Freiheitsgrade

[298] Freiheitsgrade. – Unter Freiheitsgrad versteht man die Bewegungsmöglichkeit (fortschreitende Bewegung, Schwingungsbewegung u.s.w.) eines Moleküls. Die Zahl der Freiheitsgrade ist also gleich der Zahl der Bewegungsmöglichkeiten (mathematisch formuliert gleich der Anzahl Variablen, durch die seine Bewegung bestimmt wird).

Ein einatomiges Gas hat drei Freiheitsgrade, da seine Bewegung durch die dreier Raumkoordinaten bestimmt wird. Nach der kinetischen Theorie ist, übereinstimmend mit der Erfahrung, die Molekularwärme gleich 3/2 R (R Gaskonstante, s.d.).

Cv = 3/2R = 2,98 Kal., Cp = 3/2R + R = 5/2R, Cp/Cv = 1,67.

Man ist deshalb berechtigt, anzunehmen, daß jeder Freiheitsgrad den Beitrag R : 2 liefert. Die Theorie der gleichmäßigen Energieverteilung (equipartition of energy) nimmt nun an, daß überhaupt jeder Freiheitsgrad R : 2 zur Molekularwärme beiträgt. Ein zweiatomiges Gas mit seinen fünf Freiheitsgraden (drei der geradlinigen Fortbewegung, zwei Rotationsmöglichkeiten um zwei aufeinander senkrecht stehenden Achsen) hätte demnach die Molekularwärme

Cv = 5/2R = 4,96 Kal., Cp = 5/2R + R = 7/2R, Cp/Cv = 1,40,

und ein dreiatomiges Gas mit seinen sechs Freiheitsgraden (drei Rotationsmöglichkeiten!):

Cv = 6/2R = 5,96 Kal., Cp = 6/2R + R = 8/2R, Cp/Cv = 1,33.

Bei den festen Körpern wird die spezifische Wärme außer durch die Aenderung der kinetischen Energie noch durch die Aenderung der potentiellen Energie bedingt. Für einatomige feste Körper läßt sich zeigen, daß beide Aenderungen gleich sind. Da, wie wir oben gezeigt haben, die Aenderung der kinetischen Atomenergie einatomiger Körper 3/2 R beträgt, so ist die Atomwärme fester Körper gleich 2 × 3/2R = 5,96 Kal. Der Unterschied von dem Werte 6,4, den das empirisch gefundene Dulong-Petitsche Gesetz (s.d.) fordert, rührt daher, daß 6,4 Kal. die Atomwärme bei konstantem Druck, 5,96 die bei konstantem Volumen bedeutet.

Für einige Gase, wie z.B. Wasserstoff, Sauerstoff, ferner für Wasserdampf sowie die Mehrzahl der festen Elemente, hat man für Zimmertemperatur die oben angegebenen Werte gefunden, dagegen hat sich bei tiefen Temperaturen ein allmählicher Abfall [1] von diesen Werten ergeben, den zu erklären die Theorie der gleichmäßigen Energieverteilung nicht vermag (nach ihr wäre höchstens ein sprunghaftes Verschwinden oder Auftreten von R : 2 möglich), wohl aber die Quantentheorie (s.d.).

Unter Freiheitsgrad eines im Gleichgewichte stehenden Systems versteht man jede Möglichkeit, die das Gleichgewicht bestimmenden Größen (Druck, Temperatur, Konzentrationen) beliebig zu variieren, ohne den Bestand des Systems (d.h. Zahl und Art der Phasen, s.d.) zu zerstören. Die Zahl der Freiheitsgrade ist also gleich der Zahl der das System bestimmenden Größen, die beliebig zu variieren sind, ohne das System dem »Bestande« nach zu ändern oder, mathematisch ausgedrückt, gleich der Zahl der unabhängigen Variablen, durch die sein Gleichgewichtszustand bestimmt ist. So ist z.B. der Dampfdruck einer Flüssigkeit eine Funktion der Temperatur. Der Zustand des Systems Wasser-Wasserdampf läßt sich also als Funktion einer einzigen Variablen (nämlich von t) ausdrücken, mithin hat das System einen Freiheitsgrad. Ist dieser festgelegt, z.B. t = 40° gewählt, so ist auch der Dampfdruck (p = 54,9 mm Quecksilber) und damit die Konzentration, mithin also der Zustand des Systems im Gleichgewicht vollständig bestimmt. Würde man das System unter einen andern Druck als p bei 40° C. bringen, unter einen größeren oder kleineren, so würde der Dampf bezw. die Flüssigkeit vollständig verschwinden, das System mithin seinen »Bestand« verändern. Weitere Beispiele s. unter Phasenregel. Vgl. a. [4] und [5].


Literatur: [1] Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wiss., 1. Februar 1912. – [2] Nernst, Theoretische Chemie, 7. Aufl., Stuttgart 1913. – [3] Jellinek, Physikalische Chemie der Gasreaktionen, Leipzig 1913. – [4] Chwolson, Lehrbuch der Physik, Bd. III, Braunschweig 1905. – [5] Remsen-Seubert, Anorganische Chemie, 4. Aufl., Tübingen 1909.

Wietzel.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 9 Stuttgart, Leipzig 1914., S. 298.
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