seelischen reflektiert in ihrer Wirkung auf das zuerst verwirrte, dann verständnisvolle und dann begeisterte Gefühl des neuen Europäers. Wie dieses Werk entstanden ist, aus welchen Widerständen und Krisen sich hier ein Dichter das Gefühl von der Notwendigkeit und dann von der Schönheit der neuen Weltform erzwungen hat, wird nun zu sagen sein. Will man heute Verhaeren einreihen, so wird man seinen Platz nicht so sehr unter den Dichtern finden. Er steht nicht so sehr neben ihnen oder über ihnen, die Kunstschmiede geworden sind, Kunsthandwerker, Musiker und Maler, sondern neben den großen Organisatoren, jenen, die die neuen sozialen Ströme in Dämme gepreßt haben, neben den Gesetzgebern, die den Zusammenstoß der aufflammenden Energien zu ordnen und zu vermeiden suchen, neben den Philosophen, die in genialer Synthese all diese tausendfach verwirrten Triebe ordnen und vereinen wollen. Seine Dichtung ist der Versuch einer dichterischen Weltschöpfung, ist ein Wille zu neuen Formen, neuer Ästhetik und neuer Begeisterung. Er ist nicht nur der Dichter, auch der Prediger unserer[14] Zeit. Als Erster hat er sie als schön empfunden, nicht aber wie die Schönfärber, die geflissentlich das Dunkle wegretuschieren und das Helle verstärken, sondern er hat sie – und es wird zu zeigen sein, mit wie schmerzlicher und intensiver Anspannung – nach ursprünglicher hartnäckigster Ablehnung endlich als notwendig begriffen und den Begriff ihrer Notwendigkeit, ihrer Absicht zur Schönheit gewandelt. Er hat nach vorn und nicht mehr nach rückwärts geschaut. Als den Gipfel alles Vergangenen und als Wendung gegen die Zukunft hin, ganz im Sinne der Entwicklung, im Sinne Nietzsches, empfindet er unser Zeitalter hoch über den Vergangenheiten. Manchen wird dies vielleicht zuviel erscheinen, die unser Zeitalter gern ein armes, ein kleines nennen, als ob sie innerlich von Größe oder Kleinheit der Früheren wüßten. Denn jedes Zeitalter wird nur groß durch die Menschen, die nicht an ihm verzweifeln, wird nur groß durch seine Dichter, die es als groß empfinden, durch Staatenlenker, die ihm ein Gewaltiges Zutrauen. Von Shakespeare und Hugo sagt Verhaeren: ils grandissaient leur siècle. Sie schilderten es nicht mit der Perspektive der anderen, sondern aus ihrer eigenen Größe heraus. Si plus tard, dans l'éloignement des siècles, ils semblent traduire mieux que personne leur temps c'est qu'ils l'ont recréé l'après leur cerveau et qu'ils l'ont imposé non pas tel qu'il était, mais tel qu'il l'ont déformé. Aber indem sie es erhoben, indem sie selbst flüchtige Geschehnisse ihrer Tage in eine weite Perspektive emporführten, sind sie selbst groß geworden. Während die Verkleinerer und die Gleichgültigen selbst immer kleiner werden mit der Entfernung der Jahrhunderte, während sie in sich zusammensinken und zersplittern, kann man an solchen Dichtern so wie an den leuchtenden Uhren der Türme[15] die Stunde der Zeit einmal aus großer Ferne lesen. Bleibt von den andern kleiner Besitz, ein paar Gedichte, Sprüche und vielleicht ein Buch, so bleibt von diesen ein wichtigeres: die große Anschauung, die große Idee einer Zeit, jene Musik des Lebens, nach der die Zagen und Kleinen der nächsten Epoche wieder sehnsüchtig zurücklauschen werden, weil sie wieder nicht imstande sein werden, den Rhythmus ihrer eigenen zu verstehen. Durch diese Art der begeisterten Vision ist Verhaeren der große Dichter unserer Zeit geworden, dadurch, daß er sie nicht nur schilderte, sondern sie bejahte, daß er die neuen Dinge nicht in ihrer Tatsächlichkeit betrachtete, sondern feierte als eine neue Schönheit. Er hat alles Seiende unserer Epoche bejaht, alles und selbst den Widerstand, den er nur als willkommene Mehrung des kämpfenden Lebensgefühles empfunden hat. Die ganze Luft unserer Zeit scheint eingepreßt in die dichterische Orgel seines Werkes, und wenn er an die hellen oder dunklen Tasten rührt, wenn er laut oder leise ein Gefühl zum Anschwingen bringt, immer schwingt ihre rauschende Gewalt in seinen Gedichten mit. Während die andern Dichter immer matter und leiser wurden, immer abgesonderter und verzagter, ist die Stimme Verhaerens immer lauter und lebendiger geworden, wirklich wie eine Orgel, voll von priesterlichen Klängen und der mystischen Gewalt des großen Gebetes. Eine geradezu religiöse Gewalt, aber nicht eine des Verzagens, sondern eine des Vertrauens und der Freude geht von ihr aus. Rascher, heller, frischer fühlt man das Blut in den Adern kreisen, liest man seine Gedichte, farbiger, belebter, schenkender und schöner erscheint einem unsere Welt, reicher, männlicher und jünger lodert, befeuert vom Fieber seiner Verse, unser Lebensgefühl.[16]

Weil aber unser Leben gerade heute nichts notwendiger braucht als Erfrischung und Verjüngung des Lebensgefühles, darum müssen wir – weit über alle literarische Bewunderung hinaus – seine Bücher lieben, darum muß von diesem Dichter gesprochen werden mit all jener freudigen Begeisterung, die wir erst aus seinem Werke für unser Leben gelernt haben.[17]

Quelle:
Insel Verlag, Leipzig, 1913, S. 9-18.
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