Das Gedicht Verhaerens und seine Architektonik

[122] Je suis celui des surprises fécondes.

E. V.


Das wirkliche Gedicht darf nicht ein künstliches Gefüge von Teilen darstellen, einen Mechanismus, sondern muß wie der Mensch selbst organisch sein, untrennbare Vereinigung von Seele und Leib. Es muß einen lebendigen, fleischlichen Körper haben, die Substanz des Wortes, die Farbe der Bilder, den Mechanismus der Bewegung, das Skelett des Gedankens, aber darüber hinaus auch noch jenes Unsagbare besitzen, die Seele, die es erst organisch macht, den Atem, den Rhythmus, jenes Eigene und Untrennbare, das nicht mehr der Erkenntnis, sondern nur dem Gefühle verständlich ist. Aber nicht erst in diesem Übersinnlichen entschleiert sich die Eigenart des Dichters, sondern das Gedicht eines großen Dichters muß schon in seiner Physis, in seinem Material charakteristisch sein. Neben jenem Unfaßbaren des Gefühles, jener zauberischen Schwingung muß auch das Stoffliche, die Webart des Wortes, jenes Netz des Ausdruckes, in dem das fliehende Gefühl aus den Gewässern des unterirdischen Lebens eingefangen und ans Licht gehoben wird, eigenartig sein, um des Dichters Rasse, Milieu und Persönlichkeit in gleicher Weise zu charakterisieren. Auch dieser rein stoffliche Organismus des Dichters ist dem Wachstum, der Veränderung der Reife und des Alters untertan wie jedes Lebendige. Die Struktur des Gedichtes muß ebenso wie jedes menschliche Antlitz sich aus dem Kindlichen, dem Typischen und Allgemeinen, im Umschwung der Jahre allmählich zum Charakter herausarbeiten, muß alle Wandlungen des Seelischen bis zur späten Errungenschaft des Persönlichen sinnlich auch im Äußerlichen,[122] in der Physiognomie des Materials erkennen lassen. Im wirklichen Dichter hat das Technische, das Handwerkliche, das Äußerliche eine dem geistigen und poetischen Gehalte parallel laufende Entwicklung. Auch in der Form muß das Gedicht ursprünglich eine Tradition, ein Übernommenes darstellen, um dann in der Revolte der Jugend eine eigene Form zu gewinnen, die später wieder in allmählichem Erkalten und Verkalken einen unveränderlichen Typus darstellt.

Das Gedicht Verhaerens hat auch im rein formellen Sinne seine Entwicklung und seine Geschichte. Selbst dieses Gedicht Verhaerens, das heute in der französischen Literatur so ungeheuer isoliert und so siegreich charakteristisch dasteht, daß der Kenner schon aus einer einzelnen Strophe unzweifelhaft den Schöpfer erkennt, ist einer Tradition entwachsen, ist aufgestuft auf einer Kultur und gleichzeitig einer zeitlichen Bewegung verwandt. Als Verhaeren zu dichten begann, war Victor Hugo, der Kronträger französischer Lyrik, schon gestorben, Baudelaire vergessen, Paul Verlaine fast noch unbekannt. Die Erben Victor Hugos, die sein Reich teilten, wie einst die Diadochen das Imperium Alexanders des Großen, wußten nur das Äußerliche zu wahren, und der tönende Schall ihrer Worte kontrastierte übel mit den dünnen Stimmen und künstlichen Gefühlen. Damals erhob sich gegen diesen Kreis, gegen die François Coppée, Catulle Mendès, Théodor de Banville eine neue Schule der Jugend, die sich die »Dekadenten und Symbolisten« nannte. Ich muß nun offen sagen, daß ich diesen Begriff eigentlich nicht zu erklären vermag, vielleicht nur darum, weil ich so viele verschiedenartige Definitionen darüber gelesen habe. Sicher ist nur, daß eine Gruppe junger Leute sich damals gleichzeitig gegen eine Tradition[123] wandte und in den verschiedenartigsten Experimenten einen neuen lyrischen Ausdruck suchte. Worin dies Neue bestand, ist kaum zu sagen. Die Wahrheit vielleicht ist, daß alle diese Dichter keine Franzosen waren, daß sie jeder aus seinem Lande, seiner Rasse, seiner Vergangenheit etwas Neues mitbrachten, daß sie den Respekt vor der französischen Tradition, der den anderen im Blute lag, nicht innerlich als Hemmung empfanden und