Flucht in die Welt

[62] On boit sa soif, on mange sa faim.

E. V.


Bis zur letzten Möglichkeit war in dieser Krise die Verneinung getrieben. Nicht nur die äußere Welt hatte der Kranke negiert, sondern sich selbst. Nichts war geblieben als der Unwille, der Ekel und die Qual.


»La vie en lui ne se prouvait

Que par l'horreur qu'il en avait.«


Bis zur letzten Möglichkeit, bis zu jener Möglichkeit, die Untergang heißt oder Umwandlung, war er gelangt. Aus dem ursprünglich rein physischen Schmerz der überempfindlichen Sinnesorgane war eine moralische Depression geworden, aus der Niedergeschlagenheit ein psychisches Leiden und aus diesem Leiden allmählich in grandioser Steigerung nicht nur mehr der Schmerz am einzelnen Ding, sondern das Leiden am All: der Weltschmerz. Für den aber, der einsam das Leid der ganzen Welt auf sich genommen hat, der stark genug war, es für alle Jahrhunderte zu tragen, für den hat die Menschheit das Symbol des Gottes erfunden. Der Irdische, der Sterbliche muß zusammenbrechen unter so gigantischer Last. Bis in die letzte Ecke eines Ichs hatte hier das rachsüchtige Leben den gedrängt, der es verneinte, bis dorthin, wo er nun schauernd stand vor dem Abgrund der eigenen Brust, Stirn an Stirn gegenüber dem Tode und dem Wahnsinn. Der dichterisch menschliche Organismus Verhaerens war auf das äußerste, auf das gefährlichste überhitzt. Die Fieberglut der flagellantischen Ekstase hatte das Blut zum Kochen gebracht, sie füllte mit furchtbaren Bildern so übermächtig das Gehäuse seiner Brust, das nur ein Entspannen des Ventils vor der Explosion der Selbstvernichtung retten konnte.[62]

Zweierlei Flucht war nur möglich aus dieser Vernichtung: die Flucht in ein Vergangenes – oder die Flucht in ein Neues. Manche, Verlaine zum Beispiel, waren in solchen Katastrophen, wo ihr ganzes Lebensgebäude zusammenbrach, um nicht einsam unter dem drohenden Himmel zu stehen, in die Kathedralen des Katholizismus geflüchtet. Verhaeren aber, obwohl Gläubigkeit und Begeisterung eine der lebendigsten Quellen seiner dichterischen Kraft sind, fürchtete mehr das Vergangene als das Unbekannte. Seine Befreiung von dem ungeheuren Druck ist eine Flucht in die Welt. Er, der früher mit Hochmut das ganze Weltgeschehen als eine persönliche Angelegenheit gefaßt hatte, der in sich einsam den ewigen Zwiespalt, das unsterbliche Ja und Nein des Lebens lösen wollte, stürzt sich jetzt mitten in die Dinge, bezieht sich ein in ihr Geschehen. Er, der früher alles nur subjektiv, nur isoliert empfand, objektiviert sich nun, er, der früher sich absperrte vor der Wirklichkeit, läßt nun seine Adern in den atmenden Organismus des Lebens bluten. Er bewahrt sich nicht mehr hochmütig, er gibt sich hin, er verschenkt sich mit aller Lust an alles, tauscht den Stolz des Alleinseins mit der ungeheuren Lust des Allgegenwärtigseins. Er betrachtet nicht mehr alle Dinge in sich, sondern sich in allen Dingen. Der Dichter aber in ihm befreit sich ganz im Sinne Goethes durch Symbole. Verhaeren jagt, so wie Christus in der Legende die teuflischen Gewalten aus dem Irrsinnigen in die Säue, seinen Überschwang aus sich in die ganze Welt. Die Hitze, das Fieber seines Gefühles – die konzentriert die enge Brust zersprengen wollten – befeuern nun die ganze ihm früher so eisige und erstarrte Umwelt. Alle die bösen Gewalten, die früher in der Gewandung kranker Träume ihn umschlichen,[63] schafft er jetzt um zu Gestalten des Lebens. Er hämmert sie um, ist selbst der Schmied seines herrlichen Gedichtes, von dem er sagt:


»Dans son brasier, il a jeté

Les cris d'opiniâtreté,

La rage sourde et séculaire;

