Die Städte (Les villes tentaculaires)

[81] Le siècle et son horreur se condensent en elles,

Mais leur âme contient la minute éternelle.

E. V.


Wie der Gesundete nun zum ersten Male genesen in das Licht und mit ausgebreiteten Armen zu allen Dingen emporsteigt, fühlt er mit unendlicher Beseligung die freie Luft von allen Seiten, die Orgien von Licht, die Sturzbäche von Tosen und Lärm und empfängt mit unendlichem Jubelschrei die Symphonie des Lebens. Und von diesem ersten Augenblick an hat Verhaeren eine unendliche Gier und Begeisterung des Lebens erfaßt, als ob er die versäumten Jahre der Einsamkeit, der Krankheit und der Krise mit einem einzigen Sprunge überholen wollte. Sein Blick, sein Ohr, seine Nerven, alle seine Sinne, die gehungert hatten, stürzen sich nun mit einer fast mörderischen Lust auf die Dinge, reißen alles an sich, bis es ihnen ganz gehört. In alle Länder ist damals Verhaeren gefahren, als wollte er das ganze Europa fassen. In Deutschland ist er gewesen, in Berlin, in Wien und Prag, immer allein als einsamer Wanderer, unkundig der Sprache und nur horchend auf die Stimme der Stadt selbst, auf das fremde, finstre Rauschen, auf die Meeresbrandung der europäischen Metropolen. In Bayreuth ist er ehrfürchtig zum Grabe Wagners gepilgert, in München hat er diese Musik der Ekstase und Leidenschaft in sich aufgenommen, in Kolmar seinen geliebten Maler Mathias Grünewald verstehen gelernt; er hat in Spanien die tragische Landschaft des Nordens geliebt, jene finsteren, waldlosen Berge, deren drohende Silhouetten dann in seinem Carlos-Drama Hintergrund der feurigen Geschehnisse wurden; er hat in Hamburg tagelang dem gigantischen Verkehr,[81] dem Kommen und Gehen der Schiffe, dem Tausch von Landung und Fracht begeistert zugesehen. Überall, wo das Leben intensiv, ausdrucksvoll und von neuer Energie beseelt war, hat er es begeistert geliebt. Es ist charakteristisch für sein Temperament, daß die harmonische Schönheit der friedlichen und offenen, der schlafenden und träumenden Städte ihm weniger zu sagen hatte, als die finsteren und rußigen modernen Städte. Fast mit Absicht wendet sich seine Liebe vom traditionellen Ideal einem noch unbekannten entgegen. Florenz, das vielhundertjährige Symbol aller Poeten, war ihm eine Enttäuschung, zu lau die italienische Luft, zu spärlich diese Konturen, zu träumerisch die Straßen. Aber London, dieses aufgetürmte Konglomerat von Wohnungen und Fabriken, diese wie aus Erz gegossene Stadt, dieses wimmelnde Labyrinth schmutziger Gassen, dieses ewig pochende, ruhelose Herz des Welthandels mit dem Qualm der Arbeit, der die Sonne zu verdunkeln droht, war ihm eine Entdeckung. Gerade die industriellen Städte, die bisher keinen Dichter reizten, jene Städte, die sich selbst ihren bleifarbenen Himmel aus Nebel und Rauch wölben, die ihre Menschen meilenweit zusammensperren, locken ihn an. Paris ist dem Farbenfreudigen teuer geworden und seither in alljährlicher Wiederkehr der Aufenthalt seiner Wintermonate. Gerade das Unruhige und Geschäftige, das Verwirrte und Atemlose, das Gehetzte, Eifernde, Fiebernde, Brünstige, das babylonisch Verwirrte reizt ihn an. Er liebt dieses Durcheinander und seine seltsame Musik. Oft ist er stundenlang auf dem Dache der schweren Omnibusse gefahren, um besser das Gewühl übersehen zu können, um nur am Körper mit geschlossenen Augen den dumpfen Lärm, dieses dem Waldesrauschen in seiner Unaufhörlichkeit nicht unähnliche Tosen[82] besser anschlagen zu fühlen. Nicht mehr wie in seinen früheren Büchern geht er der Existenz der simplen Berufe nach, er liebt die Steigerung des Handwerklichen zum Maschinellen, wo die Absicht unsichtbar wird und nur die grandiose Organisation sich offenbart. Und langsam ist dieses Interesse für ihn selbsttätiges Lebensinteresse geworden. Der Sozialismus, der in diesen Jahren stark und tätig wurde, fiel wie ein roter Tropfen in die kranke Blässe seines dichterischen Werkes. Van der Velde, der Führer der freien Arbeiterschaft, wird sein Freund. Und wie nun die Partei in Brüssel das Maison du peuple begründet, hilft er wacker mit, liest selbst an der Université libre, nimmt teil an allen Bestrebungen, um sie dann in der schönsten Vision seines dichterischen Werkes weit über das Politische und Aktuelle in die großen Geschehnisse der Allmenschlichkeit emporzuheben. Sein innerlich nun gefestigtes Leben geht von jetzt ab mit weitem sicheren Pendelschwung. Persönliche Beruhigung, ein Gegengewicht für die ungezügelte Unrast, hatte er inzwischen durch seine Vermählung gewonnen. Nun haben die wilden Ekstasen ihren festen Punkt, von dem sie den feurigen Wirbel der neuen Erscheinungen übersehen können. Aus den krankhaften Bildern, den fiebrigen Halluzinationen werden nun klare Visionen, nicht in jähen Blitzen, sondern in starkem, strahlendem Licht erhellen sich für ihn die Horizonte unserer Zeit.