so ihrem eigenen Kunsttrieb unbewußt näher kommen konnten. Man braucht nur auf die Namen zu blicken, die oft direkt den Fremden zeigen, Vielé-Griffin den Amerikaner, Stuart Merill den Engländer, Verhaeren, Maeterlinck und Mockel den Belgier, oder die wie bei Jean Moreas mit französischem Pseudonym einen komplizierten griechischen Namen decken. Die unbestreitbare Tat dieser Gruppe um 1885 war eigentlich nur, daß sie ein neues Tempo der Unruhe in die französische Lyrik brachten. Mallarmé tauchte seine Verse in ein geheimnisvolles Dunkel der Symbole, bis die Worte fast undeutsam wurden durch ihren unterirdischen Sinn, während Verlaine ihnen die traumselige Leichtigkeit einer neuen lyrischen Musik gab. Gustav Kahn und Jules Laforgue waren die ersten, die den Reim und Alexandriner abtaten und durch den unregelmäßig geordneten Freivers ersetzten. Jeder versuchte von seiner Seite das Neue zu finden, und sie alle hatten als Gemeinsamkeit jenen feurigen Ansturm gegen die Götzen der epigonischen Lyrik und die brennende Sehnsucht nach einer neuen Ausdrucksform. Daß sie das Revolutionäre in der Technik so sehr überschätzten und immer suchten, nur die Theorie zu vertiefen, statt sich selbst als Persönlichkeiten auszubilden, hat ihr Talent rasch versanden lassen. Ihre Wege haben späterhin weit divergiert. Manche von[124] ihnen sind im Journalismus untergegangen, manche treten heute nach zwanzig Jahren noch immer in den Fußtapfen ihrer Jugend wie in einem Kreise herum, und von den Symbolisten und Dekadenten ist nichts übriggeblieben als ein Blatt Literaturgeschichte, ein verblaßtes Schild, das heute längst nicht mehr seinen Inhalt deckt. Auch Verhaeren ist zu ihnen gerechnet worden, obwohl ich nicht glaube, daß eine wesentliche Einflußnahme dieser Schule bei ihm stattgefunden hat. Nur Anregungen konnte ein so Eigenwüchsiger von andern erhalten, nur die Bestärkung seines von je zur Revolte geneigten Sinnes. Seine Stellung zum »vers libre« ist keinesfalls durch diese Beziehungen begründet. Denn nicht von außen durch Nachahmungstrieb, sondern aus innerer Not hat er seine neue Form gefunden. Nicht das Beispiel der anderen hat ihn von den Ketten der Tradition befreit, sondern er mußte sich von ihr befreien. In diesem Müssen ist die ganze Wichtigkeit: denn es ist ganz gleichgültig, ob einer zufällig in gebundener Form oder im freien Vers schreibt, bedeutsam kann nur das Phänomen sein, wenn ein Dichter mit Naturnotwendigkeit, durch inneren Druck aus einer Tradition zu einer persönlichen Form gelangen muß.

Begonnen hatte Verhaeren als Parnassien. Seine ersten poetischen Versuche, die er niemals der Öffentlichkeit übergeben hat, die Verse der Schulbank und jener frühesten Studienjahre, waren ganz im Banne Lamartines und Victor Hugos. Und noch in den beiden ersten publizierten Büchern, in den »Flamandes« und in den »Moines«, ist kein einziges Gedicht, in dem Verhaeren über seine Vorbilder hinausgegangen wäre. Etwas beweglicher nur als in der strengen Schulform präsentiert sich sein Gedicht, schon zeigt es in leisen Andeutungen die Sprünge, an denen das Gefäß[125] zerbrechen wird. Aber diese leise Unbotmäßigkeit war damals mehr durch die Herbheit und Sprödigkeit des Stoffes bedingt, durch irgendeine Härte der Sprachwendung, die sich nicht anders als durch die Rasse erklären läßt. Man erkennt selbst als Fremder, daß die Rundung und das rhythmische Gleichmaß hier nicht mit dem natürlichen, selbstverständlichen Formgefühl des Romanen gehandhabt ist, sondern daß hier Wille und Kraft mit Mühe ein barbarisches Temperament zur Harmonie zwingen. Durch sein Französisch spürt man die große und wuchtige Sprache seiner Rasse, irgend etwas von der Kraft der deutschen Ballade. Und was der Name sofort verriet: den Fremden, das konnte leicht das feinere Ohr der Heimatlichen schon damals aus seinem Französisch heraushören.