Dans son brasier d'or exalté,

Maître de soi, il a jeté

Révoltes, deuils, violences, colères,

Pour leur donner la trempe et la clarté

Du fer et de l'éclair.«


Er objektiviert das Persönliche im Kunstwerk, hämmert aus den kalten Blöcken, die eisern schwer auf ihm lasteten, nun Denkmäler und Statuen des Schmerzes. Alle die Gefühle, die früher nebelhaft dumpf, gestaltlos und traumhaft befangen wie Nachtalben auf ihm lasteten, werden nun klare Standbilder, versteinerte Symbole der seelischen Erlebnisse. Seine Angst, seine brennende, klagende, entsetzliche Angst hat der Dichter aus sich selbst gerissen und in den Glöckner gegossen, der auf dem lodernden Turme verbrennt. Die Monotonie seiner Tage hat er Musik werden lassen im Gedichte des Regens, seinen wahnsinnigen Kampf gegen die Elemente, die schließlich seine Kraft zerbrechen, zum Bilde gestaltet im Fährmann, der gegen den Fluß strebt und dem die Ruder zerbrechen, eines nach dem anderen. Das grausame Wühlen im eigenen Schmerz hat er veranschaulicht in der Idee des Fischers, der mit seinem durchlöcherten Netze immer nur Leid und Leid aus dem dunklen Strom emporfischt, seine bösen und roten Lüste im »Aventurier« vergeistigt, in dem Abenteurer, der heimkehrt aus der Ferne zum Brautfest mit der toten Geliebten. Nicht mehr in Stimmungen, im zerrinnenden Material der Träume,[64] sondern in der unendlich wandelbaren Form von Menschen sind hier die Gefühle gestaltet. Hier ist Symbolismus im höchsten Sinn, im Sinne der Goetheschen Befreiung. Denn jedes Gefühl ist gleichsam weggezaubert aus der Brust, wenn es künstlerische Gestalt gefunden hat. Und so schwindet langsam der übermächtige Druck von dem Wesen des Dichters, das kranke Fieber aus seinem Werke. Nun erst erkennt er die selbstmörderische Feigheit hinter dem Visier des Stolzes, die ihn zur Weltflucht zwang, begreift den verhängnisvollen Egoismus jeder Abschnürung vor der Welt. »Je suis été lâche et je me suis enfui du monde en mon orgeuil futile.« Diese Erkenntnis ist das letzte befreiende Wort der Krise.

Nun aber ist die faustische Verzweiflung überwunden. Ostermorgenstimmung klingt auf, der jubelnde Schrei: »Das Leben hat mich wieder!« mit den Chorälen der Auferstehung. In vielen Symbolen hat Verhaeren diese Befreiung, diesen Aufstieg von Krankheit zur Gesundung, vom verzweifelsten Ja zum seligsten Nein geschildert, am schönsten in jenem herrlichen Gedichte, wo St. Georg, der Drachentöter, mit leuchtender Lanze sich zu ihm neigt, und dann in jenem anderen, wo die sanften vier Schwestern sich ihm nahen und die Befreiung künden.


»L'une est le bleu pardon, l'autre la bonté blanche,

La troisième l'amour pensif, la dernière le don

D'être, même pour les méchants, le sacrifice.«


Güte und Liebe ziehen nun ein, wo früher nur Haß und Verzweiflung gewesen ist. Und in ihrem Nahen schon fühlt er die Hoffnung der Genesung, die Hoffnung auf natürliche künstlerische Kraft.


»Et quand elles auront, dans la maison

Mis de l'ordre à mes torts, plié tous mes remords[65]

Et réfermé, sur mes péchés, toute cloison,

En leur pays d'or immobile, où le bonheur

Descend, sur les rives de fleurs entr'accordées,

Elles dresseront les hautes idées,

En sainte-table pour mon cœur.«


Immer sicherer wird dieses Gesundungsgefühl, immer mehr teilt sich der Nebel vor der nahenden Sonne der Heilung. Nun weiß er, daß er in dunklen Minengängen geirrt ist, im spröden Gestein des Hasses sich Irrwege gehämmert hat, statt im Lichte den Weg mit den Menschen zu gehen. Und endlich bricht hell und jubelnd, hoch über der schüchternen Stimme der Hoffnung und des Gebets der jähe Triumph der Gewißheit los. Zum ersten Male findet Verhaeren die Form des künftigen Gedichtes: den Dithyrambus. Wo früher irre und einsam klagend »le carillon noir« des Schmerzes tönte, schwingen und klingen nun alle Stränge des Herzens.


»Sonnez, tous mes voix d'espoir,

Sonnez en moi, sonnez sous les rameaux

En des routes claires et du soleil.«


Und hell geht nun der Weg »vers les claires métamorphoses«.