Nun da er ins Leben tritt, ist sein erstes Problem eine Auseinandersetzung mit der Umwelt, mit dem Nächsten, mit der Stadt. Aber nicht die Stadt, in der er lebt, interessiert ihn in heimatlichem Sinn, sondern die ideale moderne Stadt, die Riesenstadt überhaupt, dieses fremde und ungeheure Ding, das vampirisch alle Kräfte des Bodens und der Menschen an sich[83] gerissen hat, um ein neues Residuum an Kraft zu bilden. Sie drängt die Kontraste des Lebens hart aneinander, stuft in jähen Schichten ungeheuren Reichtum über erbärmlichster Armut auf, macht die Gegensätzlichkeiten stark, feindlich und entschieden. Zu jener Entschiedenheit des Kampfes, in der Verhaeren alle Dinge zu betrachten liebt. Die Grandiosität dieses neuen Organismus ist jenseits aller Ästhetik des Gewesenen, neu und fremd stehen auch die Menschen vor der Natur, mit anderem Rhythmus, heißerem Atem, geschwinderen Bewegungen, wilderen Gelüsten, als sie alle sozialen Vereinungen von Menschen, alle Berufe und Kasten von vordem kannten. Anders ist hier der Ausblick. Er muß nicht nur in die Ferne greifen, sondern auch in die Höhe, zu den getürmten Häusermassen, muß mit neuen Schnelligkeiten und neuen Raumverhältnissen rechnen. Ein neues Blut, das Geld, nährt diese Städte, eine neue Energie befeuert sie, einen neuen Glauben, einen Gott müssen sie erzeugen und eine neue Kunst. Unendlich sind ihre Dimensionen, schreckhaft und von noch unbekannter Schönheit, ihre Ordnung ist unterirdisch versteckt hinter einer pfadlosen Wirrnis.


»Quel océan ces cœurs!

Quels nœuds de volontés

Serrés en son mystère!«


ruft er in Staunen aus, wie er ihre Fülle durchschreitet, aber er kann ihrer Größe nicht widerstehn:


»Toujours en son triomphe ou ses défaites

Elle apparaît géante et son cri sonne et son nom luit.«


Eine ungeheure Energie fühlt er von ihr ausgehen, er spürt, wie ihre Atmosphäre mit anderem Druck auf seinem Körper ruht, wie sein Blut sich an ihrem Rhythmus beschleunigt. Schon ihre Nähe löst den Schauer neuer Lust aus.[84]


»Dans ces villes

Je sens grandir et s'exalter en moi

Et fermenter soudain, mon cœur multiplié.«


Unwillkürlich fühlt er, wie er von ihr abhängig wird, wie diese grandiose Zusammenpaarung von Energie auch in ihm eine ähnliche Konzentration aller Kräfte erzeugt, wie ihr Fieber ansteckend das seine wird, und spürt – spürt mit einer Intensität, wie kein anderer Dichter in unseren Tagen – die Identität seiner Persönlichkeit mit der Seele der Stadt. Er erkennt ihre Gefahr, er weiß, sie wird ihn mit aller Unruhe erfüllen, ihn überhitzen und erregen, ihn mit ihren Gegensätzlichkeiten verwirren.