Je mehr sich nun Verhaeren entwickelte, je mehr er nun seiner wirklichen Natur nahekam, je mehr sich das Vererbte der Rasse in ihm auflehnte gegen die Bändigung der Tradition, um so intensiver wird die Impression des Germanischen in seinen Versen. Entwicklung ist ja fast immer nur das Wachwerden unserer verschütteten Vergangenheiten. Die höchste Forderung jener Schule, die »impassibilité«, die eherne Unbeweglichkeit, ist seinem stürmischen Temperament entgegengesetzt, das zu wildem Rhythmus drängt und nicht zur Harmonie. Tiefere, gutturale Töne schwingen in seinen Versen mit und machen den Gesang der Vokale rauh, das Männliche, Brüske und Herbe seiner fast bäurischen Art kehrt überall seine Ecken hervor. Dazu kommt nun noch die innerliche Wandlung. Solange Verhaerens dichterische Tendenz nur eine malerische war, die ruhig und ohne Erregung die Leidenschaft des flandrischen Volkes, die ernste Art der Klöster schildern wollte, so lange teilte und ordnete der Alexandriner[126] aufs beste die rhythmischen Wellen. Aber dann, wie dieses persönliche Mitempfinden die ursprüngliche innere Teilnahmlosigkeit verwirrte, beunruhigt sich der Vers. Immer deutlicher werden die Sprünge im Alexandriner, immer größer im Dichter die Ungeduld, ihn zu zerbrechen. Nicht mehr der »vers ternaire«, der Vers der Romantiker mit seinen zwei Zäsuren, der die Zeile in zwei Teile von ganz ebenmäßigem Rhythmus und Gewicht abteilt, genügt ihm mehr, sondern er baut den von Victor Hugo zuerst eingeführten freien Alexandriner noch weiter ins Unregelmäßige aus. Die Silben bekommen verschiedenes Gewicht, verschiedene Tonwerte, sie ruhen nicht mehr, sondern schaukeln auf und ab. Und allmählich verwandelt sich der ernste, unbewegliche Gleichtakt in ein welligeres, rhythmisches Fließen. Aber auch diese Konzession wird ihm bald zu geringfügig. Ein so ungestümes Temperament wie das seine erträgt keine äußere Fessel. Denn nicht Ruhe will dieser Feurige darstellen, sondern seine eigene Erregtheit: das zuckende Vibrieren, die fiebrige Unrast. Seine große, vielfache Empfindung, die nichts weiter ist als ein modulierter Schrei, kann sich nicht im gebundenen Verse ausleben, sondern braucht die unruhige Geste, Bewegung, Freiheit, den freien Vers. Daß gleichzeitig andere Dichter in Frankreich den freien Vers anwandten, daß er – es streiten einige um die Priorität – damals für die Dichter »erfunden« wurde, hat hier überhaupt nichts zu sagen. Solche Gleichzeitigkeiten drücken niemals einen Zufall aus, sondern immer eine latente Notwendigkeit. Der freie Vers war nichts als die notwendige Reflexwirkung des modernen Gefühles, das dichterische Losbrechen der Unruhe, die in der Zeit lag. Ob Verhaeren damals Vorbilder schon gesehen hatte oder nicht, ist unwichtig. Das Übernommene[127] kann nie organisch werden, nur das Selbsterlebte ist wirklicher Gewinst. Und es lag damals ganz in der Linie seiner Entwicklung, daß er aus innerer Notwendigkeit sein altes Instrument zerbrechen und ein neues sich schaffen mußte. Denn die nervöse Unruhe, die leidenschaftliche Bewegtheit der späteren Gedichte Verhaerens ist undenkbar in gebundenen Versen. Um die ungeheure Vielfalt der modernen Impressionen, ihre Hast, ihr Feuer, ihren jähen Umschwung, ihre Plötzlichkeit, ihre finstere Melancholie und die grandiose Überraschung ihrer Dimensionen in der eigenen inneren Leidenschaft schildern zu können, muß ein Vers stark und doch biegsam sein, wie eine Fechterklinge. Solche Gedichte müssen regellos sein: wie eine wirkliche Menge, überwallend und brodelnd, nicht militärisch wie Regimenter im Taktschritt dürfen sie hinschreiten. Und wenn sie gesprochen werden wollen, dürfen sie nicht rezitiert sein in dem steifen, kalten, pathetisch schwingenden, weit ausholenden Deklamationston der Comédie française, sondern sie müssen gesprochen sein, wie an eine Menge, sie müssen einen Schrei haben, einen Anruf, und diese Aufpeitschung kann nicht mehr harmonisch sein. Sie müssen spontan sein und impulsiv.