Diese Flucht in die Welt war die große Befreiung. Nicht nur der Körper ist wieder gesundet, freut sich des Wanderns und der Wege, nicht nur die Seele ist heiter geworden, der Wille neu beschwingt und stärker als je zuvor, auch die Kunst ist von frischem, lebensrotem Blut erfüllt. Bis in den Vers Verhaerens, der feinnervig alle psychischen Veränderungen wiedergibt, spürt man die Befreiung. Denn das Gedicht, das früher in der Teilnahmlosigkeit malerischer Darstellung die kühle Form des Alexandriners wahrte, das dann in der grausamen Monotonie der Krise die Leere[66] und Öde der Empfindung durch eine erschreckende, grauenhaft schöne Gleichtönigkeit darzustellen versuchte, dieses Gedicht wird hier plötzlich wie von einem Traum lebendig, wacht auf wie ein Tier aus dem Schlafe, bäumt sich, überschlägt sich, wandelt sich, ahmt alle Gebärden nach, die drohende, die flüchtende, die jubelnde und die ekstatische, plötzlich ist – fernab von allen Einflüssen und Theorien – der »vers libre«, der freie Vers, gewonnen. So wie der Dichter nicht mehr die Welt in sich einschließt, sondern sich an sie verschenkt, so will auch das Gedicht nicht mehr eigenwillig die Welt in sein viereckiges Gefängnis sperren, sondern gibt sich hin jedem Gefühl, jedem Rhythmus, jedem Melos; es paßt sich an, wird dehnbar, kann die unübersehbare Gewalt der Städte mit seiner schäumenden Lust in sich bergen, kann sich zusammendrücken, um die Schönheit einer einzigen gefallenen Blüte in sich zu schließen, kann die donnernde Stimme der Straße, das Hämmern der Maschinen nachahmen und das Flüstern der Verliebten in einem Frühlingsgarten. In allen Sprachen des Gefühles, mit allen Stimmen der Menschen kann das Gedicht nun sprechen, seit es Weltstimme wurde aus dem gequälten Klageschrei des Einzelnen.

Mit dieser neuen Lust fühlt aber der Dichter auch die Schuld, die er seiner Zeit vorenthalten hat. Er sieht die verlorenen Jahre, wo er nur sich selbst, seinem eigenen kleinen Gefühle gelebt hatte, statt dem Worte seiner Zeit zu lauschen. In merkwürdiger Kongenialität drückt hier das Werk Verhaerens aus, was – im selben Jahre vielleicht – Dehmel in seinem Gedichte »Die Bergpredigt« so grandios gestaltet, wo er, ausschauend von der Höhe der Einsamkeit auf die Städte im Dunst, ekstatisch ruft:[67]


»Was weinst du, Sturm? – Hinab, Erinnerungen!

dort pulst im Dunst der Weltstadt zitternd Herz!

Es grollt ein Schrei von Millionen Zungen

nach Glück und Frieden: Wurm, was will dein Schmerz!

Nicht sickert einsam mehr von Brust zu Brüsten,

wie einst die Sehnsucht, als ein stiller Quell;

heut stöhnt ein Volk nach Klarheit, wild und gell,

und du schwelgst noch in Wehmutslüsten?


Siehst du den Qualm mit dicken Fäusten drohn

dort überm Wald der Schlote und der Essen?

Auf deine Reinheitsträume fällt der Hohn

der Arbeit! fühls: sie ringt, von Schmutz zerfressen.

Du hast mit deiner Sehnsucht bloß gebuhlt,

in trüber Glut dich selber nur genossen;

schütte die Kraft aus, die dir zugeflossen,

und du wirst frei vom Druck der Schuld!«


Schütte die Kraft aus, die dir zugeflossen! gib dich hin! – das ist auch der selige Schrei Verhaerens in dieser Stunde. Das Polare berührt sich. Aus höchster Einsamkeit wird höchste Gemeinsamkeit. Der Dichter fühlt, daß Sichhingeben mehr ist, als sich bewahren. Mit einem Male sieht er hinter sich die schaurige Gefahr dieses eigensüchtigen Schmerzes.


»Et tout à coup je m'apparais celui,

Qui s'est, hors de soi-même enfui

Vers le sauvage appel des forces unanimes.«


Und der früher vor diesem Aufruf in kalte Einsamkeit geflohen war, wirft sich nun ekstatisch weltwärts in tiefster Sehnsucht.


»De n'être plus qu'un tourbillon,

Qui se disperse au vent mystérieux des choses.«


Er fühlt, daß er, um alles Große und Schöne dieser feurigen Welt mitzuleben, sich nun vervielfältigen[68] müsse, tausendfach und zehntausendfach sein. »Multiple-toi!« Sei vielfach! Gib dich hin! Dieser Ruf flammt hier zum ersten Male auf. Sei vielfach!


»Multiple-toi et livre-toi! Défais

Ton être en des millions d'êtres,

Et laisse l'immensité te filtrer et transparaître.«


Aus dieser Bruderschaft mit allen Dingen wachsen erst die Möglichkeiten, ein moderner Dichter zu sein. Nur durch Hingabe an jedes Ding konnte Verhaeren so grandios das Zeitgenössische verstehen, konnte er nun Dichter der Demokratie der Städte, des Industrialismus, der Wissenschaft, der Dichter Europas, der Dichter unserer Zeit werden. Aus diesem pantheistischen Empfinden formte sich erst das innige Verhältnis zwischen Eigenwelt und Umwelt, das später in jener Identität ohnegleichen endet: nur aus einem so verzweifelten Nein konnte ein so seliges Ja werden, nur aus dem Weltflüchtling der große Weltempfinder.[70]

Quelle:
Insel Verlag, Leipzig, 1913, S. 62-71.
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