»Voici la ville en or des rouges alchimies,

Où te fondre le cœur en un creuset nouveaux

Et t'affoler d'un orage d'antimonies

Si fort qu'il foudroiera tes nerfs jusqu'au cerveau.«


Aber er weiß, sie wird ihn auch befruchten, wird ihm Kraft geben von ihrer Stärke. Kein Großer wird mehr sein, der an ihr vorübergeht, der sie nicht empfindet, nicht mit ihr lebt, nicht an ihr wächst. Von nun ab werden alle Neuen und Starken in einer Wechselwirkung mit ihr stehen.

Diese große Erkenntnis ist – wir haben es gesehen – keine spontane, sondern eine errungene. Denn im Sinne der alten Schönheit ist der Anblick der modernen Stadt ein furchtbarer. Sie ist die Schlaflose, die ewig Wache, nicht wie die Natur manchmal ruhend und schweigend. Rastlos reißt sie die Menschen in ihren Wirbel, reizt unablässig ihre Nerven, Tag und Nacht ist sie lebendig. Bei Tag ist sie grau wie Blei, ein finsteres Bergwerk, in dem die Menschen, in den Minen der Straßen vergraben, rastlos und unwillig arbeiten, ein schwüles Geschiebe von Leidenschaften. »Urwälder von Erz und Stein« sind aufgebaut, und von[85] allen diesen Tausenden Straßen »à poumons lourds et haletants, vers on ne sait quel buts inquiétants«, scheint keine ins Freie, ins Licht zu führen. Monoton sehen sich die Millionen Fenster an, und die finsteren Höhlen, in denen die Menschen an Maschinen selbst wie Maschinen sitzen, donnern in unfaßbarem Rhythmus versteinerter Anstrengung. Kein Abglanz des Ewigen fällt auf sie nieder, feindselig, häßlich und grau keucht die Stadt bei Tag in ihrem Qualm. Aber die Nacht, die alle harten Linien mildert, schweißt die ungelenken Glieder feurig zu einem Neuen zusammen. Nachts wird die Stadt zur großen Verlockung. Die Leidenschaft, die bei Tag gefesselt ist, zerbricht ihre Ketten:


»Pourtant lorsque les soirs

Sculptent le firmament de leurs marteaux d'ébène,

La ville au loin s'étale et domaine la plaine

Comme un nocturne et colossal espoir;

Elle surgit: désir, splendeur, hantise,

Sa clarté se projette en lueurs jusqu'au cieux,

Son gaz myriadaire en buissons d'or s'attise,

Ses rails sont des chemins audacieux

Vers le bonheur fallacieux

Que la fortune et la force accompagnent;

Ses murs se dessinent pareils à une armée

Et ce qui vient d'elle encore de brume et de fumée

Arrive en appels clairs vers les campagnes.«


In grandiosen Visionen gestaltet Verhaeren diese feurigen Ausbrüche. Da ist die Vision der Music halls: Feuerräder kreisen um ein Haus, schreiende Lettern klettern die Fassaden hinan und locken die Massen bis vor die leuchtende Rampe. Hier wird der Hunger des Volkes nach Sensation gefüttert, täglich grausam die Kunst gemordet. Hier wird die Langeweile für ein paar Stunden gebändigt, wird mit Farbe,[86] Flamme und Musik aufgepeitscht zu einer anderen Lust, die draußen wartet, sobald hier der Trug in Nacht versinkt.


»Et minuit sonne et la foule s'écoule.