Ungeheuer ist die Vielfalt, die das Gedicht Verhaerens durch die Befreiung von der Monotonie des Alexandriners gewonnen hat. Nun erst kann der Vers das Bildhafte eines Eindruckes und seine innere Erregtheit nicht nur durch malerische Darstellung, sondern auch rein äußerlich durch den Klang, durch die rhythmische Musik wiedergeben. Die Zeilen, die bald weit über den Rand hinausschnellen, bald sich wie ein Pfeil zuspitzen zu einem Wort, haben die ganze Klaviatur der Empfindung. Wie lange, schwarze Trauerzüge[128] mit ernstem Schritt können sie schreiten, wenn sie die Monotonie der Einsamkeit sagen wollen: »Mes jours toujours plus lourds s'en vont roulant leurs cours«, sie können wie ein Falke aufstoßen, weiß und glänzend, dem Jubelschrei »la joie« entgegen, jäh und himmelhoch über alle irdische Schwere. Alle Stimmen des Tages und der Nacht können sich jetzt onomatopoetisch darstellen; das Brüske, Plötzliche in der Kürze, das Schwere, das Grandiose in der weit ausholenden Fülle, das Unerwartete in einer jähen Härte, die Hast in fiebernd beschleunigtem Takt, das Wilde durch den unerwarteten Wechsel der Geschwindigkeit. Jeder Vers kann nun die Empfindung schon durch seinen Rhythmus ausdrücken. Und viele seiner Gedichte könnte man, ohne die französische Sprache zu verstehen, nur vom bloßen Hinhören auf ihre konsonantische Musik, manchmal sogar aus dem rein typographischen Bilde in ihrer dichterischen Absicht erkennen.

Darum möchte ich auch seine weitausladenden Gedichte symphonische nennen. Sie sind wie für ein Orchester gedacht. Nicht Kammermusik sind sie mehr, nicht einsame Geigensoli, sondern begeisterte Mischung aller Instrumente, sie sind abgestuft in einzelnen Absätzen, die verschiedenes Tempo haben und die Pausen der Übergänge. Im Gedichte Verhaerens geht die Lyrik über die Grenzgebiete hinaus. Sie ist gemengt mit dem Dramatischen und mit dem Epischen. Denn nicht nur wie das rein lyrische Gedicht will das seine eine Stimmung schildern, sondern gleichzeitig auch das Entstehen dieser Stimmung. Und dieser erste Aufbau ist episch, er ist schildernd, emporführend von einem niedern Anbeginn zu einer großen Entladung von Kraft. Und dramatisch sind dann die Übergänge, jene Ausbrüche des Temperamentes gegeneinander,[129] jene Abstürze und Aufstiege, die erst zum Schluß zu einer harmonischen Lösung führen. Rein äußerlich genommen ist das Gedicht Verhaerens breiter, länger, weiter ausholend als jedes andere zeitgenössische, weiter beugt es sich über den Rand des Lyrischen hinaus, nimmt Kraft und Nahrung, unbekümmert um die Grenzlinie der Ästhetik, von den Nachbarreichen. Es streift näher an die Rhetorik, näher an die Epik, näher an die Dramatik, näher an die Philosophie als alle andern unserer Zeit, es ist regelloser, als es das Gedicht bisher war. Und regellos – oder nur einer neuen inneren Regel gehorchend – ist seine Form. Nun, seit der Raum nicht mehr die gefesselten Zeilen in gleichen Kolonnen zusammenhält, kann der Dichter seine wilden, überschwenglichen Empfindungen auch in ihren eigenen, wilden, kühn geschwungenen Linien hinschreiben. Das Gedicht Verhaerens in dieser Zeit – und was in den Jahren der Reife gewonnen wird, bleibt unverlierbar – hat seine eigene innere Architektonik. Aber nicht einem Bau läßt es sich vergleichen, einem künstlichen, sondern nur einer Naturerscheinung. Es ist elementar wie jedes Gefühl, es entlädt sich wie ein Gewitter. Zuerst zieht eine Vision auf, wie eine Wolke, immer dichter drängt sie sich zusammen, immer schwüler, immer drängender lastet sie auf dem Gefühl, immer höher, immer hitziger steigt die innere Spannung, bis sich dann im Blitze der Bilder, im Rollen des Rhythmus all die aufgespeicherte Kraft rhythmisch entlädt. Aus dem Andante wird immer ein Furioso, und erst der letzte Absatz zeigt dann wieder den klaren, gereinigten Himmel der Beruhigung in einer geistigen Synthese des chaotischen Zustandes. Diese Struktur des Verhaerenschen Gedichtes ist fast unabänderlich. An zwei parallel laufenden Beispielen sei dieser Aufbau[130] gezeigt: in den Gedichten »la foule« und »vers la mer« aus den »visages de la vie«. In beiden ist der Einsatz eine Beschwörung, eine Vision. Hier die Menge, das Wirren und ihre Gewalt, dort ein zartes, an Turner mit seinen durchsichtigen Farben erinnerndes Morgenbild des Meeres. Nun befeuert der Dichter diese ruhende Vision mit seiner eigenen Leidenschaftlichkeit. Immer unruhiger sieht man die Menge sich bewegen, immer leidenschaftlicher die Wogen schwingen und Ekstase bricht aus in der Sekunde, da der Dichter sich selbst an diese Dinge hingibt, sich selbst unter die Menge stellt, sein Gefühl, seinen Körper in das Meer versenkt. Im Finale bricht dann jener große Schrei der Identität aus, hier die Sehnsucht ganz Menge zu werden, dort die Lust ganz Meer zu sein, in beiden jene ekstatische Geste des einzelnen zur Unendlichkeit. Aus dem ursprünglich nur sinnlich gesehenen Bilde wächst hier die große, ethische Begeisterung, aus der Vision entfaltet sich ein unbezwingliches moralisches und metaphysisches Bedürfnis. Diese Form der Steigerung vom Einzelgefühl zum Allgefühl ist die Grundform des Verhaerenschen Gedichtes. Ich möchte ihre Art, um sie ganz zu versinnlichen, am liebsten geometrisch ausdrücken und gewissermaßen von einer Parabelform dieser Gedichte sprechen. Während das lyrische Gedicht im geläufigen Sinn meist eine ebenmäßige harmonische Form darstellt, eine Rückkehr in sich selber, einen Kreis, hat das Verhaerensche Gedicht die anscheinend unregelmäßige, in Wirklichkeit aber ebenfalls von einem Gesetze beherrschte Form der Parabel. Seine Gedichte steigen in schnellem unablässigen Schwunge nach oben, steigen von der Erde auf in die Wolken, vom Wirklichen auf zum Unwirklichen, und stürzen dann von einem jähen Höhepunkte[131] wieder zur Erde zurück. Die Begeisterung treibt die Empfindung weg vom Malerischen, vom leidenschaftslosen Anblick zu dieser äußersten Höhe der Möglichkeit, weit fort von allen sinnlichen Anschauungen bis hoch ins Metaphysische, um sie dann plötzlich und unvermutet wieder zurück auf den Boden der Wirklichkeit zu führen. Und wirklich, etwas Aufschwingendes, etwas vom Surren und Fortsausen des geschleuderten Steines und dem jähen Niederfallen ist auch in der Musik der Gedichte. Auch in ihrem Rhythmus ist dieses Schneller-und-Schnellerwerden, dieses Atemholen und Zurückkehren, dieses Sichselbstbesinnen der Schwerkraft zurück zur Erde.