Le hall se ferme – parmi les trottoirs noirs

Et sous les lanternes qui pendent

Rouges dans la brume ainsi que de viandes,

Ce sont les filles qui attendent«,


sie die Dirnen, »les promeneuses«, »les veuves d'ellesmêmes«, die vom sinnlichen Hunger der Masse leben. Denn auch die Lust ist in den Städten organisiert, ist in Kanäle geleitet, wie alle Triebe. Aber der Urtrieb ist der gleiche. Der Hunger, der draußen auf den Feldern und am Lande noch Freude an gesunder Speise, am schäumenden Bier war, ist hier umgesetzt in den Begriff des Geldes. Nach Geld hungert hier alles, Geld ist der Sinn der Stadt. »Boire et manger de l'or« ist der heiße Traum der Menge. Alles drückt sich durch Geld aus, »tout se définit par la monnaie«, alle Werte sind untergeordnet dem neuen Werte, dem Geldwerte. Herrlich ist die Vision des Basars, wo in allen Auslagen, in allen Stockwerken sich alles verkauft, aber nicht nur wie in den Wirklichkeiten die Dinge des Gebrauches, sondern in einer höheren Symbolik auch die ethischen Werte, die Überzeugungen und Meinungen, Ruhm und Name, Ehre und Macht, alle Gesetze des Lebens. All dies feurige Blut des Geldes fließt aber zusammen in das große Herz der Stadt, in die Börse, diesen gierigen Magen, der alles Gold einschluckt, alles wieder ausspeit, der dieses hitzige Fieber siedet und dann feurig in alle Adern der Stadt ergießt. Alles ist käuflich, selbst die Lust: rückwärts in »l'étal«, in der lauernden Straße der Ausschweifung, verkaufen sich die Frauen, wie dort die Waren. Aber diese Energie ist nicht[87] immer geregelt, nicht immer gedämmt. Auch hier wie in der Natur gibt es Gewitter, jähe Zerstörungen. Manchmal bricht sich dieser Strom von Geld neue Bahn, wie eine Flamme zuckt die Revolte empor. Die Massen strömen aus ihren finsteren Höhlen, die Menschen werden gierig, und der tausendköpfige Dämon kämpft und blutet um das Eine, um das rotglühend strahlende Gold.

Das Große und Gewaltige aber ist in diesen Städten nicht die Leidenschaft, sondern die geheimnisvolle Kraft, die hinter diesen Leidenschaften steht, die edle Ordnung, die sie abteilt und bezwingt. Im dumpfen Chaos, in dieser Flut von Vergänglichkeiten stehen wie Statuen der »Villes tentaculaires« drei oder vier Figuren, die Bändiger der Leidenschaften. Sie sind, was früher die Könige waren und die Priester, diejenigen, die solche dampfende Energien zu zügeln und zu nutzen wissen. Sie halten dieses wilde, gefährliche Tier mit eisernen Händen nieder, sie, die neuen Herrscher, die Staatsmänner, die Feldherrn, die Demagogen, die Organisatoren. Denn tierisch in ihren Bewegungen, bestialisch in ihren Leidenschaften, animalisch in ihren Trieben, häßlich in ihrer Kraft ist die Stadt. Sie ist häßlich wie jede Brunst. Nicht mit reiner Lust, nicht wie eine ebenmäßig im Grün der Wälder sanft sich verlierende Landschaft kann sie betrachtet werden, sondern mit Abscheu, Haß, Vorsicht und Feindlichkeit zuerst. Aber das ist das Große Verhaerens, daß er alles Feindliche, Schmerz und Qual immer durch eine große Vista überwindet, daß er in diesem keuchenden Dampf des Unästhetischen auch schon die Flamme der neuen Schönheit sieht. Zum ersten Male ist hier die Schönheit der Fabriken, »les usines rectangulaires«, die Faszination des Bahnhofes gesehen, die neue Schönheit in den neuen Dingen. Ist die Stadt[88] häßlich in ihrer Gedrängtheit, häßlich im Sinne aller klassischen Ideale, ist das Stadtbild auch grausam und furchtbar, so ist sie doch nicht unfruchtbar. »Le siècle et son horreur se condensent en elle, mais elle contient la minute éternelle.« Und dieses Gefühl, daß in ihr die Minute der Ewigkeit enthalten ist, daß sie das Neue ist über allen Vergangenheiten, ein Neues, mit dem man sich notwendig abfinden muß, das macht sie dem Dichter wichtig und schön. Ist ihre Form abscheulich, grau und finster, so ist ihre Idee, ihre Organisation grandios und bewundernswert. Und hier, wie immer: Wo Bewunderung einen Angelpunkt findet, kann sie der ganzen Welt den Schwung von Verneinung zur Bejahung geben.