Über die Mittel nun, mit denen Verhaeren die Vision erreicht, mit denen er die innere Leidenschaftlichkeit der Dinge darzustellen sucht und mit der er Begeisterung weckt, sei nun einiges gesagt. Es sei vor allem versucht festzustellen, ob Verhaeren das ist, was man einen Sprachkünstler nennt. Verhaerens sprachliche Mittel sind durchaus nicht unbeschränkt. Sowohl in seinen Worten als auch in seinen Reimen findet sich häufige Wiederkehr, die manchmal an Monotonie grenzt, andererseits aber wieder eine Fremdheit, Neuheit und Unerwartetheit des Wortes, die in der französischen Lyrik fast beispiellos ist. Bereicherung der Sprache aber geht nicht nur von Neologismen aus, sondern ein Wort kann auch lebendig werden durch die Unerwartetheit einer neuen Anwendung, durch eine Umwertung des Wortsinnes, wie es etwa Rainer Maria Rilke in der deutschen Lyrik getan hat. »Die armen Worte, die im Alltag darben« zum Dichterischen zu erlösen, ist ein vielleicht noch Höheres als Neuschaffen. Verhaeren hat nun vor allem durch den vererbten flandrischen Sprachsinn eine gewisse Tonfarbe des Belgischen[132] in die französische Lyrik gebracht. Persönlich zwar der flandrischen Sprache fast unkundig, hat er doch durch die vage Musik von Kindheitstagen her, durch einen gewissen gutturalen Ton, eine Nuance gebracht, die dem Ausländer vielleicht weniger fühlbar ist wie dem Franzosen. Ich möchte mich hier auf die in diesem Punkte außerordentlich interessante Monographie von Maurice Gauchez stützen und ihr die markantesten Beispiele entlehnen. Gauchez führt unter den Neologismen, deren Ursprung er im Flämischen sucht, die folgenden an:

Les baisers rouges, les plumes majuscules, les malades hiératiques, la statue textuelle, les automnes prismatiques, le soir tourbillonnaire, les solitudes océans, le ciel dédalien, le cœur myriadaire de la foule, les automnes apostumes, les vents vermeils, les navires cavalcadeurs, les gloires médusaires, und macht mit Recht aufmerksam, wie sehr gewisse neue Verben das Vokabular der französischen Sprache bereichern könnten: Enturquoiser, rauquer, vacarmer, béquiller, s'enténébrer, se futiliser, se mesquiniser, larmer. Ich kann aber die Bereicherung, die hier aus dem Rasseninstinkt fließt, nicht als die wesentliche seiner Wortkunst anerkennen, sie gibt ihr eine heimatliche Farbe, ohne aber eigentlich das überraschend Moderne seiner Diktion zu erklären. Neuschöpferisch für die französische Lyrik ist Verhaeren vor allem durch die Erweiterung des Stoffgebietes, durch die Erneuerung des Poetischen geworden, die notwendigerweise ihren Niederschlag auch im Technischen finden mußte. Die große Blutzufuhr für seine Sprache kam nicht so sehr vom Flämischen als von der Wissenschaft. Wer Gedichte über die Börse, über das Theater, über die Wissenschaft schreibt, wer die Fabriken und die Eisenbahnhallen[133] besingt, kann nicht an ihrer Terminologie vorübergehen. Er muß gewisse technische Worte aus dem Vokabular der Wissenschaft entlehnen, gewisse pathologische Bezeichnungen der Medizin, muß den Sprachschatz des Dichterischen erweitern durch die Erweiterung des Dichterischen selbst. Man findet bei Verhaeren geographische Überraschungen des Reimes, Berlin und Sachalin, Moskau, die Balearen und andere ferne Inseln, deren Namen noch nie im Reim gelebt haben. Und da gerade die Wissenschaft durch ihren Fortschritt genötigt ist, täglich neue Namen zu erfinden, da neue Maschinen neue Notwendigkeiten des Wortes erheischen, ist hier zum ersten Male eine ungeheure Quelle der Erfrischung für die lyrische Sprache aufgedeckt.