Aber Verhaeren ist schon zu wenig Artist mehr, zu interessiert an allen Problemen des Lebens, um die Idee der modernen Stadt nur ästhetisch zu betrachten. Ein noch wichtigeres Symbol ist sie ihm für den Ausdruck des zeitgenössischen Gefühles.

Nicht nur das Problem der sozialen Neuschichtung ist dichterisch in der Trilogie verarbeitet, sondern eine der brennendsten und unaufhaltsamsten Fragen der Nationalökonomie und Politik, der Kampf der zentrifugalen und zentripetalen Kraft, der Kampf des Agrarischen und Industriellen. Stadt und Land erkaufen ihr Wohlergehen, einer mit dem Notstand des andern. Produktion und Handel sind, so sehr sie sich bedingen, in ihren Endpunkten feindliche Kräfte. Wie sich nun in unsern Tagen in Europa der Sieg zwischen Stadt und Land zugunsten der Stadt entscheidet, wie allmählich die Stadt die besten Kräfte der Provinzen absorbiert – das Problem der »Déracinés« – das hat Verhaeren in seiner großartigen Vision der »Villes tentaculaires« zum ersten Male dichterisch geschildert.[89] Plötzlich sind die Städte entstanden. Millionen haben sich zusammengeballt. Aber woher sind sie gekommen? Aus welchen Quellen sind diese ungeheuren Massen plötzlich in die mächtigen Reservoirs geströmt? Die Antwort gibt sich schnell. Das Herz der Stadt ist genährt mit dem sickernden Blute des Landes. Das Land ist verarmt. Wie halluziniert wandern die Bauern nach der Münzstätte des Goldes, nach der im Abend feurig flammenden Stadt, wo einzig der Reichtum liegt und die Macht. Sie ziehen hin mit ihren Karren, um das letzte Gerümpel zu verkaufen, sie ziehen hin mit der Tochter, um sie den Lüsten zu überantworten, ziehen hin mit dem Sohne, um ihn vergehen zu lassen in den Fabriken, ziehen hin, um auch ihre Hände zu tauchen in diesen rauschenden Strom des Goldes. Verlassen sind die Felder. Nur die phantastischen Gestalten der Irrsinnigen taumeln auf einsamen Wegen, leer und nur vom Winde getrieben schlagen die verlassenen Mühlen um sich. Fieber steigen aus den Sümpfen, wo das Wasser, nicht mehr in Kanälen abgeleitet, Krankheit und Moder verbreitet. Bettler trotten von Tür zu Tür, in ihren Augen spiegelt sich die Unfruchtbarkeit des Landes, zu den noch zögernden letzten Besitzern drängen die Feinde, »les donneurs de mauvais conseils«. Der Agent der Auswanderung redet ihnen zu, nach den Ländern des Goldes zu ziehen, und wirklich, sie verschleudern von Vatersvater ererbtes Gut und ziehen zu einer Hoffnung in die Ferne:


»Avec leur chat, avec leur chien,

Avec pour vivre quel moyen

S'en vont le soir par la grande route.«


Und wen die Auswanderung nicht verlockt, den stößt der Wucherer von Heim und Herd. Eisenbahnnetze[90] schneiden plötzlich die stillen Dörfer entzwei, in denen der Tanz der Kirmessen lange verstummt ist. Ungleich ist der Kampf. Das Land, dem das Blut seiner Menschen ausgesaugt wurde, ist besiegt. »La plaine est morte et ne se défend plus.« Alles strömt nach Oppidomagnum. So hat Verhaeren in seinem symbolischen Drama »Les Aubes«, das mit den »Campagnes hallucinées« und den »Villes tentaculaires« die Trilogie des sozialen Umschwunges bildet, die Riesenstadt genannt, die mit Polypenarmen alle Kräfte der Umwelt rücksichtslos in sich aufsaugt. Von allen Seiten strömen ihr Kräfte zu. »Tous les chemins se rythment vers elles.« Nicht nur vom Lande her trinkt sie die Kraft der Menschen, auch das ganze Meer scheint nur gegen ihren Hafen zu strömen. »Toute la mêr va vers la ville.« Das ganze Meer strömt der Stadt zu, und alle Fluten scheinen nur zu sein, um diesen wandernden Wald von Schiffen hierherzubringen. Und alles saugt sie auf, verarbeitet sie in der »noire immensité des usines rectangulaires«, frißt sie gierig auf, um es als Gold wieder auszuspeien.

Aber dieser ungeheure soziale Kampf des Landes und der Stadt, auch er drückt noch ein Höheres aus. Es ist nur momentanes Symbol für einen ewigen Zwiespalt. Das Land ist das Symbol der Konservativen. Dort sind die Formen der Arbeit versteinert, ruhig und regelmäßig, das Leben ohne Hast und nur geregelt vom Umschwung der Jahreszeiten. Alle Empfindungen, alle Formen sind rein und einfach. Näher stehen diese Menschen dem Zufall, ein Blitz, ein Hagelschlag kann ihre Arbeit vernichten, und so fürchten sie Gott und wagen nicht, an ihm zu zweifeln. Die Stadt aber symbolisiert den Fortschritt. Im Donner der Straßen hört man nicht mehr die Stimmen der[91] Madonnen, geschützt ist das Leben des Einzelnen vor dem Zufall durch die vorgebaute Ordnung, das Fieber des Neuen zeugt auch eine Sehnsucht nach neuen Lebensbedingungen, neuen Verhältnissen, nach einem neuen Gott.


»L'esprit des campagnes était l'esprit de Dieu,

Il fut la peur des recherches et révoltes.

Il chut: et voici qu'il meurt, sous les essieux

Et sous les chars en feu des nouvelles récoltes.«


War das Land die Vergangenheit, so ist die Stadt die Zukunft. Das Land will nur beibehalten, nur bewahren: seine Art, seine Schönheit, seinen Gott. Die Stadt aber muß ihn erst zeugen, muß sich die neue Schönheit erst schaffen, den neuen Glauben und den neuen Gott.


»Le rêve ancien est mort et le nouveau se forge,

Il est fumant dans la pensée et la sueur,

Des bras fiers de travail, des fronts fiers de lueurs,

Et la ville l'entend monter du fond des gorges,

Des ceux qui portent en eux

Et le veulent crier et sangloter aux cieux.«


Wir aber, meint Verhaeren, dürfen nicht dieser vergangenen Welt angehören, die hinstirbt, sondern wir, die wir in den Städten leben, müssen mit ihnen denken, müssen mit der neuen Zeit leben, mit ihr schaffen und ihrer stummen Sehnsucht eine neue Sprache geben. Rückkehr zur Natur ist uns nicht mehr möglich, Entwickelung läßt sich nicht mehr zurückschrauben. Sind wir großer Werte verlustig gegangen, so müssen wir sie durch neue ersetzen, ist unser religiöses Gefühl kühl und tot vor dem alten Gott, so müssen wir neue Ideale erschaffen. Wir müssen die neuen Ziele auffinden, die die Früheren noch nicht kannten, in den neuen Formen der Stadt eine neue Schönheit finden,[92] in ihrem Lärm einen Rhythmus, in ihrer Wirrnis eine Ordnung, in ihrer Energie ein Ziel, in ihrem Stammeln eine Sprache.

Haben die Städte viel zerstört, so werden sie vielleicht noch mehr erschaffen. In ihrem Tiegel schmelzen Berufe, die Rassen, die Religionen, die Nationen, die Sprachen.


»Les Babels enfin réalisés

Et les peuples fondés dans la cité commune

Et les langues se dissolvant en une.«


Alles wird neu, und wir müssen nicht fragen, ob es besser wird, sondern darauf vertrauen. Nicht umsonst sind die fieberhaften Zuckungen der großen Städte, diese Unrast, diese schreiende Qual. Denn sie, diese Schmerzen und Zuckungen, sind nur die Wehen der Geburt eines Neuen. Als der erste nun diesen Schmerz der Masse, diese Gärung schon freudig vorahnend als Lust empfunden zu haben, diese Unruhe als Hoffnung, heißt selbst ein wahrhaft Neuer sein, einer von denen, die berufen sind, dichterisch eine Antwort zu geben auf alle Klagen und Fragen unserer Zeit.[93]

Quelle:
Insel Verlag, Leipzig, 1913, S. 81-94.
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