Diesem ungeheuren Reichtum steht nun andererseits etwas entgegen, das man nicht so recht Armut oder Beschränkung nennen möchte, sondern Bezauberung. Jede Einseitigkeit des Gefühles bringt mit ihren Vorzügen auch gewisse Defekte hervor, und so hat die stete Leidenschaftlichkeit, die das Gedicht Verhaerens dem Rhetorischen, dem Predigerhaften nahebrachte, bei ihm eine gewisse Monotonie der Bilder erzeugt. Verhaeren ist von gewissen Worten, Bildern, Adjektiven, Kombinationen halluziniert. Er wiederholt sie unablässig durch sein ganzes Werk hindurch. Mit »brasier« vergleicht er alle Dinge, in denen eine vielköpfige Leidenschaft vereinigt ist, »carrefour« ist ihm das Symbol der Unschlüssigkeit, »l'essor« das Wort der letzten Anstrengung; manche Anrufe und Schreie wiederholen sich fast von Blatt zu Blatt. Auch die Adjektiva sind manchmal monoton, oft sogar schematisch mit ihrem kalten »iques« am Ende, und selbst in den Bildern ist jenes Phänomen unverkennbar, das[134] man in der Wissenschaft Pseudoanästhesie nennt, nämlich daß immer mit einer gewissen Farbe oder einem Klang sich individuell die Erinnerung an eine bestimmte Empfindung eines anderen nachbarlichen Sinnesgebietes einstellt. Rot drückt ihm alles Leidenschaftliche aus, Or alles Große und Feierliche, Weiß alles Milde, Schwarz alles Feindliche. Seine Bilder haben dadurch etwas Jähes und Absolutes, es ist in ihnen eigentlich immer, wie Albert Mockel in seiner Studie so meisterhaft ausführt, die dezisive, die plötzliche Erregung, die unsere Überraschung überwältigt. Seine Bilder sind gewaltsam wie seine Farben, wie sein Rhythmus. Sie haben die Plötzlichkeit einer Kanonenkugel, die den Raum durchschlägt und unserem Blicke erst durch die Zerschmetterung der Scheibe, erst am Ziel erkennbar wird. Das hat vielleicht seinen innersten Grund darin, daß alle diese Gedichte zur Rede bestimmt sind. Das Plakat, das in die Ferne wirken will, braucht grelle Farben, das Pathos halluzinative Bilder. Und solche hat Verhaeren gefunden wie keiner. Nuancen kennt er kaum. Er liebt mit dem rohen Instinkt des starken Menschen alles Grelle, alles Unverbundene. »La couleur, elle est dans ces œuvres une surprise des métaux et des flammes« (Mockel). Aber in diesem Material flammen sie feurig und beleuchten als Blitze auch den unendlichsten Horizont. Ich will nur erinnern an die »beffrois immensement vêtus de nuit«, oder »la façade paraît pleurer de lettres d'or«, an die »gestes de lumières de phares«. Durch die Intensität solcher Bilder erreicht Verhaeren eine ganz unvergleichliche Deutlichkeit des Gefühles. »Personne, je crois, possède à l'égal de Verhaeren le don des lumières et des ombres, non point fondus mais enchevêtrées, des noirs absolus coupés des blanches clartés« (Mockel).[135]

Einseitigkeit des Temperamentes erzeugt hier einseitigen Vorzug mit all seiner künstlerischen Beschränkung. Ein Wortkünstler im unbeschränkten Sinne dessen, der immer den einzigen, den notwendigen Vergleich für ein Ding findet, der das in einer unregelmäßigen Fülle nie sich wiederholende Wort aufspringen läßt, jedes gewissermaßen zum ersten Male gebraucht, ist Verhaeren also nicht. Sein poetisches Vokabular ist reich, aber durchaus nicht unendlich, seine Sensibilität stark, aber doch nicht unbeschränkt. Denn wie bei jedem leidenschaftlichen Dichter scheinen ihm gewisse Empfindungen in den letzten rotglühenden Erregungen identisch, scheinen ihm nur mit einigen ganz elementaren Dingen der Natur, wie dem Feuer, dem Meere, dem Winde, dem Donner und dem Blitz vergleichbar. Um es deutlich zu sagen, nicht im Sinne Goethes ist Verhaeren ein Wortkünstler, sondern eher im Sinne Schillers. Mit diesem hat er auch die Gabe gemein, gewisse Erkenntnisse zu definitivem lyrischen Ausdruck innerhalb einer Zeile zu bringen. Er hat Essenzen des lyrischen Lebensgefühles gefunden, Zeilen, die geflügelt worden sind oder es noch werden müssen. Ich will nur erinnern an Wortbildungen wie »Les villes tentaculaires«, die in Frankreich schon zu einem Schlagwort geworden sind, an gewisse moralische Sentenzen, wie »La vie est à monter et non à descendre«, oder »Toute la vie est dans l'essor«. In solchen Zeilen ist wie in einer Münze die lyrische Ekstase komprimiert, zum steten, in der Sprache rollenden Wortwert umgestaltet.

Dieses Harte und oft Brutale, dieser Mangel an harmonischen Übergängen schafft die Individualität des Verhaeren-Gedichtes. Im letzten Grunde ist sie nichts anderes als das stark Männliche. Die Stimme, die Musik[136] ist eine gutturale, tiefe, rauhe, eine männliche; der Körper seines Gedichtes hat wie der Körper des Mannes die schönen Bewegungen der Kraft, aber in der Ruhe die oft harten und nur in der Leidenschaft erst wieder schönen und bezwingenden Gesten. Während die französische Lyrik gewissermaßen den Frauenkörper nachahmte, die leise Anmut des weichen, in sanften Linien spielenden Körpers, während sie durchaus die Harmonie suchte, mühte sich das Gedicht Verhaerens nur um den Rhythmus der Bewegung, nur um den kraftvollen, stolz hinschreitenden Schritt des Mannes, seinen Lauf und Sprung, seine kämpfende Kraftentfaltung. Nicht darum allein haben ihn die Franzosen so lange abgelehnt. Denn wo wir uns in seiner Sprache eines Widerhalls vom Deutschen her freuen, fühlen sie die Rauheit germanischen Untertons; wo wir des Einklanges und der wie aus Kindheitsträumen erwachenden Erneuerung der deutschen Ballade begegnen, sehen sie eine Gegensätzlichkeit zur heimatlichen Tradition. Und tatsächlich, je mehr Verhaeren sich entwickelt hat, sowohl in seiner Persönlichkeit als auch in seinen Versen, um so mehr schält sich die germanische Anschauung durch den französischen Firnis. Nur in der Zeit der ersten Abhängigkeit war sein Gedicht von dem der anderen Franzosen kaum zu unterscheiden. Je mehr er sich den Franzosen entfremdete, um so mehr wurde er unbewußt der deutschen Kunst näher. Heute ist in seinem Gedichte vielleicht schon wieder eine Rückkehr zum Klassizismus zu bemerken. Die Neubildungen sind nicht mehr so verwegen, die Bilder schematischer, das ganze Gedicht ruhiger und geklärter. Dies aber ist durchaus kein feiges Kompromiß mit der zerbrochenen Tradition, keine reuige Rückkehr, sondern das Phänomen, das wir bei den späten Gedichten[137] Goethes, Schillers, Hugos und Swinburnes in gleicher Weise sehen, der Effekt der Kühlung des Blutes im Alter, das Nachlassen der sinnlichen Anschauung zugunsten der geistigen Begriffe. Der Sieger hat nicht mehr die Brutalität des Kämpfers, der reife Mann nicht mehr das Bedürfnis nach Revolte, sondern nach Weltanschauung, nach Harmonie. Hier wie in der ganzen Entwicklung Verhaerens ist der Vers der feinnervigste Zeiger für den seelischen Umschwung, der vollkommenste Beweis einer wirklich innerlichen, von nichts anderem als den Gesetzen des Blutes abhängigen dichterisch-organischen Entwicklung.[138]

Quelle:
Insel Verlag, Leipzig, 1913, S. 122-139.
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